Kapitel 4 – Cocktails und Chaos

Peer winkte ein Taxi herbei und bildete spontan mit Katarina eine Fahrgemeinschaft. Julia schaute ein wenig verdutzt drein, denn als die beiden sich hastig verabschiedet hatten, stand sie plötzlich mit Alexej allein in der Kälte.

Da war wieder das Gefühl. Sie war im Zwiespalt. Am liebsten hätte sie Alexej weiter von oben bis unten gemustert und sich an seinem Anblick ergötzt, andererseits machte genau diese Vorstellung ihr Sorgen. Sobald sie das sichere Ambiente des Restaurants verlassen hatten, wusste sie nicht, wie sie weiter vorgehen sollte.

Eigentlich wollte sie nach Hause, andererseits wollte sie Alexej, sein Unternehmen und seine Ideen näher kennenlernen und ihn nicht einfach stehenlassen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so gut mit einem so blendend aussehenden Mann unterhalten.

Er war offenbar kultiviert, wusste sich zu benehmen – dass er reich war, spielte nicht wirklich eine Rolle, allerdings stand Julia auf Männer, die wissen, was sie wollen und wie sie es bekommen können. Das machte sie irgendwie an.

Kurz gesagt: mit den kurzen, dunklen Haaren, den langsam ergrauenden Schläfen, dem intensiven Blick, der hünenhaften Statur und den muskulösen, ansehnlichen Händen hatte sich Alexej als ihr absoluter Traumtyp entpuppt.

Sie konnte es immer noch nicht fassen, denn ihr war wieder eingefallen, dass dieses Prachtexemplar von Mann, das vor ihr stand, weiterhin ziemlich genau dem Mann aus ihrem Traum entsprach. Es war an der Zeit, dass sie diesen Zufall, wie sie es innerlich nannte, einfach akzeptierte und sich nicht weiter darüber wunderte.

Alexej hatte seine schönen Hände in seinen Manteltaschen vergraben und fragte die bibbernde Julia, ob sie Lust auf einen Drink hätte. Es klang ungezwungen und Julia machte endlich das, was sie eigentlicher häufiger tun sollte: Sie sagte entschlossen „Ja, gerne!“ und dachte nicht weiter darüber nach.

Die beiden suchten sich eine ansprechende Bar (Alexej empfahl das Shepheard) und setzten sich an einen der wenigen freien Tische. Julia konnte den Stil der Bar nicht richtig einschätzen, tippte jedoch auf Bauhaus. Der Boden war mit dunklem Parkett versehen, die Stühle waren eigentlich eher Hocker, alles war quadratisch oder zumindest quaderförmig. Sehr modern jedenfalls und der Laden gefiel Julia auf Anhieb.

Nachdem sie sich beide für einen Cocktail entschieden hatten und der Kellner in Windeseile das Gewünschte serviert hatte, konnten sie quasi nahtlos an das Gespräch von zuvor anknüpfen.

Julia merkte rasch, dass Alexej trotz seines guten Aussehens, trotz der Millionen auf seinem Konto und trotz der offensichtlichen Exzentrik ein ganz normaler Mann war, ein Mensch mit menschlichen Gefühlen, menschlichen Ansichten, menschlichen Vorlieben, menschlichen Abneigungen.

„Wie ist es eigentlich, wenn man als Millionär geboren wird?“, fragte Julia unverblümt, als ihr Drink ihr den nötigen Mut eingeflößt hatte. Alexej lachte, denn er hatte diese Frage schon oft beantworten müssen. „Naja, ich fand es als Kind ganz okay, aber ich habe mich stets gewundert, warum ich immer alles hatte und meine Freunde viel weniger. Mein Vater hat mir das nie erklärt, weil er kaum zu Hause war, und auch meine Mutter war mit anderen Dingen beschäftigt. Ich war ein ziemlich verzogener Bengel“, fügte er verschmitzt hinzu.

Julia konnte sich das gut vorstellen und hakte weiter nach, denn sie wollte so viel wie möglich über diesen tollen Mann erfahren: „Ist dir irgendwann bewusst geworden, dass du sozusagen anders bist?“ Alexej zögerte, saugte an seinem Strohhalm und antwortete: „Ja, als ich meinen ersten Porsche zum 18. Geburtstag bekommen habe. Das war komisch und als ich das polierte Blech damals sah, war das selbst für mich wie ein Traum. Ich habe an dem Tag realisiert, dass ich und meine Familie tatsächlich sehr reich waren. Wohl habe ich mich damit jedoch nicht gefühlt. Da begann meine erste wirkliche rebellische Phase und von dem Auto hatte ich auch nicht lange etwas.“

Er unterbrach sich selbst und seine Miene veränderte sich. Julia spürte, dass Alexej ihr gerade fast sein Herz ausgeschüttet hatte und sie brannte darauf zu erfahren, was passiert war. Sie hielt sich jedoch zurück. Alexej wirkte, als wäre er traurig und damit konnte sie nicht gut umgehen. Sie war es gewöhnt, dass Männer stark waren.

