Kapitel 3 – Le Patron
Julia ließ sich einfach treiben, nachdem sie sich am Kiosk um die Ecke ihren obligatorischen Kaffee to-go besorgt hatte. Sie schlenderte über den Neumarkt, achtete sorgsam darauf, dass ihre Designerschuhe nicht dreckig wurden und beobachtete, wie fleißige Arbeiter gerade Teile des Weihnachtsmarktes errichteten.
Sie war fasziniert von dem scheinbar reibungslosen Ablauf und bewunderte die tapferen Männer, die ihre Zeit damit verbrachten, ein buntes, lautes und überteuertes Labyrinth für Kinder und ihre Eltern zu bauen. Ein Labyrinth, in dessen Genuss die Arbeiter selbst vermutlich nie kamen, da sie zu wenig verdienten, um sich einen Glühwein oder gebrannte Mandeln für fünf bis zehn Euro leisten zu können.
Julia dachte an ihre Zeit in Berlin zurück und an das simple Leben, das sie damals gelebt hatte. Eigentlich erinnerte sie sich gerne an die Zeit dort, aber sie redete sich ein, dass allein der Gedanke an ihre sogenannten wilden Jahre sie vom Kurs abbringen würden. Julia wollte hoch hinaus und die FemediaX GmbH sollte für sie bloß das Sprungbrett sein.
Als sie ihren Blick endlich von den sägenden, schraubenden und schwitzenden Männern abwandte und weiterging, trat sie in eine der zahlreichen Pfützen, die der kleine Monsun am Vorabend in der Innenstadt hinterlassen hatte. Einer ihrer Schuhe wurde nass und sie dankte so ziemlich allen ihr bekannten Göttern, dass sie die Variante mit hohem Absatz gewählt hatte, weil dadurch der Schaden begrenzt wurde. Das Wasser perlte weitestgehend von allein ab, der Rest war kaum sichtbar, wie Julia erleichtert feststellte.
Ein fades Gefühl blieb: früher hätte sie sich erstens niemals solche Schuhe gekauft und sich zweitens niemals darüber aufgeregt, wenn ihre Schuhe schmutzig geworden wären.
Julia wischte den Gedanken beiseite und passierte den Neumarkt, um in die geschäftige Fußgängerzone einzubiegen. Sie suchte Zerstreuung. Der Tag hatte bescheiden begonnen und er sollte wenigstens positiv enden.
Als sie kurz davor war, von den Menschenmassen in der Fußgängerzone verschluckt zu werden, klingelte ihr Handy. Zuerst nahm sie das Klingeln nicht wirklich wahr, denn sie dachte, sie hätte es zusammen mit ihrer Aktentasche zu Hause vergessen, aber als das Klingeln lauter wurde, griff sie doch in ihre Manteltasche.
„Ja?“, sagte sie, leicht genervt, da sie in ihrer Mittagspause ungern gestört wurde.
„Peer ist aufgewacht. Er hat wie üblich so getan, als hätte er bloß nachgedacht“, Deniz lachte. „Wo bist du?“, setzte er hinzu. Julia nippte an ihrem Kaffee, bevor sie mit strenger Stimme antwortete. „Ich stehe am Neumarkt und versuche, meine Mittagspause zu genießen.“ „Oh, sorry. Ich wollte dir nur sagen, dass Peer gesagt hat, dass, äh, Katarina angerufen hat. Sie meinte, dass der Deal quasi schon perfekt wäre.“
Julia strahlte innerlich. Obwohl sie so ziemlich alles vergeigt hatte, was nur möglich war, hatte sie doch einen positiven Eindruck hinterlassen. „Klasse! Dann nehme ich mir den Rest des Tages frei und arbeite von zu Hause aus weiter.“, meinte sie gut gelaunt. „Genau das hat die Fledermaus auch gesagt, als sie Augen reibend bei mir rein geschneit ist. Und warum du dein Handy nicht eingeschaltet hast, soll ich dich fragen.“ „Du weißt doch, wie anhänglich Peer sein kann. Ich hab' mir vor einiger Zeit ein zweites Handy besorgt. Eins fürs Private.“, sagte Julia verschmitzt. „Ach so, dann halt' ich am besten die Klappe und sage einfach, dass ich die Nachricht übermittelt habe. Übrigens: hat der Typ noch nie etwas von E-Mails gehört?“, fragte Deniz.
