Kapitel 1 – Träume

Sie wachte schweißgebadet auf und blinzelte verwirrt. Der Blick zum Wecker erschreckte sie: Die noch verschwommenen Digitalziffern zeigten tatsächlich 05:02 an. Noch eine halbe Stunde, bis dieses Mistding wieder Alarm schlagen würde.

Sie murmelte zu sich selbst: „Jetzt ist es auch egal.“ – Dann stand sie auf, immer noch unschlüssig, was sie von dem Traum halten sollte. Es war so real gewesen, so echt. Dieser Traum war anders als andere Träume, die sie gelegentlich hatte.

Sie hüllte sich in ihren Bademantel und verzog kurz ihre Miene; der Bademantel war leicht klamm, weil sie ihn nach dem Sonntagabendbad ein wenig zu achtlos über das Bettgestell geworfen hatte.

Auch das war jetzt egal, sie musste einen klaren Kopf bekommen und so beschloss sie seufzend, einfach jetzt schon duschen zu gehen und das Frühstück zu verschieben.

Besonderen Appetit hatte sie ohnehin nicht – sie fühlte sich bereits satt und auch das konnte sie sich nicht erklären.

Der viel zu früh eingetroffene Winter sorgte dafür, dass es um kurz vor Fünf noch stockdunkel war und sie schaltete das Licht im Badezimmer ein.

Wieder musste sie blinzeln. „Verflucht“, stieß sie aus – das Licht war grell, kalt und ungemütlich. Wie im Krankenhaus, fand sie. Sie hatte schon mit einem Handwerker telefoniert, aber der ließ sie scheinbar seit einer Woche hängen.

Die neue Wohnung war zwar geräumiger und lag näher am Büro, aber einige Sachen gingen ihr bereits seit dem Einzug im Juli auf die Nerven.

Ihren Bademantel ließ sie abermals gedankenverloren zu Boden gleiten und stieg in die Dusche. Das Wasser musste in dieser Altbauwohnung immer einige Sekunden vorlaufen, damit es die richtige Temperatur hatte. Auch das gehörte zu den kleinen Mängeln, für die sie sich ohrfeigen könnte, sie übersehen zu haben. Der Umzug war wohl ein wenig überstürzt, dachte sie.

Das Wasser plätscherte erst eiskalt in den Abfluss, dann viel zu heiß. Sie war müde und freute sich auf das Gefühl von Frische, wenn sie erst einmal diese Horrordusche überstanden hatte.

Als sie gerade die richtige Temperatur eingestellt hatte und ihre Haare mit Shampoo einmassierte, erinnerte sie sich wieder an den unheimlichen Traum.

Es war heiß gewesen, schwül und dabei doch angenehm. Irgendein tropisches Land, vermutete sie. Shampoo tropfte ihr in die Augen, aber das registrierte sie kaum. Wer war dieser Mann, an den sie sich erinnerte?

Sie wusste nur noch Einzelheiten:

Alles war durcheinander und sie merkte, dass der Traum ihr wie Sand in den Fingern zerrann.

Sie musste einige Minuten so da gestanden haben, denn ihre Augen tränten nun vom vielen Shampoo – ihre Haare massierte sie nun schon weitaus länger als sonst. Das Ergebnis sah sie dann kurz darauf beim Ausspülen: Viele, einzelne Haare hatte sie beim übertriebenen Einmassieren herausgerissen, die nun scheinbar hämisch in den Abfluss gluckerten.

Vor dem beschlagenen Spiegel betrachtete sie sich und lächelte zufrieden, als sie die entscheidenden Stellen am feuchten Glas verwischte: Fast jeden Morgen dachte sie, dass sie für 26 noch ziemlich knackig aussah – eher wie 20. Und darüber war sie sehr froh.

Sie hatte blonde, schulterlange, glatte Haare, ein schmales Gesicht und eine Hakennase – das jedoch sah man nur, wenn man sie ihm Profil anschaute und man musste wirklich genau hinsehen, um diesen kleinen Makel zu entdecken. Ihre Taille war schlank, ihre Schultern gerade, so dass ihre glücklicherweise mit sehr festem Bindegewebe ausgestatteten B-Cup-Brüste spitz hervorragten, was sie vor allem, wenn sie enge Oberteile trug, zum Blickfang für so ziemlich alle heterosexuellen Männer machte. Ihre Beine waren ebenfalls schlank, allerdings zeichneten sich an den hinteren Oberschenkeln bereits Ansätze einer widerspenstigen Orangenhaut an, die sie jedoch beim täglichen Blick in den Spiegel so gut es ging zu ignorieren suchte. Insgesamt konnte sie also durchaus mit ihrer Figur zufrieden sein. Sie glaubte, einen Großteil ihrer körperlichen Vorzüge ihrer ebenfalls schlanken Mutter zu verdanken – die gelegentlichen Yogastunden, die sie bei Balu nahm, spielten ihrer Meinung nach eine eher zweitrangige Rolle in dieser Angelegenheit.