Julia war gerade dabei ihre Vorurteile gegenüber reichen Russen über Bord zu werfen, als Alexej nach einigen Sekunden (einer Ewigkeit) plötzlich näher an sie heranrückte und sie zum ersten Mal sein dezentes Aftershave riechen konnte. Es duftete erdig, herb, männlich eben.

Julia wusste nicht, was das bedeuten sollte, bis sie kapierte, dass Alexej ihr bloß auf die Pelle gerückt war, um ein anderes Pärchen, das der Eile und den lüsternen Blicken nach zu urteilen offenbar möglichst schnell in die Horizontale wechseln wollte, vorbeizulassen. Die Bar war sozusagen ein langer Raum, versehen mit künstlichen Verwinkelungen; da konnte es schon mal enger werden.

Alexej rückte zurück auf seinen Lederhocker und rührte gedankenverloren in seinem mittlerweile dritten Mai Thai herum. Julia deutete das so: ihm ist langweilig und er sitzt bloß aus Höflichkeit weiter hier herum. Seine gesamte Haltung hatte sich verändert. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Julia sehnte sich nach dem edlen Herrenduft, der ihr noch vor wenigen Sekunden in der Nase gelegen hatte. Aber Alexej schien plötzlich das Interesse verloren zu haben.

Was war bloß passiert, fragte sich Julia verunsichert. Hatte es etwas mit dem 18. Geburtstag zu tun, von dem er gerade erzählen wollte? Sie war ein wenig beschwipst, kein Wunder, auch sie hatte ihren dritten Cocktail, einen vernichtenden Swimmingpool, intus. Julia schaute Alexej an und bemerkte den auffälligen Ring, mit dem er am frühen Mittag ungeduldig auf den Tisch im Konferenzraum getrommelt hatte.

Sie sprach ihn darauf an, um wenigstens irgendwas zu sagen: „Das ist ein hübscher Ring, so einen habe ich noch nie gesehen.“ Sie riss Alexej damit offenbar aus einem intensiven Tagtraum, denn er schaute erst sie überrascht an, dann den Ring, dann wieder sie. Seine Miene hatte sich verfinstert und er herrschte sie an, als sie die Hand ausstreckte, um auf das Schmuckstück zu zeigen: „Finger weg.“

Julia erschreckte sich und zuckte zusammen, als sie die raue Stimme hörte. Sie stieß vor Schreck ihr halbvolles Glas um und besudelte ihr Kostüm. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war offensichtlich zu weit gegangen, nicht nur, weil sie ihn auf den bescheuerten Ring angesprochen hatte, sondern auch, weil sie sich überhaupt mit diesem Verrückten auf einen gemeinsamen Abend in einer Luxusbar eingelassen hatte. Außerdem hätte sie ausrasten können, weil ihr der klebrige Swimmingpool am Bein entlang in die Schuhe lief. Die Pumps, die sie letzte Woche ein Vermögen gekostet hatten, waren nun tatsächlich schon versaut.

Alexej schaute bloß grimmig und Julia fühlte sich beim Anblick seiner tiefliegenden Augen abermals an ihren wunderbaren Traum erinnert, der ihr mittlerweile jedoch eher wie ein Alptraum vorkam.

Julia entschuldigte sich und suchte die Toilette auf. Ihr rechter Schuh schmatzte leise, während sie zum Bad eilte.

Sie sah nicht, dass Alexej ihr nachschaute und sich innerlich über ihr Missgeschick freute. Er drehte den verfluchten Ring, der Julia heute zum zweiten Mal den letzten Nerv geraubt hatte, verträumt am Finger.

Im Bad angekommen, zog Julia erst einmal ihren Schuh aus, um sich den Fuß und das Schuhinnere provisorisch zu reinigen. Als sie den Schuh behutsam mit einem Taschentuch abtupfte, schaute sie in den Spiegel und erschrak beinahe zu Tode. Sie sah nicht nur ihr eigene, unglückliche Visage, sondern auch das zur Fratze verzogene Gesicht des schmollenden Schulmädchens, dass offenbar lange aufbleiben durfte.

