7. Kapitel
Dieses Mal war die Seide, die Stephan vor den Augen des städtischen Zinsmeisters auspackte, sauber, trocken und von bester Qualität. Von allerbester sogar. Leise pfiff der Kaufmannslehrling durch die Zähne. Sie würde ein hübsches Sümmchen eintragen.
Bevor er die Packen ins Lagerhaus bringen ließ, nahm er einige Strähnen davon und schlug sie in sauberes Tuch. Es würde keine Mühe bereiten, diese Seide an den Mann zu bringen. Er brauchte sie nur Lisbeth zu zeigen, um einen großen Teil davon abzusetzen. Ohnehin wollte er sie später aufsuchen, um ihr den Brief zu bringen, den Fygen mit der Seide für ihre Tochter gesandt hatte.
Stephans Miene verdüsterte sich, als er an den anderen Brief dachte, der aus Valencia gekommen war. Wobei es nicht der Inhalt des Schreibens gewesen war, der ihn erregt hatte. Sehr ausführlich, doch in freundlichen Worten, hatte Fygen ihm Arbeitsanweisungen erteilt und ihn genau darüber in Kenntnis gesetzt, wie er bis zu ihrer Rückkehr in den Geschäften zu verfahren habe.
Was Stephan geärgert hatte, war Hermans Reaktion gewesen, als er ihm den Brief gezeigt hatte. Hastig, beinahe grob, hatte dieser ihm den Brief abgenommen, obschon das Schreiben an ihn gerichtet war. »Künftig wünsche ich die Briefe mit ungebrochenem Siegel zu erhalten«, hatte er Stephan wissen lassen. Dann hatte er ihm genau die Anweisungen gegeben, die Fygen bereits schriftlich dargelegt hatte.
Stephan hätte sie auch ohne Hermans Einmischung befolgt, er war ja schließlich nicht dumm, dachte er gekränkt. Bisher war er gut allein klargekommen, ohne Herman, auch wenn es eine Menge Arbeit war, die seine Dienstherrin ihm aufgebürdet hatte.
Doch geschmeichelt durch das Vertrauen, das Fygen ihm entgegengebracht hatte, hatte er die Pflichten gern auf sich genommen. Er war begierig, zu lernen, denn schließlich wollte er eines Tages selbst Kaufmann werden, mit eigenem Kontor und eigenen Kaufmannsgesellen, und so hatte er allen Ehrgeiz darein gelegt, die Geschäfte während Fygens Abwesenheit erfolgreich zu führen.
Stephan bezweifelte sehr, dass Herman besser wusste, wie man ein Handelskontor und eine Faktorei leitete, als er selbst. »Aufgeblasener Wichtigtuer!«, brummte er und schickte sich an, das Kaufhaus am Malzbüchel zu verlassen. Missmutig zog er den Kopf zwischen die Schultern und trat in den Nieselregen hinaus, der seit den frühen Morgenstunden Dächer und Häuser in Grau hüllte. Nach ein paar vorwitzig warmen Tagen im Mai hatte sich der kölnische Sommer als ein milder Winter erwiesen, kühl und regnerisch, und drohte nun unbemerkt in einen nicht minder trüben Herbst überzugehen.
Als Stephan in den späten Nachmittagsstunden das Haus Zur Roten Tür aufsuchte, fand er die Frau seines Bruders in ihrer Werkstatt im Hof. Eine wohlige Wärme umfing ihn, als er das flache Gebäude betrat. An den Webstühlen wurde fleißig gearbeitet, und im hinteren Teil des Raumes wickelte Gertrud mit der anderen Helferin Garn auf Spulen. Stephan beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen, damit der bullige Ofen in der Ecke der Werkstatt seine Arbeit nicht umsonst verrichtete.
Bei seinem Eintreten senkte sich das Geplapper der Frauen zu einem aufgeregten Tuscheln. Neugierig reckten Lehrmädchen wie angestellte Seidmacherinnen die Hälse, dankbar für die Ablenkung, die noch dazu durch einen so ansehnlichen Burschen verursacht wurde. Stephan schenkte den Frauen ein Lächeln, das jede Einzelne zu einer Fürstin erhob. Er war sich seiner Wirkung auf die holde Weiblichkeit durchaus bewusst.