Nachdem sie sich ausgiebig im Spiegel betrachtet hatte, griff sie zu ihrer Zahnbürste.

Zum Glück hatte sie am Abend zuvor vergessen, nach dem Baden die Heizung auszustellen. Sie konnte auf den Bademantel dankend verzichten und putzte sich einfach nackt die Zähne.

Während sie gurgelte, dachte sie an ihre letzte Beziehung. Thomas hatte sie zwar gern gehabt, aber irgendwie passte es damals nicht. Sie erinnerte sich an den letzten gemeinsamen Abend, den sie zusammen verbracht hatten, denn auch an jenem Tag stand sie nackt im Bad und putzte sich die Zähne.

Sie war das zweite Mal unter der Dusche gewesen. Sie hatten sich laut gestritten und sie wusste, während sie an dem besagten Tag in den Spiegel schaute, dass die Beziehung keinen Sinn mehr machte.

Jetzt, da sie wieder einmal nackt ihre Zähne putzte, fand sie das alles plötzlich sehr witzig. Sie grinste und dachte: „Zum Glück ist das vorbei.“ In dem Moment ging die Welt unter, denn der Wecker ließ sein ohrenbetäubendes Klingeln im Schlafzimmer hören.

Sie spurtete nackt zurück und stieß sich dabei den rechten, kleinen Zeh am Bett, als sie nach dem schrillenden Wecker griff. Der Schmerz durchzuckte sie so heftig, dass sie sich setzen musste.

Da saß sie nun, mit einigen Dutzend Haaren weniger, einem mit Zahnpasta verschmierten Mund, nackt und mit pochendem Zeh.

Wenigstes war jetzt wieder Stille. Halb sechs. In einer Stunde würde sie im Büro sitzen und sich langweilen. Seit dem abrupten Ende ihrer letzten Beziehung langweilte sie fast alles, was sie tat. Auch die Stadt ödete sie eigentlich an, aber andererseits war alles so vertraut.

Sie nahm die mit Bissspuren übersäte Zahnbürste aus dem Mund und ging leicht humpelnd zurück ins Bad, um das mittlerweile unangenehm-pfefferminzige Zeug auszuspülen.

Nicht nur hatte sie zu wenig geschlafen, nein, sie hatte einen ziemlich intensiven Traum gehabt, der sie noch etwas länger beschäftigen würde – hinzu kam, dass sie mit dem angeschwollenen Zeh wohl kaum ihre Lieblingsschuhe anziehen konnte.

Obwohl es noch so früh war, schien sich ein Tag der Kategorie „Wäre-ich-lieber-im-Bett-geblieben“ anzubahnen.

Sie trat erfrischt aus dem Bad und ging – immer noch unbekleidet – in ihrer Wohnung umher.

„Wo sind die Dinger denn?“, sagte sie halblaut, während sie die Kissen auf dem Sofa umdrehte. Auch unter der Couch hatte sie keinen Erfolg, aber beim Weg ins Schlafzimmer fiel ihr ein, dass die kuscheligen Hausschuhe in der Küche waren.

Auch dort erwartete sie wieder ein recht unangenehmes Licht, was sie nun einfach hinnahm. Sie würde dem Handwerker wohl diese Woche nochmals klarmachen müssen, dass sie dringend neue Lampen installiert haben wollte.

Die Kaffeemaschine ratterte schon in den letzten Zügen vor sich hin, als sie – endlich in ihrer Bürokleidung – in die Küche zurückkehrte. Der kleine Zeh tat nun schon weniger weh, als sie erwartet hatte. „Ich probiere die Pumps trotzdem aus“, dachte sie grimmig.

