Kapitel 21 – Das Spiel
Obwohl Martina sich wirklich beeilte und alles aus ihrem alten Ford Fiesta herausgeholt hatte, musste Julia eine knappe Stunde auf den nächsten Zug warten. Sie war froh, als sie endlich wieder in Köln war. Das bunte Treiben, das Lichtermeer und die geschäftige Geräuschkulisse hatte sie doch irgendwie vermisst.
Julia schleppte ihre Reisetasche die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und freute sich auf ihr eigenes Bett, ihre eigene Couch und vor allem auf ihren eigenen Kaffee.
Als sie gerade dabei war, die Schlüssel hervorzukramen, fiel ihr ein, dass sie den Briefkasten noch nicht kontrolliert hatte. Sie lief also wieder hinunter und tatsächlich wartete eine Nachricht auf sie. Von Alexej, wunderte sich Julia und war gespannt, was er von ihr wollte.
Zuerst hörte sie jedoch ihren Anrufbeantworter ab, dessen rotes Lämpchen ungeduldig blinkte. Die Digitalanzeige verriet Julia, dass sie offenbar sehr vermisst worden war. Knapp ein halbes Dutzend Anrufe waren auf dem altmodischen Ding gespeichert. Julia war bisher zu geizig gewesen, es durch ein moderneres, komfortableres und vor allem zuverlässigeres Gerät zu ersetzen.
Piep. „Hey, Julia! Was ist denn eigentlich passiert? Peer hat nichts gesagt und du warst plötzlich einfach weg. Bist du im Urlaub? Wir hätten dich hier gut gebrauchen können. Naja, frohe Weihnachten wünsche ich dir. Ist zwar noch was hin, aber ich fliege über die Ferien – oh, Mist, ich muss auflegen. Mach's gut!“
Deniz klang besorgt und Julia war erstaunt, dass Peer offenbar niemandem den wirklichen Grund für ihre Abwesenheit in der FemediaX GmbH genannt hatte.
Der Anrufbeantworter piepste erneut. Julia erkannte die Stimme ihrer besten Freundin: „Hi! Ich bin's. Ich hoffe, du machst keinen Unsinn. Lass bloß die Finger von dieser Annabelle. Wir haben immer noch nichts in der Hand, vergiss das nicht! Ich wünsche dir jedenfalls eine schöne Weihnachtszeit. Wahrscheinlich bist du schon bei deiner Mama, aber dann freust du dich ja vielleicht nach deinem Urlaub, wenn du eine vertraute Stimme hörst. Ich hab dich lieb!“
Julia war gerührt, dass Verena in der Angelegenheit mit Annabelle in der Wir-Form gesprochen hatte. Sie meinte es wirklich ernst. Sie wollte Julia helfen und war bereit, sich dafür selbst in Gefahr zu begeben.
Der nächste Anrufer aus der Vergangenheit meldete sich zu Wort: „Hallo Julia. Hier spricht Katarina Gromow. Ich habe versucht, dich in deinem Büro zu erreichen, aber da konnte mir leider niemand sagen, wo du steckst. Ich möchte nur noch einmal klarstellen, dass der geplatzte Deal nichts mit deinen bisherigen Leistungen zu tun hat. Übrigens habe ich mit dieser Entscheidung nichts zu tun, ich war selbst überrascht, als Alexej den Vertrag annullieren wollte. Naja, ich hoffe, dass Herr Mendelsohn dich nicht allzu hart rannimmt. Ich weiß ja, wie das in eurer Branche läuft. Ein Fehler und du bist raus. Schöne Feiertage noch!“
Julia fand es nett von Katarina, dass sie sich quasi nochmal entschuldigte. Sie wusste offenbar gar nicht, dass Peer sie tatsächlich ziemlich hart rangenommen hatte. Sie ahnte nicht, dass Julia ihren Job los geworden war.
Nachdem Julia die restlichen, eher unwichtigen Nachrichten abgehört hatte, widmete sie sich neugierig Alexejs Brief.
Er war scheinbar persönlich eingeworfen worden, denn eine Anschrift und auch eine Briefmarke fehlten auf dem Umschlag. Da stand bloß „Julia“.