Mit leichtem Unbehagen entdeckte Lisbeth den Brief in der Hand ihres Schwagers, doch Stephan nickte beruhigend. »Von deiner Mutter«, sagte er und reichte ihr das Schreiben.
Als Lisbeth Fygens schwungvolle Schrift erkannte, breitete sich ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht.
Die Seidmacherinnen und Lehrmädchen waren nun ganz verstummt und blickten ihre Dienstherrin erwartungsvoll an. Sie alle wussten natürlich von Fygens Reise und waren begierig auf die Neuigkeiten, die dieser Brief enthüllen mochte.
Doch Lisbeth verdarb ihnen den Spaß. »Es ist genug für heute. Bald wird es ohnehin dunkel. Schert die hier noch alle gemeinsam auf«, sagte sie und wies auf die Webstühle, die eben bespannt wurden. »Und dann macht ihr Schluss für heute!«
»Wird gemacht, Frau Ime Hofe!« Stina nickte.
Gerade so schnell, wie es ihre Würde als Dienstherrin zuließ, wandte Lisbeth sich um und zog Stephan mit sich aus der Werkstatt. Doch am liebsten wäre sie gerannt. Es war das erste Lebenszeichen ihrer Mutter, seit Fygen im Frühjahr Köln verlassen hatte.
»Na los, Kinder! Ihr habt es gehört. Beeilt euch ein wenig!« Stinas Worte folgten ihnen auf den Hof hinaus.
In der Stube angelangt, ließ Lisbeth sich sogleich auf die Bank sinken und begann Fygens Brief zu lesen, die Zunge konzentriert zwischen die Lippen geklemmt, während Stephan ein formloses Bündel auf den Tisch legte und sich neben sie auf die Bank schob.
»Es geht ihr gut!« Lisbeth seufzte erleichtert auf, als sie die ersten Zeilen entziffert hatte, und ihre Züge entspannten sich. »Gott sei es gedankt, es geht ihr gut!«
»Schreibt sie, wann sie zurückkommt?«, fragte Stephan.
»So weit bin ich noch nicht.« Wieder vertiefte Lisbeth sich in die Lektüre, bis sie plötzlich laut auflachte. »Hör dir das an«, sagte sie glucksend. »Ich habe euch ein paar Erdmandeln geschickt. Daraus lässt sich ein Getränk bereiten, das wunderbar zu kühlen vermag, wenn es wieder gar zu heiß ist.«
Stephan stimmte in Lisbeths Gelächter ein. »Kühlendes Getränk? Ein warmer Würzwein käme jetzt gerade recht!«
Fragend blickte Lisbeth Stephan an. »Hast du sie gesehen, die … Erdmandeln?«
Stephan schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es das da?«, fragte er und wies auf das Bündel.
Behutsam wickelte Lisbeth den Stoff auseinander. Zum Vorschein kamen ein kleiner Klumpen Zucker und ein paar unscheinbare, wurzelähnliche Knollen. Lisbeth betrachtete sie einen Moment enttäuscht, dann nahm sie erneut Fygens Schreiben zur Hand. »Du musst die Erdmandeln einen Tag und eine Nacht in Wasser einweichen und dann mehrmals in Tüchern gut ausdrücken. Dann zerdrückst du sie zu Brei, den du mit Wasser und dem Zucker aufschüttest, bis eine milchige Flüssigkeit entsteht. Die muss noch einige Stunden ziehen, um ihren vollen Geschmack zu entfalten. Im ersten Moment schmeckt sie ein wenig ungewöhnlich, doch es gibt nichts Erfrischenderes für einen heißen Tag …«
Wieder konnten Lisbeth und Stephan nicht umhin, ausgelassen zu kichern. Der kurze kölnische Sommer hatte in diesem Jahr nicht einen solchen Tag gesehen.
Stephan wischte sich mit übertriebener Geste den nicht vorhandenen Schweiß aus dem Gesicht. Dann erhob er sich und griff nach dem Haken, um das Feuer im Kamin anzuschüren. Seit drei Tagen wurde die Stube im Haus Zur Roten Tür wieder geheizt.
Mit einem kleinen Glucksen wandte Lisbeth sich erneut dem Brief zu, um die Lektüre bereits nach wenigen Zeilen zu unterbrechen. Gespannt blickte sie Stephan an. »Und, wie ist die Seide?«
»Schau selbst!« Stephan entfaltete das Tuch, in das er die wenigen Strähnen geschlagen hatte.