Immerhin hatte sie sich die Schuhe erst vor einer Woche gegönnt, als sie in der Mittagspause in einem sehr exklusiven Laden nach Ablenkung suchte. Früher hätte sie sich so etwas nie gekauft, grübelte sie. Allgemein war sie viel vernünftiger gewesen, als sie noch mit Thomas zusammen war. Aber das hat ja jetzt ein Ende, fügte sie in Gedanken hinzu. Glücklicherweise hatte sie mit ihm nicht allzu viel Zeit verschwendet und frühzeitig erkannt, dass er nicht der Richtige war.

Während sie ihren Kaffee schlürfte, versuchte sie sich an ihren Traum zu erinnern. Es war so intensiv gewesen, das Gefühl, dass sie noch einige Minuten nach dem Aufstehen erlebt hatte, war ihr völlig fremd. Und vor allem ging ihr der Mann nicht aus dem Kopf. Es war schwül und düster gewesen – ein tropisches Land könne es wohl doch nicht gewesen sein. Das Gesicht des Mannes konnte sie leider nicht mehr rekonstruieren, wohl aber seine Augen. Solche Augen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie hatten sie starr fixiert. Solange sie in diese Augen blickte, stand die Zeit still.

Sie schüttelte den Kopf und erinnerte sich daran, dass der heutige Tag im Büro vermutlich doch nicht allzu langweilig werden würde. Heute war ein Treffen mit den Vertretern des Gromow-Imperiums angesetzt. So nannte Peer, ihr Vorgesetzter und Mentor, den russischen Millionärsklan, der sich vor ein oder zwei Generationen in Deutschland niedergelassen hatte.

Sie würde das Kind schon schaukeln, dachte sie. Mit reichen Kunden konnte sie ganz gut umgehen.

Sie seufzte leicht, als sie den letzten Tropfen aus ihrer Kaffeetasse auf ihrer Zunge spürte. Am liebsten würde sie noch einen trinken, aber dafür hatte sie nun schon zu lange herumgetrödelt. Sie hatte noch ungefähr 30 Minuten, um pünktlich ins Büro zu kommen. Einerseits wollte sie Peer nicht enttäuschen, jetzt da sie (vorerst inoffiziell) zur Junior-Chefin befördert worden war, andererseits war sie sich sicher, dass die verwöhnten Russen ebenfalls nicht pünktlich erscheinen würden. Sie erinnerte sich an ihre wilde Phase, die noch gar nicht so lange zurück lag, und wunderte sich kurz darüber, dass sie solche Vorurteile gegenüber ihren Kunden hatte. Früher, also vor fünf oder sechs Jahren, war sie eher eine Art Hippie gewesen, dem das Motto „Leben und leben lassen“ am besten gefällt. Heute, einige Jahre später, hatte sie sich eine ansehnliche Karriere erarbeitet. Sie urteilte häufiger als früher. Und sie urteilte härter. Ihr war das bewusst und manchmal sehnte sie sich an die unbeschwerte Zeit zurück. Allerdings wusste sie auch, dass sie sich die sauteuren Manolo Blahnik Schuhe nicht hätte leisten können, wenn sie damals in der Berliner Künstlerszene versackt wäre.

Sie föhnte und bürstete noch ein paar Minuten an ihren Haaren herum und zog doch noch ein anderes Oberteil an. Als sie den letzten Knopf ihrer weißen Bluse zuknöpfte und sich dabei im Spiegel beobachtete, musste sie abermals an den wirren Traum denken. Sie durchfuhr eine Woge der Lust, als sie kurz die Augen schloss, um die wenigen Fragmente, an die sie sich noch erinnern konnte, ein zweites und drittes Mal zu durchleben.

Der Mann in ihrem Traum war groß gewesen, mindestens 1,90m. Er hatte nicht gelächelt, sondern bloß selbstsicher geguckt. Er hatte dunkles Haar gehabt, militärisch kurz, aber da war sie sich gar nicht so sicher.

Sie öffnete die Augen wieder, als sie bemerkte, dass sie immer noch an ihrer Bluse herumnestelte. Sie drehte den Kopf und schaute sehnsüchtig in Richtung ihres Nachttisches, in dem eines ihrer Spielzeuge auf sie wartete. Eines von dutzenden Geheimnissen, die sie vor Thomas, dem wohl spießigsten und prüdesten Mann dieser Generation, hatte verstecken müssen.

Sie riss sich jedoch zusammen und eilte schließlich in den Flur, um sich in ihre geliebten neuen Designerschuhe hinein zu quälen – ja, der kleine Zeh pochte immer noch vor sich hin. Außerdem war es draußen arschkalt, das hatte ein Blick auf das kleine Thermometer am Balkonfenster verraten. Es war ihr egal. Da musste sie heute durch. Sie hatte immerhin einen Ruf zu verlieren und sie wusste, dass vor allem die reichen Kunden der FemediaX GmbH Wert auf ein gepflegtes Äußeres legten.