„Peer und E-Mails? Das passt einfach nicht zusammen. Hör mal, Deniz, ich mach' mich jetzt auf den Weg. Wir sehen uns morgen, dann können wir hoffentlich schon mit der Kampagne loslegen.“ Julia hatte in ihrem Eifer bereits aufgelegt, als Deniz hinzufügen wollte, dass er sich bereits Gedanken gemacht hätte.
Er legte den Hörer auf und widmete sich wieder seinem privaten Facebook-Projekt.
Als Julia zu Hause ankam, setzte sie sofort den nächsten Kaffee auf und machte es sich mit der heißen Kanne und ihrer Lieblingstasse auf dem Sofa bequem. Sie wollte beim Essen einen besseren Eindruck als am Morgen hinterlassen und arbeitete daher ihre Strategie nochmal durch.
Als sie ihre Powerpoint-Präsentation und die dazugehörigen Tabellen gesichtet und für gut befunden hatte, lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und dachte an ein weiteres Fragment ihres Traumes, das ihr gerade erst eingefallen war. Es war eine Art Keller gewesen, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf, von wegen tropisches Land.
Am meisten Sorgen machte ihr die verblüffende Ähnlichkeit von Alexej Gromow und dem Mann in ihrem Traum. Hatte sie sich die Ähnlichkeit bloß eingebildet? „Bin ich wirklich so notgeil?“, dachte Julia. Andererseits hatte Deniz ebenfalls bemerkt, dass mit dem Typ irgendwas nicht stimmte. Allerdings war Deniz auch extrem sensibel, um nicht zu sagen: ein Weichei. Sie glaubte jedoch, dass sie in diesem Fall auf seinen Männer-Instinkt vertrauen konnte.
Und was hatte es mit der komischen Sekretärin oder Assistentin auf sich? Warum hasste sie sie so sehr? Julia hatte dafür keine Erklärung.
Wieder einmal kam sie zu spät, aber das war diesmal nicht Julias Fehler. Woher hätte sie wissen sollen, dass das Essen offenbar vorverlegt wurde? Sie fühlte sich schlagartig elend. Wann würde dieser Horrortag endlich enden?
„Julia!“, rief Peer und stand sofort auf, um ihr den Stuhl heranzuschieben. „Bitte verzeih', aber wir hatten uns spontan auf eine frühere Zeit geeinigt. Ich konnte dich leider nicht auf deinem Handy erreichen. Heute mittag übrigens auch nicht, hast du es verloren?“ Julia hätte sich abermals ohrfeigen können. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihre simple Vorsichtsmaßnahme sie einmal in eine solche Situation bringen würde.
„Nein, es ist in der Reparatur“, log Julia und fügte hinzu: „Ich habe versäumt, dich zu informieren.“ Sie hoffte, dass das die Wogen glätten würde. Katarina lächelte zumindest, Alexej schien aufmerksam die Karte zu studieren und interessierte sich kaum für das Geschehen am Tisch. Nachdem Julia die beiden nervös begrüßt hatte, konnte sie sich endlich ein wenig umschauen, denn Peer hatte Katarina bereits in ein Gespräch verwickelt. Julia hatte das Restaurant noch nie von innen gesehen. Le Patron, ein Geheimtipp für diejenigen selbsternannten Gourmets, die es sich leisten können.
Das Restaurant war edel eingerichtet, mit stilvollen Möbeln, die in sanftes Licht getaucht wurden. Julia war froh, dass sie ihre Abendgarderobe offenbar richtig gewählt hatte. Anstatt ihrer eher biederen Bluse und dem Rock trug sie ein unauffälliges, schwarzes Kostüm, dass gerade noch in die Vorwinterzeit passte. Sie hatte sich gegen einen Zopf entschieden und als sie mit verstohlenen Blicken Katarina Gromow musterte, erkannte sie, dass auch sie an diesem Abend eher leger unterwegs war.
Julia traute sich kaum, Alexej zu betrachten, denn falls er sie dabei erwischte, wie sie abwägte, ob er tatsächlich der Mann aus ihrem erotischen Traum war, hätte sie das gefühlte fünfzigste Fettnäpfchen an diesem Tag erwischt und das wollte sie um jeden Preis vermeiden.