Lisbeth nahm eine auf und rieb sie zwischen den Fingern. Dann hob sie sie an die Nase und roch daran. Anerkennend nickte sie, und die Begeisterung zauberte goldene Sprenkel in ihre braunen Augen. Fygen hatte nicht zu viel versprochen. »Wie viel hast du davon?«, fragte sie Stephan.
»Fünftausend Pfund.«
»Fünftausend Pfund!«, wiederholte Lisbeth ungläubig. Das war mehr, als sie erwartet hatte. Und mehr, als sie brauchte. Wie viel sollte sie nehmen? Eingedenk der Worte ihres Schwagers Hans, nur beste Qualität zu verarbeiten, eher mehr als zu wenig, zumal sie nicht wusste, wann ihr wieder solch eine Ware angeboten würde.
Und wenn sie Stephan die ganze Ladung abnahm? Bezahlen konnte sie es, das war nicht das Problem. Doch fünftausend Pfund waren eine gewaltige Menge. Es würde zu lange dauern, bis sie und ihre Weberinnen die Seide verarbeitet hätten, auch wenn sie weiterhin mehr als die vier zulässigen Lehrtöchter behielt. Es ging auf den Winter zu, da war es nicht ratsam, die Seide zu lange zu lagern, wollte man nicht riskieren, dass sie feucht wurde.
Begehrlich betrachtete Lisbeth die Strähnen in ihrer Hand. Natürlich gab es eine Möglichkeit, die ganze Seide zu verarbeiten. Wenn auch nicht in ihrem Betrieb. Sie könnte sie anderen Seidmacherinnen zum Weben geben. Seidmacherinnen, die es sich nicht leisten konnten, die kostspielige Rohware selbst zu erwerben, so wie Grete Elner.
Unwillkürlich verzog Lisbeth das Gesicht, als sie sich ihrer Begegnung mit Grete im Haus Xanten entsann. Doch sie musste ja nicht Grete beschäftigen, die für ihre Schlamperei bekannt war. Sicher gab es andere, die besser arbeiteten.
Seide zu verlegen, also sie anderen Seidmacherinnen zum Weben zu geben, verstieß zwar gegen die Zunftordnung, doch Lisbeth wusste mit Sicherheit, dass andere Seidmacherinnen wie Frieda Medman, Mechthild van der Sar und eben die Berchem-Schwestern es auch taten. Zudem gab es ja die Ausnahme, dass Weberinnen, die es sich nicht leisten konnten, sich als Seidmacherin selbständig zu machen, für andere Seidenweberinnen um Lohn weben durften. Der Unterschied lag einzig darin, ob sie es in ihrem eigenen Hause taten oder in der Werkstatt einer Dienstherrin.
Ohnehin hatte Lisbeth das Gefühl, dass auf die Einhaltung der Zunftgesetze in letzter Zeit nicht mehr so genau geachtet wurde. So wie sich auch bisher niemand daran gestört hatte, dass sie mehr als die vorgeschriebene Anzahl an Lehrtöchtern beschäftigte.
»Nun, was ist so erheiternd?« Ihr Gelächter über die Erdmandelmilch hatte ihn aus seinem Kontor gelockt. Mertyn trat in die Stube und unterbrach ihre Gedanken. Als er seines Bruders ansichtig wurde, runzelte er für einen winzigen Moment die dunklen Brauen, doch sogleich waren seine Züge wieder so beherrscht wie gewohnt.
Lisbeth erklärte ihm den Zusammenhang, doch ihr Gatte nickte nur abwesend und griff nach dem Krug, der auf dem Tisch bereitstand. In Gedanken weilte er noch bei seinen Geschäften. »In Valencia herrscht ein anderes Klima als hier. Es ist viel wärmer dort«, erklärte er ernsthaft und schenkte sich einen Becher Wein ein.
Stephan entfuhr ein despektierliches Lachen. »Was du nicht sagst!«
»Das ist ja gerade der Witz!«, hob Lisbeth an zu erklären, doch sogleich gab sie den Versuch auf und zuckte hilflos mit den Schultern. Mertyn war eben so ernst.