Julia's Gedanken rasten: „Was macht die denn hier?“ Bevor sie weiter nachgrübeln konnte, ging Annabelle zielstrebig zur Tür, öffnete sie kurz, offenbar um nachzuschauen, ob jemand kam und ging dann zurück, schnurstracks auf Julia zu, die immer noch ihren sprichwörtlich in einen Swimmingpool gefallenen Pump in der einen und ein nach Alkohol stinkendes Taschentuch in der anderen Hand hielt.

Annabelle stoppte knapp 30 Zentimeter vor Julia und zischte: „Ich warne dich. Lass' ihn in Ruhe. Alexej ist mit mir zusammen. Ich lasse nicht zu, dass ein Werbeflittchen wie du unsere Beziehung kaputt macht.“ Julia machte einen Fehler als sie spöttisch lachte: „Wie bitte? Müsstest du nicht längst im Bett sein? Und außerdem: Du hast mich gerade 'Flittchen' genannt, wenn du willst, dass dein Gesicht ohne Kratzer davon kommt, solltest du dich schleunigst entschuldigen...“

Bevor Julia reagieren konnte, holte Annabelle aus und schlug ihr mit aller Kraft den Schuh aus der Hand, der gegen einen der pompösen Spiegel knallte, das Glas zum Bersten brachte und unter Scherben begraben im nächsten Waschbecken liegen blieb.

Annabelle eilte zurück zur Tür, drehte sich nochmals um und wiederholte, bebend vor Wut und mit einem irren Blick, ihre Warnung: „Beim nächsten Mal wird ein kaputter Spiegel dein geringstes Problem sein.“ Julia war entsetzt. So entsetzt, dass sie ungeachtet der Scherben auf dem Boden hinter ihr her humpelte (mit nur einem Schuh, der noch dazu einen mörderischen 8cm-Absatz hat, läuft es sich nicht so gut) und durch die noch offene Tür hinter Annabelle herrief: „Du blöde Schlampe, was willst du eigentlich von mir?“

Während der Abend längst groteske Züge angenommen hatte, setzte das, was Julia danach beobachtete, dem Ganzen die Krone auf. Annabelle kassierte vom immer noch grinsenden Alexej gerade einen Klaps auf den Po und bewegte sich danach, offenbar triumphierend, in Richtung Ausgang.

Julia traute ihren Augen nicht. Hatte dieses Arschloch sie etwa dazu angestachelt, ihr die Hölle heiß zu machen? Aber warum? Und woher wusste Annabelle, wo die beiden sich treffen würden? Sie war den Tränen nahe. Sie schloss die Tür zum Bad und begann, die Scherben einzusammeln, um wenigstens die Illusion von Kontrolle wiederzuerlangen. Auch das war ich jedoch nicht vergönnt, denn ein düsterer Typ in tadellosem Anzug hatte das Bad ebenfalls betreten.

Julia schnauzte ihn an, ohne richtig vom Boden aufzusehen: „Bist du blind? Das hier ist die Damentoilette.“ Der Mann blieb eiskalt stehen und meinte ruhig: „Das ist mir durchaus bewusst. Allerdings gab es eine Beschwerde und dem Chaos hier nach zu urteilen ist diese Beschwerde nicht ungerechtfertigt. Ich muss Sie bitten, unser Lokal zu verlassen, denn...“ Julia unterbrach den Mann, der nun als ihr Sündenbock herhalten musste.

„Wenn hier jemand das Recht hat, sich zu beschweren, dann bin ich das. Die verrückte Frau, die mich gerade angegriffen hat, ist für das Chaos hier verantwortlich, nicht ich. Meinen Sie ernsthaft, ich würde die Schuhe, die für Sie wahrscheinlich mehr als ein Monatsgehalt ausmachen, freiwillig in die verfluchten Spiegel schmeißen? Für wie bescheuert halten Sie mich eigentlich?“

Der Mann blieb cool, denn er war solche Gäste durchaus gewöhnt und ließ Julia's ausfallende Bemerkungen ebenso mühelos abtropfen wie das Villeroy-Boch Porzellan das Wasser, mit dem Julia ihre Schuhe gesäubert hatte.

„Sie sollten nun wirklich nach Hause gehen. Der Kellner hat bestätigt, dass sie bereits drei starke Cocktails getrunken haben und wenn ich mir das hier so anschaue, kann ich mir ganz gut vorstellen, was hier vorgefallen ist.“ Er hob die Hand und bedeutete ihr mit simpler Zeichensprache, dass er es ernst meinte und dass er erst dann zufrieden sein würde, wenn sie tatsächlich das Bad und danach die Bar verließ.