Sie steckte sich unscheinbare Ohrringe an und legte sich die Armbanduhr an, die Peer ihr überraschend zur Beförderung geschenkt hatte. Peer ist doch ein Schlitzohr, dachte sie. Die Zeiger ihrer neuen Uhr neigten sich bereits gefährlich in Richtung 07:00 Uhr – sie hatte tatsächlich zu viel getrödelt.

Draußen eilte sie so schnell es ging zur U-Bahn. Normalerweise wäre sie zu Fuß gegangen, aber heute war nicht der richtige Tag, um noch mehr Zeit zu vergeuden.

Während sie sich vor wenigen Minuten noch sicher war, dass der hohe Besuch sich verspäten würde, hoffte sie es jetzt vielmehr. Sie wollte Peer nicht enttäuschen und betete, dass die U-Bahn diesmal die drei Stationen zum Büro schaffen würde, ohne dass blecherne Lautsprecher plötzlich den Totalausfall der Weichen erklären. Genau das war nämlich bei ihrem letzten wichtigen Termin passiert. Sie müsse sich endlich angewöhnen, pünktlich zu kommen, hatte Peer sie damals verzweifelt ermahnt.

Sie schaute in die verschlafenen Gesichter in der U-Bahn und hoffte, dass sie frischer aussah als diese Zombies.

Die U-Bahn beförderte sie sicher zur richtigen Haltestelle. Als sie die Treppen vom Untergrund so gut es mit den filigranen Pumps nur ging hinaufeilte, fluchte sie plötzlich: „Wie kann man nur so blöd sein.“ Sie blieb schlagartig stehen. Ein Passant, der ebenfalls die Treppe hinaufeilte, drehte sich um und schnauzte zurück: „Blöde Kuh, meinst du die Treppe gehört dir allein?“

Sie blinzelte verwirrt und als sie bemerkte, dass sie offenbar laut gedacht hatte, wollte sie sich bei dem zu Recht verärgerten Mann entschuldigen. Ihr fielen jedoch nicht die passenden Worte ein und außerdem war der Mann bereits seiner Wege gegangen. „Wie kann man nur so blöd sein!“, wiederholte sie halblaut.

Sie hatte ihre Unterlagen vergessen. Schlimmer noch. Ihre Aktentasche inklusive Laptop lag im Wohnzimmer auf dem Tisch neben der Couch. Sie hatte am Vorabend bis spät in die Nacht an ihrer Präsentation gefeilt, da sie wusste, wie wichtig der Auftrag der Gromow-Familie für die FemediaX GmbH war.

„Peer wird mir den Kopf abreißen“, dachte sie ängstlich, wütend und beschämt zugleich. Sie ging zum Bürogebäude und betrat, nachdem sie dem Wachmann einen Morgengruß zugenickt hatte, leicht zitternd den Aufzug. Der Spiegel im Aufzug zeigte eine junge Frau, die auf dem Weg nach oben war. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Aufzug flog förmlich dem 15. Stockwerk entgegen. „Hoffentlich hat Deniz ein Backup auf seinem Computer, dann haben wir wenigstens ein paar Anhaltspunkte für die Präsentation“, dachte sie, während sie die kalte Digitalanzeige des Aufzugs beäugte.

Neunter Stock, zehnter Stock, elfter Stock. Sie hatte noch ein paar Sekunden, um sich zu beruhigen und um sich mental auf das vor ihr liegende Desaster vorzubereiten. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Das hatte sie in ihrem Yogakurs gelernt. Die Atemübung half, die Bilder in ihrem Kopf machten den Effekt jedoch zunichte. Da war er wieder, dieser Mann aus ihrem Traum. Und da war auch wieder dieses Gefühl, das sie so liebte. Fünfzehnter Stock. Die Aufzugtüren öffneten sich ruckartig und sie riss die Augen auf, um sich ihrem Schicksal zu stellen.

Zur Not kann ich wieder nach Berlin zurück, dachte sie nervös lächelnd. Sarah, die Neue am Empfang, deutete mit einem Blick bereits an, dass an jenem Tag vermutlich die Welt untergehen würde. Julia betete, dass die Russen wenigstens ebenfalls verschlafen hatten.