Zweifellos war Lisbeth dankbar, einen zuverlässigen Mann an ihrer Seite zu haben. Aber manches Mal ärgerten sie seine Ernsthaftigkeit und sein Ehrgeiz. Man konnte doch schließlich beides tun: fleißig und pflichtbewusst arbeiten und trotzdem fröhlich sein und das Leben genießen. Man wusste doch zu gut, wie schnell es vorbei sein konnte.
Als junges Mädchen, damals, als Mertyn ihr die Welt erklärt hatte, hatte Lisbeth seine ruhige, überlegte Art bewundert. Er war so klug, war ihr so erwachsen vorgekommen.
War er eigentlich damals schon so ernsthaft gewesen, fragte sie sich. Oder lag es daran, dass er nach dem frühen Tod seines Vaters als Mann im Haus die Verantwortung übernommen, dessen Geschäfte fortgeführt und sich um den Verkauf von Katryns Seidwaren gekümmert hatte?
In knappen Worten berichtete Lisbeth Mertyn von Stephans Angebot und ihrem Wunsch, die gesamte Menge zu erwerben.
»Ist sie um so vieles besser als herkömmliche Ware, dass es den Aufwand rechtfertigt?«, fragte Mertyn sachlich und nahm einen Schluck aus dem Becher.
Lisbeth nickte eifrig und hielt ihm die Strähnen hin. Die Aufregung hatte ihr die Wangen gerötet. »Ist sie! Es ist die beste Rohware, die ich je gesehen habe«, schwärmte sie.
Mertyn nahm die Seide entgegen und beschaute sie eingehend. Im dämmrigen Licht, das durch die buntbemalten Glasfenster drang, schimmerten die Stränge perlmuttfarben. Behutsam legte Mertyn sie zurück auf den Tisch der Stube, dann nickte er.
»Was meinst du?«, drängte Lisbeth.
»Es ist sicher eine Menge Geld auf einmal, aber das ist nicht das Problem. Wenn du die Seide nicht verarbeitet bekommst, kann ich sie immer noch verkaufen«, entgegnete Mertyn bedächtig. »Ob es allerdings sinnvoll ist, sie zu verlegen, sollten wir in Ruhe überlegen. Lass uns morgen darüber reden, ja? Ich habe heute noch eine Menge zu tun.«
Lisbeth runzelte die Brauen und blickte mit einem Anflug von Verärgerung auf die Tür, die ihr Gemahl hinter sich ins Schloss zog. Am liebsten hätte sie die Seide trotzdem sofort gekauft. Allein schon, um Mertyn zu ärgern. Doch sollte sie das Risiko wirklich eingehen?
Stephan bemerkte Lisbeths Verstimmung und lächelte sie aufmunternd an. »Du kannst es dir ja überlegen. Gib mir in ein paar Tagen Bescheid. Ich halte die Seide so lange für dich zurück.«
Lisbeth nickte dankbar. Wie gern würde sie jetzt ihre Mutter um Rat bitten. Denn anders als ihre Schwiegermutter, die nie etwas unternehmen würde, das nicht vollkommen im Einklang mit den Zunftgesetzen stand, war Fygen durchaus bereit, ein Risiko einzugehen, wenn es einen gewissen Erfolg versprach, dessen war Lisbeth sicher.
Unschlüssig nahm sie Fygens Brief wieder zur Hand und las ihn zu Ende. »Sie schreibt nicht, wann sie zurückkommt. Aber lange kann es jetzt nicht mehr dauern.«
Ein kühlender Windhauch strich über die Terrasse der Alqueria und ließ Fygen frösteln. Dabei war es nicht wirklich kühl. Nur nicht mehr so heiß, wie sie es von den vergangenen Abenden gewohnt war, an denen sie hier mit Alejandro gesessen und gespeist hatte. Zweifellos der erste Vorbote des Herbstes, dachte sie betrübt und legte den Löffel beiseite.
Die Alqueria, Alejandros Landhaus, lag von Bäumen beschattet inmitten der Felder an einen Hügel geschmiegt. Das weißgetünchte Gebäude war von großer Strenge und Einfachheit, doch von der Terrasse aus gewährte es einen einzigartigen Blick über die abgeernteten Felder ringsum. Über den Barracos in der Ferne stiegen dünne Rauchfäden auf.