Sie konnte jedoch nicht anders und versteckte sich daher ebenfalls hinter ihrer Speisekarte, um scheinbar die Köstlichkeiten darauf zu studieren. In Wirklichkeit scannte sie den mysteriösen Russen gegenüber. Er trug einen schlichten, grauen Anzug. Ohne Krawatte. Darunter konnte sie Ansätze von Brusthaar entdecken, denn Alexej verzichtete darauf, sein Hemd bis oben hin zuzuknöpfen. Das war Julia bereits bei ihrem ersten Meeting aufgefallen. Sie versuchte sich fieberhaft daran zu erinnern, ob der Mann in ihrem Traum ebenfalls Brusthaare hatte, aber sie konnte diesen Teil leider nicht rekonstruieren.
„Hey“, Peer stieß sie jovial mit der Schulter an. „Bist du noch unter uns?“ Julia zuckte zusammen. Sie fühlte sich ertappt. Allerdings war es glücklicherweise der nichtsahnende Peer, der sie aus ihren Grübeleien gerissen hatte und nicht Alexej. Katarina lächelte, aber bei ihr konnte man sie nicht wirklich sicher sein. Vielleicht hatte sie mitbekommen, dass Julia ihrem Ex-Mann auf das prachtvolle Brusthaar geglotzt hatte, vielleicht lauschte sie auch bloß der unaufdringlichen Jazz-Musik, die gerade aus unsichtbaren Lautsprechern im Restaurant ertönte. Julia wusste es nicht, wünschte sich allerdings Letzteres.
„Nein, entschuldige. Ich habe mich bloß gefragt, ob... Ach, Blödsinn!“, meinte Julia kraftvoll, denn sie wollte den Bann endlich lösen und wieder ganz die Alte werden. „Hat Peer Ihnen bereits erklärt, was wir mit ihrer Kampagne vorhaben?“ Wie zu erwarten ergriff nicht Alexej das Wort, sondern Katarina.
Sie sagte: „Ja, das ist der Grund, warum wir uns heute mit euch nochmals treffen – ich hoffe, es ist okay, wenn ich dich ebenfalls duze? Peer hatte nichts dagegen.“ Julia nickte, sowohl, um zu bestätigen, dass sie verstanden hatte, als auch um zu signalisieren, dass das Du ihr ebenfalls lieber wäre. Eigentlich war das gelogen, denn sie befürchtete, dass sie diese Art der Nähe heute Abend noch in weitere schwierige Situationen mit Alexej bringen könnte.
Julia und Katarina diskutierten eifrig, wie die Kampagne für den kommenden Frühling aussehen sollte, als eine Bedienung nach der Bestellung fragte. Julia hatte die Speisekarte bereits flüchtig angeschaut, als sie eben diese als Schutzschild vor Alexej's Blicken genutzt hatte. Sie entschied sich für das Rinderfilet mit gebratener Gänseleber, Madeirajus und gehobeltem Trüffel. Peer und Alexej wählten beide das Filet „Le Patron“ und Katarina gönnte sich den bretonischen Hummercocktail mit Wildkräutersalat.
Julia war froh, dass das Essen rasch gebracht wurde. Obwohl sie im Smalltalk stets gut gewesen war, hatte sie Schwierigkeiten, ein Gespräch mit Katarina oder Alexej zu beginnen. Peer übernahm die Rolle des Unterhalters, Katarina war eine gönnerhafte Zuhörerin und Alexej blieb weiterhin still.
Julia hatte gerade erst die Serviette fachgerecht auf ihrem Schoß ausgebreitet, als sie Alexej fluchen hörte. Es war offensichtlich Russisch, denn sowohl Peer als auch Julia schauten sich bloß verdutzt an. Katarina antwortete Alexej in schnellem Russisch und Alexej schnaubte. Er fing Julias erstaunten Blick auf und seine bis dahin düstere Miene änderte sich schlagartig. Er lächelte oder zumindest glaubte Julia, dass es sich um ein Lächeln handelte und meinte scherzhaft: „Ich hatte nicht gesehen, dass mein Gericht in Knoblauch gegart wird. Ich wollte meinen frischen Atem heute eigentlich noch etwas länger erhalten.“
Julia lachte gezwungen und dachte, dass so etwas nicht unbedingt ein Grund für diese Art von Ausraster war, entschied jedoch, dass die meisten Menschen irgendwelche Marotten haben.