Julia konnte die Ignoranz dieses Mannes nicht fassen. Hatte er denn die vor Wut fast überschäumende Annabelle nicht durch die Bar stolzieren sehen? Waren plötzlich alle Menschen um sie herum durchgedreht? Oder war das auch wieder nur ein Traum? Julia trat in eine der zahlreichen Spiegelscherben und wurde schmerzhaft daran erinnert, dass dies durchaus real war und tatsächlich stattfand.

Mittlerweile war auch eine weitere Kellnerin herbei gewuselt, um den gröbsten Schaden mit geübter Hand zu beheben. Julia hatte große Lust, sich noch weiter mit dem Mann zu streiten, aber als sie sich den stinkenden, zerkratzten und durchnässten Schuh wieder angezogen und sich mit leichtem Schwindelgefühl wieder aufgerichtete hatte, war er bereits verschwunden. Er schien verstanden zu haben, dass mit dieser Frau nicht zu diskutieren war. Vielleicht holte er gerade sogar Verstärkung.

Julia atmete tief durch und fragte die Kellnerin, ob sie denn wenigstens die Frau aus der Toilette hatte stürmen sehen. Kopfschütteln. Das Mädchen war sichtlich verängstigt und fürchtete offenbar, dass sie bei einer falschen Antwort die nächste sein könnte, die in einen der verbliebenen Spiegel geworfen wurde. Nachdem die Kellnerin die Scherben aufgesammelt hatte, verdrückte sie sich ohne ein weiteres Wort und Julia blieb allein vor den Spiegeln stehen.

Sie schaute auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass sie schon seit fast einer Viertelstunde im Bad war. Sie fragte sich grimmig, warum Alexej ihr nicht aus der Patsche geholfen hatte, bis sie erneut das absurde Bild eines grinsenden Alexej und einer ebenfalls grinsenden Annabelle, die gerade einen Klaps auf ihren Knackarsch kassierte, vor Augen hatte. Natürlich hat er sich nicht blicken lassen, überlegte sie. Der verrückte Russe hatte die ganze perfide Geschichte offenbar selbst eingefädelt.

„Na warte,“ dachte Julia, „dir werde ich jetzt gehörig den Marsch blasen.“ Sie verließ die Toilette, ignorierte diverse Augenpaare, die sie stirnrunzelnd anglotzten und ging auf Alexej zu. Der hatte sich bereits den nächsten Cocktail bringen lassen und sah Julia wenig beeindruckt entgegen. Als sie auf ihren ursprünglichen Platz setzte, hörte sie trotz der typischen Bar-Musik, wie Alexej am Strohhalm seines vierten Mai Thai saugte.

„Hör mal, Alexej“, begann sie einigermaßen gelassen, denn sie hatte sich auf den letzten Metern zu ihrem Platz dazu entschlossen, das Vorgefallene erst einmal abzuhaken, um wenigstens den Werbedeal absichern zu können, „ich weiß nicht, was hier gespielt wird und ich will es eigentlich auch nicht wissen. Wenn ich geahnt hätte, dass ihr, ich meine du und diese Verrückte, eine Beziehung habt, hätte ich bestimmt nicht gewollt, dass wir uns hier treffen und den Abend zusammen verbringen. Ich habe über den Tag hinweg einen offensichtlich falschen Eindruck von dir gewonnen und möchte daher auf weitere persönliche Treffen verzichten.“

Julia wollte Luft holen, um so freundlich wie es in ihrer misslichen Lage nur möglich war zu erklären, dass sich die Geschehnisse des Abends nicht auf ihre Geschäftsbeziehung auswirken sollten, aber dazu kam sie nicht.

Alexej hob herrisch die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, war jedoch scheinbar amüsiert. „Diesem Freak gefällt das hier. Für ihn ist das bloß ein Scheiß-Spiel“, dachte Julia verärgert. Alexej schaute ihr mit seinen plötzlich wieder zu magisch leuchtenden Eissplittern verwandelten Augen direkt in ihre und meinte bloß: „Ach komm, Julia, bisher hatten wir doch großen Spaß. Belle ist meine Sekretärin, wir arbeiten seit Jahren zusammen. Da ist sonst nichts, das kannst du mir gern glauben. Aber lass uns nicht weiter davon reden. Wie wäre es, wenn du dich einfach wieder zu mir setzt und wir den Abend hier ausklingen lassen? Ach was, mir fällt was Besseres ein. Ich kenne zufällig ein Hotel um die Ecke, in dem wir uns noch besser kennenlernen können.“ Er zwinkerte ihr zu. Die Eiskristalle blitzten verführerisch.