Es war ein wundervoller Sommer gewesen. Voller Liebe und Zärtlichkeit. Am Morgen nach ihrem Ausflug hatte Alejandro ihr Gepäck in die Alqueria bringen lassen. Eckert hatte es vorgezogen, in der Herberge zu bleiben, worum Fygen nicht böse war. Sie konnte verstehen, dass er sich die Zeit lieber in den Tavernen der Stadt vertrieb, als ihr beim Turteln zuzuschauen.
Alejandro hatte ihr Gepäck in eine kleine Kammer im oberen Stockwerk bringen lassen, mit weißgetünchten Wänden und leichten, weißleinenen Vorhängen. Eine schwere Bettstatt aus dunklem Holz stand darin, eine Truhe, und auf einem niedrigen Tisch unter dem Fenster eine Waschschüssel.
Doch Fygen hatte die Kammer nur genutzt, wenn Alejandro in der Stadt geblieben war. Wann immer seine Geschäfte es zugelassen hatten, war er in die Alqueria gekommen. Sie hatten zusammen gespeist und bis in die Nacht miteinander geredet. Fygen hatte von ihm alles über dieses wunderbare Land wissen wollen, seine Bräuche und seine Menschen. Ja, sie hatte sogar die ersten Worte des Valenciano erlernt.
Auch Alejandro wollte, nachdem er seine anfängliche Zurückhaltung abgelegt hatte, alles über seinen älteren Halbbruder, den er nie kennengelernt hatte, erfahren. Fygen erzählte ihm von Peter, von Augusta, von ihren Töchtern und deren Kindern. Sie sprachen auch über die unseligen Verstrickungen, die zum gewaltsamen Tod ihres Vaters und, wie sie nun erfahren hatte, der Flucht seines und Peters Vaters geführt hatten.
»Wie kommt es, dass du so viel von Seide verstehst?«, hatte Alejandro an einem dieser verzauberten Abende, an denen die laue Luft sie liebkoste, wissen wollen.
Ausführlich hatte sie ihm von ihrer Seidenweberei berichtet, von der Leidenschaft, mit welcher sie diese aufgebaut und geführt hatte, bis hin zu jener schrecklichen Nacht, in der sie sich hatte entschließen müssen, sie aufzugeben. Sie erzählte Alejandro von Peters Tod und wie es schließlich dazu gekommen war, dass sie das Faktorenamt der Ravensburger übernommen hatte.
Es waren wundervolle Abende gewesen, die sie gemeinsam verbracht hatten. Abende und Nächte, in denen ihre Leidenschaft sie oft bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten hatte.
An den Tagen, die Alejandro in der Stadt verbrachte, hatte Fygen ausgedehnte Spaziergänge über das Land unternommen und sich die Zeit mit Spinnen vertrieben. Sie hatte viel gelernt über das Leben auf dem Land. Denn die Alqueria diente trotz ihrer Bequemlichkeit nicht dem Vergnügen, sondern war der Mittelpunkt einer straff organisierten Landwirtschaft.
Am Tag nach ihrem ersten gemeinsamen Ausflug hatte Alejandro ihr eine Seidenzucht unweit der Alqueria gezeigt. Doch sie bot keine wirkliche Überraschung. Mit ihren langgezogenen Holzschuppen für die Aufzucht der Seidenspinner glich sie jener, welche Herman einst erfolglos bei Meckenheim hatte anlegen lassen. Freilich mit dem Unterschied, dass hier wirklich Seide gewonnen wurde und dass die sie umgebenden Reihen von Maulbeerbäumen in kräftigem Grün standen.
»Was ist mit dir?«, fragte Alejandro besorgt. »Du hast das Essen ja gar nicht angerührt. Schmeckt es dir nicht?«
»Doch.« Fygen nahm den Löffel wieder auf. An der dampfenden Paella, die Marcos, der Verwalter, ihnen serviert hatte, lag es nicht. Die war hervorragend. Die großen Stücke frischen Hühner- und Kaninchenfleisches hatten den Geschmack und die warme Goldfarbe des Safrans angenommen und lagen in einem Bett aus Bohnen und feinem Reis aus der Gegend um die Albufeira, die große Süßwasserlagune südlich der Stadt.
Fygen hatte heute einfach keinen Appetit. Mit jedem Feld, das abgeerntet wurde, mit jedem Blatt, das sich golden färbte, zeigte ihr das Land um sie her deutlich, dass der Sommer zu Ende ging. Und mit ihm ihr Aufenthalt in Valencia.