Der Inhalt löste zweierlei Gefühle in ihr aus. Einerseits spürte sie ein spontanes Kribbeln am ganzen Körper und andererseits fühlte sie sich abgestoßen, weil sie sich an die intensiven Diskussionen mit ihrer Mutter erinnerte.
Sie las den Brief ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass sie alles richtig verstanden hatte.
Liebe Julia,
Ich möchte mich bei dir für mein unmögliches Verhalten entschuldigen. In letzter Zeit habe ich Dinge getan, die mich selbst erschrecken. Wir kennen uns noch nicht lange, das ist mir bewusst. Und in dieser kurzen Zeit habe ich so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, wenn man Gefühle für einen anderen Menschen hegt.
Ich würde mich freuen, wenn wir die schrecklichen Zweifel und all das bald aus dem Weg räumen könnten. Ich habe wirklich nichts mit deiner Brandwunde zu tun und ich möchte herausfinden, wer dafür verantwortlich ist.
Wenn du ebenfalls an einer Aussprache interessiert bist, dann wird dich mein Fahrer am 28. Dezember um 18 Uhr bei dir abholen.
Wenn du keine Lust darauf hast – und das könnte ich gut verstehen – dann ignoriere diesen Brief. Ich werde dich nicht noch einmal belästigen.
Bitte nimm es mir nicht übel, dass ich den Brief auf der Maschine geschrieben habe. Meine Handschrift ist wirklich fürchterlich, wie du ja mittlerweile weißt.
Alexej
Julia musste sich setzen. Alexej hatte sich tatsächlich entschuldigt. Sie fand es süß, dass er es mit einem altmodischen Brief versuchte. Sie strich mit ihrem leicht zitternden Zeigefinger über seine Unterschrift, die Alexej freundlicherweise handschriftlich unter seine Nachricht gesetzt hatte.
Was soll ich tun, dachte Julia und überflog den Brief zum gefühlten zehnten Mal. Sie erinnerte sich an den Anruf, den sie knapp eine Woche zuvor nicht angenommen hatte. Vermutlich hatte Alexej sie da schon zu sich einladen wollen.
Der 28. Dezember war zufällig der nächste Tag, aber Julia wunderte sich nicht darüber. Es war ein Wochenende und Alexej war sonst ein viel beschäftigter Mann. Ein gut aussehender Mann, dachte sie verträumt.
Sobald sie sich aus den schützenden Fängen ihrer männerverachtenden Mutter befreit hatte, begann sie wieder eigenständig zu denken und zu fühlen. Sie sehnte sich immer noch nach Alexej, aber sie wusste auch, dass die Zweifel, die sowohl sie, Verena und ihre Mutter hatten, völlig berechtigt waren.
Julia beschloss, dass sie eine Nacht darüber schlafen wollte. Sie fürchtete sich vor der Begegnung. Sie wusste eigentlich längst, dass sie hingehen wollte. Sie wusste jedoch noch nicht, ob sie es auch wirklich konnte. Alexejs Anwesen war für sie quasi verdorben.
Es war immerhin der Ort, an dem sie sowohl das schönste als auch das gleichzeitig schrecklichste Abenteuer ihres gesamten Lebens durchgemacht hatte.
Draußen war es längst dunkel geworden und Julia entschied sich dafür, in den nächsten paar Stunden nicht mehr über den Brief nachzudenken, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sie beschloss das Buch, das ihre Mutter ihr aufgezwungen hatte, weiterzulesen. Aber erst einmal wollte sie ihre Reisetasche wieder auspacken, damit sie es sich danach ganz ungeniert auf ihrer Couch gemütlich machen konnte.
„Wie kann man nur so blöd sein“, zischte Julia, als sie ihre Tasche vollständig entpackt hatte. Etwas fehlte. Sie hatte ihren „falschen Hasen“, wie sie ihr Lieblingsspielzeug in Verenas Gegenwart manchmal scherzhaft nannte, bei ihrer Mutter vergessen.
