Kapitel 17 – Auf eigene Faust

Verena wachte beim ersten Klingeln des Weckers auf. Sie hatte sich am Vorabend einen Plan gemacht, um mehr über Julias verhängnisvolles Erlebnis in Alexejs Keller herauszufinden.

Matthias schnarchte. Verena wälzte sich so leise wie möglich aus dem großen Bett und schlich sich ins Bad. Es war bereits nach neun Uhr, aber Matthias hatte endlich Urlaub und Verena gönnte ihm den Schlaf. Mittlerweile war sie froh, dass Matthias im Laufe der letzten Monate so viele Überstunden gemacht hatte. Jetzt hatten sie fast einen kompletten Monat Ferien und Verena sehnte bereits die ersten gemeinsamen Abenteuer im Bett herbei.

Seit der Schwangerschaft hatten sie seltener Sex gehabt, weil Matthias befürchtete, er könnte etwas kaputt machen. So drückte er es aus. Verena fand das süß. Sie war froh, dass sie einen so liebevollen Partner abbekommen hatte.

Als Verena unter der Dusche stand, dachte sie über ihren Plan nach. Sie hatte weder Matthias noch Julia davon erzählt. Sie wollte erst einmal sichergehen, dass ihre Theorie stimmte, bevor sie den Teufel an die Wand malte.

Julia hatte wahrlich genug andere Sorgen, wie sie fand. Verena beschloss Matthias das Frühstück vorzubereiten, bevor sie ging. Sie wollte ungefähr um zehn Uhr in der Stadt sein. Am Vorabend hatte Verena im Internet nach der Adresse der Softlift GmbH gesucht. Sie wollte Alexej einen kleinen Besuch abstatten.

Verena erhoffte sich davon ehrliche Antworten. Julia sollte endlich ihren Seelenfrieden bekommen, dachte Verena grimmig, als sie sich ankleidete.

Nach dem Frühstück verließ sie das Haus, in das sie erst zwei Jahre zuvor gezogen war. Wenige Sekunden später schloss sie jedoch die Tür wieder auf und ging zurück in die Küche.

Da saß Amica, ihre Katze, und miaute vorwurfsvoll. Verena sah, dass sie sich beschwerte, also machte sie der Katze eine Freude, indem sie ihr nicht nur die übliche Portion Futter gab, sondern auch ein kleines Schälchen mit Milch neben ihren Napf stellte.

Aus dem Miauen wurde ein zufriedenes Schnurren und Verena verließ das Haus zum zweiten Mal, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Katze die Milch auch wirklich zu schätzen wusste.

Es war fünf nach zehn, als Verena den Lift betrat und den Knopf für die dritte Etage drückte. Es handelte sich um ein relativ kleines Bürogebäude, in welchem die Softlift GmbH und zwei ihrer Tochtergesellschaften den gesamten dritten Stock belegten.

Verena wurde von einer lächelnden Frau am Empfang begrüßt: „Guten Morgen. Womit kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Hallo. Ich möchte gerne mit Alexej Gromow sprechen. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Ich -“, begann Verena, aber sie wurde unterbrochen.

„Haben Sie denn einen Termin?“, fragte die Frau und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Verena sah, dass sie unsauber gezupft worden waren, aber sie verdrängte den Gedanken, da sie wirklich Wichtigeres zu tun hatte.

„Äh, nein, aber -“, antwortete Verena und ahnte bereits, dass ihr Plan nicht ganz ausgereift war. Sie hatte nicht daran gedacht, dass die hohen Tiere – zum Beispiel Alexej Gromow - in einer solchen Firma wohl kaum Zeit für zufällige Besuche hatten.

Ihr wurde erneut das Wort abgeschnitten: „Das ist schlecht. Ohne Termin kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“ Die Frau wurde von Sekunde zu Sekunde unfreundlicher und Verena erkannte, warum das so war. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Illustrierte, die aufgeschlagen auf dem sonst sehr aufgeräumten Schreibtisch lag. Verena sah in diesem Umstand jedoch eine Chance.

„Hören Sie, es ist wirklich wichtig. Wie Sie sehen, bin ich schwanger und Stress ist Gift für mich. Wenn Sie mir nicht weiterhelfen wollen, dann sehe ich mich leider dazu gezwungen, eine Szene zu machen. Sie wollen in Ihrem Magazin lesen, ich will Alexej Gromow sprechen. Es dauert wirklich nur ein paar Minuten. Erfinden Sie irgendwas“, sagte Verena und bemühte sich, selbstbewusst zu wirken.