Immer wieder hatte Fygen ihre Heimreise hinausgezögert. Hatte nicht darüber nachdenken mögen, dass es nur eine geliehene Zeit war, in der sie und Alejandro lebten. Doch nun gab es keinen Aufschub mehr. Sehr bald schon würde sie reisen müssen, wenn sie Köln erreichen wollte, bevor die Seefahrt wegen der Herbststürme für dieses Jahr eingestellt würde.
Ein Seufzer schlich sich über ihre Lippen, und sie schob den Teller von sich. Wenn sie jetzt nicht reiste, würde sie bis zum April warten müssen, denn erst im nächsten Frühjahr gingen wieder Schiffe nach Norden. Einen unsinnigen Moment lang erwog Fygen den Gedanken, doch sie verwarf ihn bereits im nächsten Augenblick. Viel zu lang schon hatte sie ihren Aufenthalt hier ausgedehnt und die Faktorei in den noch recht unerfahrenen Händen ihres Lehrjungen zurückgelassen.
Überdies wurden ihr allmählich die Tage lang, wenn Alejandro seinen Geschäften nachging. Eine Zeitlang hatte sie das Nichtstun genossen, doch für immer war Müßigkeit ihre Sache nicht. Sie brauchte ihre Arbeit, ihre Aufgabe, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Wie Fygen es auch drehte und wendete, es war an der Zeit, zu reisen und Abschied zu nehmen von der Stadt der Blumen. Und von Alejandro.
Langsam senkte sich die Dämmerung über das Land. Marcos entzündete die Öllichter und stellte eines davon zwischen sie auf den Tisch. Demá – morgen. Morgen würde sie sich um eine Schiffspassage kümmern. Ihre Stimme klang brüchig, als sie fragte: »Nimmst du mich mit, wenn du morgen in die Stadt fährst?«
Alejandro nickte. Das Flackern des Öllichtes spiegelte sich in seinen Zügen. Wortlos griff er über den Tisch und legte seine Hand auf die ihre.
In der Nacht liebten sie sich mit hungriger Verzweiflung, als müssten auch ihre Leiber voneinander Abschied nehmen, als sei dies das letzte Mal, auch wenn ihnen das Schicksal noch eine kurze Frist gewährte. Ein paar Tage noch. Vielleicht eine Woche …
Fygen lag lange wach, schmiegte sich eng an Alejandro und hielt ihn umschlungen, als wolle sich ihr Körper seinen Leib, die Wölbung jedes Muskels, jeden Flecken seiner Haut einprägen, um sich seiner in den kommenden Jahren erinnern zu können.
Erst das eintönige Rauschen des einsetzenden Landregens wiegte sie in einen unruhigen Schlaf.
Der Anblick der zerlumpten Bettlerin, die neben dem Tor zur Wolkenburg im Schmutz der Straße hockte, versetzte Lisbeth einen Stich. Fünf Kinder schmiegten sich an ihre Röcke. Das Jüngste, ein Säugling noch, hatte sie an die ausgemergelte Brust gelegt. Dabei mochte die Frau kaum älter sein, als sie selbst war. Dürr war sie, mit eingefallenen Wangen, und die Knochen der Schlüsselbeine stachen spitz durch den dünnen Stoff ihres Kittels. Die Frau bot einen bemitleidenswerten Anblick. Doch bedauernswerter noch erschienen Lisbeth die Kinder. Ihre hungrig blickenden Augen lagen tief in dunklen Höhlen, musterten argwöhnisch jeden, der des Weges kam.
Wie ungerecht es im Leben zugeht, dachte Lisbeth. Diese Frau hier hat fünf Kinder, und für keines genug zu essen. Mit Erschrecken verspürte Lisbeth, wie ein völlig unsinniger Neid auf die junge Bettlerin in ihr aufstieg. Warum hat sie diese Kinder und nicht ich? Wie gut könnten es dagegen ihre Kinder haben, wenn sie denn welche hätte! Im Haus Zur Roten Tür wäre Platz für ein ganzes Dutzend, und es würde ihr und Mertyn keine Sorge bereiten, sie zu nähren und zu kleiden.