Katarina mischte sich ein und meinte, ebenfalls lachend: „Mein Ex-Mann treibt sich abends gern herum. Knoblauch-Atem passt ihm da nicht so in den Plan.“ Alexej sagte wieder etwas auf Russisch, diesmal leise, dennoch bestimmt. „Ach stell dich nicht so an“, war Katarina's Antwort. Sie widmete sich ihrem Hummercocktail und begann ein Gespräch mit Peer, der offenbar abwägte, ob sein Atem an diesem Abend ebenfalls noch eine tragende Rolle spielen würde oder nicht, denn er hatte ja dasselbe Gericht gewählt.
Julia fand, dass das Eis nun endlich gebrochen war und versuchte sich ihrerseits an einem Gespräch mit Alexej, was dieser dankbar annahm. Er wirkte wie ausgetauscht, was Julia als gutes Zeichen deutete. Je länger sie sich mit ihm unterhielt, desto lockerer wurde sie. Sie kamen von Hölzchen auf Stöckchen, was Peer und Katarina offensichtlich begrüßten, denn sie tauschten verstohlene Blicke aus. Ihnen war bewusst, dass der offensichtlich launische Alexej das Zünglein an der Waage war und am Ende entscheiden würde, ob der Deal tatsächlich zustande kommen würde oder nicht.
Julia erzählte ein wenig vom Landleben und Alexej gab Bruchstücke seiner Kindheit preis, offenbar war er schon reich geboren worden und hatte sein Vermögen ursprünglich seinen Eltern zu verdanken. Julia fragte, wie er in die Unterwäschebranche gekommen wäre, da sie sich russische Unternehmer eigentlich stets als Vodka- oder (und dafür schämte sie sich ein wenig) Waffenhändler vorgestellt hatte.
Alexej meinte verschmitzt, dass seine Vorliebe für das weibliche Geschlecht ihn dazu gebracht hätte, aus dem Klamotten-Imperium der älteren Gromow-Familie ein moderneres Unternehmen zu machen. Ein Teil der Fabriken hätte sich von da an auf Kleidung konzentriert, die Frauen dabei helfen würde, ihre Problemzonen zu kaschieren oder hervorzuheben. Nach einer Marktanalyse fand sein Team offenbar heraus, dass in Deutschland noch Raum für einen neuen Konkurrenten war. So entstand die Softlift Unterwäsche GmbH.
Julia hatte fasziniert an seinen Lippen gehangen. Alexej hatte eine tiefe, maskuline Stimme und er war ein guter Erzähler. Julia wunderte sich, warum er nicht vorher schon aufgetaut war, war letztendlich aber einfach froh, dass sie sich so gut verstanden.
Obwohl der vermeintliche Protagonist aus ihrem Traum genau vor ihr saß, hatte sie ihre Nachtfantasie vorerst völlig vergessen.
Nach dem Essen bestellten alle noch ein Dessert (crème brûlée in den Variationen Nougat, Pistazie, Heidelbeere). Als Julia den letzten Löffel ihres köstlichen Nachtisches auf der Zunge zergehen ließ, schaute sie auf die Uhr und bemerkte, dass es bereits kurz vor elf war.
Auch Peer hatte offenbar Heimweh bekommen, denn er wurde immer stiller – meist ein Zeichen dafür, dass er bald eines seiner berühmten Nickerchen halten würde. Allerdings riss er sich zusammen. Katarina schien keine Müdigkeit zu kennen, allerdings war sie es, die dazu anregte, die Rechnung kommen zu lassen.
Julia wollte noch nicht gehen, denn sie fand das Gespräch mit Alexej interessant. Sie traute sich jedoch nicht, den mysteriösen Millionär darauf anzusprechen. „Wer weiß, mit welchen Topmodels er gleich durch die Nachtclubs zieht“, dachte Julia ein wenig enttäuscht.
Nachdem Alexej diskret die Rechnung bezahlt hatte und alle den Weg in die Kälte gewagt hatten, standen sie frierend vor dem Restaurant.