Verena fühlte sich wie ein Filmstar. Ihr war bewusst, dass solche hohlen Sprüche eigentlich nur auf der Kinoleinwand erfolgreich waren, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Frau händeringend nach einer Ausrede suchte, um sich endlich wieder ihrem Magazin widmen zu können.

Die Dame musterte Verena argwöhnisch und wägte offenbar ab, ob sie tatsächlich in der Lage war, ihr den Vormittag zu versauen. Schließlich seufzte sie vernehmlich und nahm den Telefonhörer von ihrem Schreibtisch in die Hand.

„Hier ist jemand für Herrn Gromow. Nein, es ist eine Frau. Ja. Nein, sie hat keinen Termin. Ja, in Ordnung.“ Die Frau legte auf und deutete auf eine bequem erscheinende Sitzgruppe am anderen Ende des Raumes. Verena lächelte, nickte ihr gönnerhaft zu und setzte sich.

Wenige Minuten später erschien eine andere Frau, ebenfalls jung, aber um einiges attraktiver als die vom Empfang, wie Verena feststellte.

Sie hatte mit einem Mann gerechnet, aber sie realisierte nun, dass es doch um einiges schwieriger werden würde, den verrückten Russen in die Finger zu bekommen.

Verena wurde förmlich begrüßt. Sie blieb vorerst sitzen, denn sie hoffte, dass sich Alexej höchstpersönlich doch noch blicken lassen würde.

Die Frau stellte sich vor: „Mein Name ist Annabelle Desens. Ich bin die Assistentin von Herrn Gromow. Was kann ich für Sie tun?“

Verena war geschockt. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber es fiel ihr denkbar schwer, denn vor ihr stand eine Frau, die ihr und ihrem Baby gefährlich werden konnte. So hatte sich Verena ihr kleines Abenteuer nicht vorgestellt und sie biss sich missmutig auf die Unterlippe, als sie erkannte, wie blödsinnig ihre Idee gewesen war.

„Äh, ja, ich heiße Verena. Verena Maier. Ich würde gern mit Alexej Gromow sprechen. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Die Frau am Empfang meinte, ich solle einen Termin vereinbaren. Könnten Sie mir nicht weiterhelfen?“

Annabelle legte den Kopf schief und verschränkte die Arme. Sie gab eine unbefriedigende Antwort: „Nein, das ist leider nicht möglich. Herr Gromow ist momentan sehr beschäftigt. Außerdem ist er gar nicht im Büro. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein. Worum geht es denn?“

Verena überlegte fieberhaft, wie sie die gewünschten Informationen aus Annabelle herausholen konnte, ohne aufzufliegen. Sie erfand spontan eine Lüge: „Naja, es ist mir ein bisschen peinlich, aber ich würde mich gern bei Herrn Gromow bedanken. Vorgestern, gegen Abend, bin ich im Schnee ausgerutscht und er hat mir hochgeholfen. Es war eine dumme Geschichte. Herr Gromow hat mir seine Karte gegeben und da dachte ich, dass -“

Annabelle runzelte die Stirn und unterbrach Verena schroff: „Wann soll das denn gewesen sein? Vorgestern war Herr Gromow den ganzen Tag über in seiner Villa. Wo genau haben sie ihn getroffen?“

Verena kam ins Stocken. Sie wusste ja überhaupt nicht, wo Alexej eigentlich wohnte. Sie musste improvisieren, aber ihr fiel nichts Passendes ein.

Wenige Sekunden später verdrehte Annabelle arrogant die Augen und schaute verächtlich auf Verena herab.

„Dürfte ich wenigstens die Visitenkarte mal sehen?“, fragte mit einem maskenhaften Lächeln.

Verena hätte sich selbst ohrfeigen können. Ihr Märchen hatte keine fünf Minuten gehalten. Wut keimte in ihr auf. Vor ihr stand die Frau, die Julia schikanierte, aber sie durfte sich nichts anmerken lassen. Sie wusste das, aber es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen.

„Das habe ich mir bereits gedacht. Hören Sie mal, Sie sind in diesem Monat nicht die erste Verehrerin, die ich abwimmeln durfte. Herr Gromow hat momentan andere Sorgen und ist an einer festen Beziehung nicht interessiert“, sagte Annabelle. Ihr Gesichtsausdruck war schwierig zu deuten. Verena glaubte, dass sie Unmut erkennen konnte. Und warum erwähnte sie etwas von Alexejs Privatleben? Das war mehr als unprofessionell.

Verena hatte einen Einfall. Es war gewagt, aber sie wollte es probieren.