Ihr Dildo schlummerte nun in ihrer Nachttischschublade in ihrem alten, unschuldigen Zimmer. Julia hoffte, dass ihre Mutter nicht plötzlich auf die Idee kam, dort aufzuräumen. Abgesehen davon war der vorübergehende Verlust ihres Spielzeugs nicht wirklich schlimm. Julia wusste, was sie wollte und sie wusste zum Glück auch, wie es sie es im Notfall auch ohne ihr Spielzeug bekommen konnte.
Gegen zehn Uhr am Abend machte es sich Julia endlich auf ihrer Couch bequem. Sie hatte Verena noch eine SMS geschickt, weil sie keine Lust auf allzu lange Gespräche hatte. Sie erwartete noch eine Antwort, daher stellte sie zumindest den Vibrationsalarm ihres Handys wieder ein. Nachdem Alexej einige Tage zuvor angerufen hatte, wollte sie erst einmal nicht mehr gestört werden und hatte daher das Handy die meiste Zeit auf lautlos gestellt.
Julia klappte das Buch auf, atmete tief durch und begab sich in auf eine Reise in ein weit entferntes Land, in dem es noch wirklich starke Frauen gab. Assassinen, die ihren Rachegelüsten nachgingen. Heldinnen, die in fünfundneunzig Prozent der Fälle am Ende einen Märtyrertod starben. Weibliche Vorbilder, die Menschen wie Julias Mutter geistig beflügelten, sie anspornten, sie inspirierten und verzauberten.
Obwohl Julia die ersten Seiten des dicken Wälzers als langatmig empfunden hatte, konnte sie mittlerweile kaum noch von ihrer Lektüre ablassen.
Als die Protagonistin gerade in einer brenzligen Situation war und drohte, von mehreren feigen Männern in einer schummrigen Gasse vergewaltigt zu werden, begann ihr Handy auf dem Glastisch zu vibrieren.
„Na, endlich!“, sagte Julia halblaut und legte das Buch beiseite. Verena hatte fast zwei Stunden für ihre Antwort gebraucht. Julia ahnte, dass sie vermutlich zu beschäftigt gewesen war. Sie schüttelte sich. Immer dann, wenn sie sich vorstellte, wie ihre beste Freundin, die Zwillinge im monströsen Bauch trug, Sex hatte, wurde ihr ganz anders. Immer wieder aufs Neue fühlte es sich komisch, ja, vielleicht sogar falsch an.
Die SMS war kurz und prägnant: „Tu das, was dein Herz dir sagt.“ Verena hatte einen Kuss-Smiley hinterlassen und Julia war froh, dass ihre Freundin nicht wieder versuchte, ihr in ihre Entscheidungen reinzureden.
Außerdem hatte Julia sich ohnehin schon längst entschieden. Sie würde Alexej treffen. Verenas positive Antwort hatte auf ihren Entschluss keinen wirklichen Einfluss gehabt. Aber es fühlte sich gut trotzdem gut an, bestätigt zu werden, dachte Julia.
Sie war aufgeregt, denn in weniger als vierundzwanzig Stunden würde sie wieder in dem luxuriösen Auto sitzen, den Fahrer anschweigen und zu Alexejs Anwesen dahingleiten.
Es war nicht ihre Abenteuerlust, die sie zurück in seine muskulösen Arme trieb. Es war ihre Zuneigung ihm gegenüber. Außerdem war sie extrem neugierig auf seine Sicht der Dinge in Bezug auf ihre Brandwunde.
Julia checkte die SMS noch einmal und schickte bloß einen Gutenachtgruß zurück an Verena. Inklusive Kuss-Smiley natürlich.
Ihr fiel auf, dass Verena die gleichen Worte wie damals Balu verwendet hatte. Auch er hatte ihr geraten, auf ihr Herz zu hören. Seit sie das tat, hatte sich ihr Leben grundlegend verändert. Es war intensiver geworden, stellte sie fest. Ihre Brandmal kribbelte und Julia verspürte den unbändigen Drang, daran herumzukratzen. Julia wertete das als ein Anzeichen der Heilung und beherrschte sich.
Sie las noch ein Kapitel, um herauszufinden, was aus der mutigen Protagonistin in ihrem Roman geworden war und ging dann überraschend entspannt ins Bett.