Julia stand der Mund offen. Hatte dieser Mann, der sich trotz einer gehörigen Dosis Alkohol im Blut immer noch einwandfrei artikulieren konnte, überhaupt verstanden, was sie ihm da versucht hatte zu erklären? Julia fasste sich, da es ihr jetzt wirklich zu bunt mit ihm wurde.

Sie sagte: „Nein, danke. Der Typ im Bad hatte recht, es ist besser, wenn ich jetzt nach Hause gehe. Vielen Dank für den schönen Abend! Ich hoffe, dass wir bald die Zusammenarbeit an der Kampagne beginnen können. Gute Nacht!“ Sie nahm ihren Mantel, stand auf und wollte sich zum Ausgang wenden. (Die Belegschaft, die den Zwischenfall im Bad mitbekommen hatte, wirkte erleichtert und zählte die Sekunden, die vergehen würden, bis diese Furie endlich die Bar verlassen hatte.)

Alexej packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. Bevor sie wusste, was geschah, küssten sie sich. Julia sträubte sich, aber der Kampf währte nicht lange, schließlich war dieser Kuss eigentlich genau das, was sie sich erhofft hatte. Sie verlor das Gleichgewicht – die Cocktails waren daran wohl nicht ganz unschuldig – und plumpste auf seinen Schoß. Der Kuss war intensiv, intensiver als alles, was Julia in ihren jungen Jahren bisher erlebt hatte.

Und doch war ein Funke Bewusstsein übriggeblieben; eine leise Stimme ermahnte sie zur Vorsicht und genau diese Stimme erinnerte sie auch an das schreckliche Bild, das sich nur wenige Minuten zuvor in ihr Hirn gebrannt hatte. Annabelle und Alexej hatten offenbar eine Affäre (die Alexej herunterspielte) und Katarina's Anspielung vom Vorabend nach zu urteilen war es eine seiner Gewohnheiten, hübsche Frauen in Bars aufzugabeln und in einem der umliegenden Luxushotels zu vernaschen.

Julia schaffte es, sich dem festen Griff und seinen anziehenden Lippen zu entreißen. Sie stammelte: „Das geht so nicht. Ich habe doch gesehen, was zwischen dir und Annabelle läuft. Ich will das nicht.“ Das war eine Lüge, aber Julia vertraute ihrem Instinkt. Mit dem mysteriösen Russen in der Kiste zu landen gehörte zwar eindeutig zu ihrer Definition von Spaß, aber sie hatte eine Art Kodex, den sie bisher noch nie missachtet hatte. Sex mit Kunden war Tabu.

Sie wischte sich den Mund ab und spürte zum ersten Mal in dieser Nacht, dass sie wirklich ordentlich besoffen war.

Alexej wusste, wann er geschlagen war. Er kannte diese Art Frauen. Sie wollten die Kontrolle um jeden Preis behalten. Aber er wusste auch, dass es den meisten Frauen nur um die Illusion von Kontrolle ging. In Wirklichkeit hatte er bisher noch keine Frau kennengelernt, die nicht gerne verführt, entführt, dominiert wurde. Er verlor rasch das Interesse. Er wollte sie ganz für sich haben. Da das nicht ging, winkte er ab und nahm erneut seinen Cocktail zur Hand.

„Wie du meinst. Allerdings ist mir etwas aufgefallen. Dem Kuss nach zu urteilen hattest du wohl schon lange keinen echten Mann mehr an deiner Seite. Bist du dir wirklich sicher, dass du nicht lieber mit mir kommen willst?“ Er setzte die Frage hinzu, da er sich seine Chancen auf ein Abenteuer mit einer x-beliebigen, anderen Frau als zu gering ausgerechnet hatte. Entweder er ging in dieser Nacht allein ins Hotel oder mit Julia. Eine weitere Gelegenheit für ein unverbindliches Intermezzo würde sich jetzt nicht mehr ergeben, dachte er und bemühte sich, möglichst einladend zu schauen.

Julia hatte ihren Entschluss jedoch schweren Herzens gefasst. Außerdem turnte sie seine machomäßige Bemerkung ab. Was ging es diesen Schnösel an, wann und mit wem sie zuletzt Sex hatte? Insgeheim dachte sie, dass er mit seiner Bemerkung goldrichtig lag.

Sie verfluchte ihren Job. Ihr war allerdings bewusst, dass sie ohne diesen Job niemals auch nur in die Nähe eines solchen Mannes kommen würde. Sie nickte ihm nochmal zu, ließ ihn mit seinem Cocktail sitzen und ging zurück in die Kälte.