„Gut. Lassen wir die Spielchen. Ich kenne Alexej nicht. Aber meine Freundin kennt ihn. Sie heißt Julia. Leider kann sie heute nicht persönlich hierher kommen. Kennen Sie sie zufällig?“, fragte Verena. Ihre Stimme klang kalt.

Auf Annabelles Gesicht breitete sich ein fieses Grinsen aus. Sie antwortete vergnügt: „Ah, daher weht der Wind. Ich wusste doch, dass hier etwas nicht stimmt. Ja, ich kenne deine Freundin. Hat sie Angst bekommen? Oder warum traut sie sich nicht hierher? Im Gegensatz zu Alexej beiße ich nicht.“

Mit diesen Worten kramte sie eine Zigarette aus der zerknitterten Packung in ihrem Blazer hervor und steckte sie sich an.

Annabelle lachte leise und warf einen Blick über die Schulter, um sicher zu gehen, dass die Frau am Empfang nichts von ihrem perfiden Spiel mitbekam.

Die jedoch war längst wieder in ihre Illustrierte vertieft und interessierte sich nicht für die zwei streitenden Frauen in der Sitzecke des Foyers der Softlift GmbH.

Annabelle sprach weiter und sie schien die Situation zu genießen: „Ist es deiner Freundin etwa zu heiß geworden?“

Sie blies den Rauch rücksichtslos in Verenas Richtung und wartete gespannt auf eine Antwort.

Auch Annabelle wollte nun erfahren, wie viel ihr Gegenüber bereits wusste. Sie war neugierig geworden und ließ daher ihre Deckung fallen.

Sie setzte unerbittlich nach: „Ein gut gemeinter Ratschlag für deine Freundin: Sie sollte die Finger von Alexej lassen. Manche Beziehungen hinterlassen tiefe Narben, wenn du verstehst, was ich meine.“

Verena kochte vor Wut und sie warf alle guten Vorsätze über Bord, als sie sich offen mit Annabelle anlegte: „Du elende Schlampe. DU warst das. Julia hatte recht. DU warst in dem Keller. DU hast Julia verbrannt.“

Verena realisierte erst jetzt, dass Annabelle rauchend vor ihr stand. Sie hatte bisher überhaupt nicht auf die Zigarette in ihrem Mund geachtet. Verena hatte Julia wie einen Idioten dargestellt und das tat ihr nun unendlich leid. Aber sie konnte nichts mehr daran ändern.

Annabelle holte Verena zurück in die Realität, als sie verschmitzt fragte: „Kannst du es denn beweisen?“

Sie lachte, nun ungehemmt und laut, und drehte sich auf dem Absatz um. Sie ging geradewegs auf die Frau am Empfang zu und sagte etwas zu ihr, was Verena nicht hören konnte.

Verena richtete sich auf und wollte Annabelle einholen, aber die Frau vom Empfang war ebenfalls aufgestanden und hielt sie davon ab, in den Flur einzubiegen, auf dem Annabelle verschwunden war.

Verena keuchte vor Aufregung. Ihr Herz raste. Annabelle hatte quasi zugegeben, dass sie für Julias Brandmal verantwortlich war. Aber das konnte sie nicht beweisen. Es gab keine Zeugen. Sie hatte auch sonst nichts gegen Annabelle in der Hand. Letztendlich waren Annabelles Andeutungen nichts als wertlose Indizien. Niemand würde ihr glauben, dachte Verena niedergeschlagen.

Sie riss sich aus der Umklammerung der Empfangsdame und torkelte benommen rückwärts. Ihr wurde schwindelig, aber sie schaffte es noch bis zum Lift. Als die automatischen Aufzugtüren sich gerade schlossen, sah Verena zwei Sicherheitsleute aus dem Flur kommen, die ihr offenbar den Weg nach draußen zeigen sollten. Sie lehnte sich an das Geländer im Aufzug und mied ihr Spiegelbild in den blank polierten Aluminiumwänden des Lifts. Sie wollte einfach nur noch raus aus dem Gebäude. Sie brauchte frische Luft.

Und sie wollte Julia sofort anrufen und ihr erzählen, was sie herausgefunden hatte. In erster Linie wollte Verena sich jedoch dafür entschuldigen, dass sie Julia nicht von Anfang an geglaubt hatte.

Draußen angekommen sog sie gierig die kalte, klare Luft ein und kramte nervös in ihrer Handtasche nach ihrem Telefon.

Besetzt. Verena fluchte leise, aber es ließ sich nicht ändern. Sie würde es später noch einmal versuchen, dachte sie und ging in Richtung ihrer U-Bahn-Station.