Lisbeth schämte sich für ihre Gefühle, doch sie war ihnen hilflos ausgeliefert. Verlegen griff sie in den ledernen Beutel, der ihr vom Gürtel hing, und kramte nach einer Münze. Einen ganzen Gulden legte sie der Bettlerin in die ausgestreckte Hand. Dann wandte sie sich hastig ab und eilte durch das Torhaus.
Im Hof der Wolkenburg stürmte ein kleines braunes Bündel ausgelassen wedelnd auf sie zu. Lisbeth griff den Welpen am Nackenfell und hob ihn sich auf den Arm. Mit einem leisen Schluchzer drückte sie den warmen Körper an ihre Brust und barg ihr Gesicht in dem weichen Fell.
Hocherfreut über die Zuwendung duldete der Welpe, dass Lisbeth seinen kleinen Körper in ihren Armen wiegte, und leckte die bitteren Tränen fort, die über ihre Hand in sein Fell rannen. Doch nach einer Weile wurde er unruhig und begann, sich zu winden.
Sachte setzte Lisbeth den jungen Hund auf das Pflaster und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. Ein paarmal schöpfte sie tief Luft, um sich zu beruhigen und ihren Gleichmut wiederzuerlangen, dann machte sie sich auf die Suche nach Stephan und Herman. Sie hatte sich entschlossen, ihnen die ganzen fünftausend Pfund Seide abzunehmen, und sie war auch schon mit ein paar Seidmacherinnen einig geworden, die gerne für sie arbeiten würden.
Im Haus war es ungewöhnlich ruhig, und in Fygens Kontor traf sie weder Herman noch Alberto an. Auch Stephan war nirgends zu sehen. Aufgeschlagene Journale lagen auf dem Tisch, darauf eine Feder und ein geöffnetes Tintenfass, als hätten sie ihre Arbeit nur kurz unterbrochen.
Lisbeth ging zurück in die Halle und wollte gerade laut nach ihrem Bruder rufen, als sie im Obergeschoss Stimmen vernahm. Mit gerafftem Rocksaum stieg sie die breit geschwungene Steintreppe hinauf. Der Flur im Obergeschoss war leer, die Flügeltür zum großen Saal geschlossen. Nur auf der gegenüberliegenden Seite, zum Hof hin, fiel ein schmaler Streifen Licht durch einen Spalt in der Tür und zeichnete sein helles Muster auf die honigfarbenen Bodendielen.
Es war die Tür zu Hermans Kammer, erkannte Lisbeth, dem Raum, den er bereits bewohnt hatte, als sie alle noch Kinder waren. Ein dumpfer Laut drang aus der Kammer – Lisbeth erschien es wie ein Stöhnen. Ohne ihren Schritt zu dämpfen, ging sie auf den Lichtstreif zu und öffnete die Tür.
Im Raum schien niemand ihr Eintreten zu bemerken. Auf der Bettstatt, gleich der Tür gegenüber, lagen zwei Menschen in leidenschaftlicher Umarmung. Die Kleider hatten sie von sich geworfen, und ganz so, wie der Herrgott sie geschaffen hatte, erfreuten sie einander.
Lisbeth schrak zurück. Doch bevor sie schamvoll den Blick abwenden konnte, hatte sie bereits den dunklen Schopf von Alberto erkannt und kam nicht umhin zu schmunzeln. Der Luchese war ein anziehender Mann. Mit seinem samtenen Blick aus dunklen, mit langen Wimpern umkränzten Augen mochte er leicht einem Mädchen den Kopf verdrehen. So war also eine der jungen Mägde seinem südländischen Charme erlegen, dachte Lisbeth, aber welche mochte es sein?
Die Neugier besiegte ihre Schamhaftigkeit, und sie riskierte einen zweiten Blick. Die Magd war blond, hatte lockiges Haar. Doch es konnte kaum die Marie sein, denn die war kurz und breithüftig. Die Frau hier jedoch war schlank und groß, hatte kräftige Gliedmaßen und einen muskulösen Körper – bald zu muskulös und zu groß für eine Frau, dachte Lisbeth.
In dem Moment wandte die blonde Magd sich zu ihrem Liebhaber um, und Lisbeth presste die Hand auf den Mund, um nicht laut zu schreien. Es war keine Magd, die sie da in inniglicher Umarmung mit Alberto überrascht hatte. Himmel stehe ihr bei – es war ihr Bruder Herman.
Verdattert starrte Lisbeth auf die Bettstatt, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Doch die beiden Männer nahmen immer noch keine Notiz von ihr. Herman und Alberto – sie machten sich der stummen Sünde schuldig!
Lisbeths Gedanken überschlugen sich. Hatte die beiden eine plötzliche Leidenschaft übermannt? Beide waren unbeweibt. Vielleicht hatten sie sich im Rausch dazu hinreißen lassen.
Heilige Mutter Gottes, lass es nur eine einmalige Verirrung sein, bat Lisbeth. Doch es war offensichtlich, dass dies hier nicht der exzessive Ausgang einer Zecherei war. Es war ein Akt zwischen Liebenden. Herman und Alberto verband mehr als eine Männerfreundschaft, erkannte Lisbeth, weit mehr.
Sie spürte, wie sich ihr die feinen Härchen an den Unterarmen aufstellten, und ihr Gesicht verlor alle Farbe. Jetzt, wo sich Lisbeth ihr gefährliches Geheimnis offenbart hatte, fügte sich alles zusammen wie Steine zu einem Mosaik. Niemand hatte sich je daran gestoßen, dass Alberto in der Wolkenburg wohnte, so wie Herman einst bei ihm auf seinem Landgut in Lucca. Es war nicht ungewöhnlich, dass Gäste, die von weither kamen, ihre Besuche über Jahre ausdehnten, zumal in wohlhabenden Häusern.
War dies der Grund, warum Herman und Alberto Lucca verlassen hatten? Waren sie in Italien verfolgt worden, weil der Herrgott sie mit ihrer unnatürlichen Liebe zueinander geschlagen hatte? Stets waren Alberto und Herman freundschaftlich miteinander umgegangen, nie hatte sie ein harsches Wort zwischen ihnen vernommen. Doch sie wäre nie auf den Gedanken verfallen, dass die beiden wie Mann und Weib zusammenlebten.
Kein Wunder, dass Herman auf ihren Versuch, zwischen ihm und Clairgin eine Ehe zu stiften, so harsch reagiert hatte. Er hatte seine Liebe bereits gefunden, wenn auch auf eine so tragische Weise.
Ein kalter Schauder jagte Lisbeth über den Rücken. Sodomie! Sie wagte kaum, das Wort zu denken. Es war grauenvoll!
Nicht, dass Lisbeth die Sache an sich so entsetzlich fand. Es befremdete sie zwar und es war wider die Natur, doch die beiden taten in ihrer Liebe zueinander ja niemandem etwas zuleide.
Das Schreckliche war, dass Herman und Alberto damit ihren Ruf und womöglich ihr Leben aufs Spiel setzten. Sie waren so leichtsinnig! Wenn man sie dabei erwischen würde, wie sie … Lisbeth mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. Nicht auszudenken, was geschehen mochte, wenn die Sache ruchbar würde.
Unwillkürlich begann Lisbeth zu zittern. Immer noch stand sie wie gebannt im Türrahmen und starrte auf Albertos sehnigen Rücken, als sie plötzlich eine Berührung an ihrer Schulter spürte. Erschreckt fuhr sie herum.
Es war Stephan, der neben ihr in der Düsternis des Flures stand. Hastig zog Lisbeth die Tür zu Hermans Kammer zu. Doch es war bereits zu spät. Über ihren Kopf hinweg hatte Mertyns Bruder genug gesehen, um das Ungeheuerliche zu erfassen.
Angst ergriff Lisbeth, und winzige Tropfen kalten Schweißes traten ihr auf die Stirn. Hermans gefährliches Geheimnis war entdeckt. Bang blickte sie Stephan an. Was würde er tun? Würde er Herman verraten? Wie könnte sie ihn dazu bewegen, Stillschweigen über die Sache zu bewahren?
Doch ihr Schwager schien von dem, was er gerade gesehen hatte, wenig beeindruckt. Kurz hob er den Finger an die Lippen und bedeutete Lisbeth, leise zu sein. Wusste Stephan bereits um das Verhältnis zwischen den beiden, fragte Lisbeth sich. Verwunderlich wäre es nicht, denn schließlich lebte er mit Herman und Alberto unter einem Dach, arbeitete mit ihnen Seite an Seite.
»Komm hier fort, Lisbeth«, flüsterte Stephan sanft, legte beruhigend seinen Arm um ihre Schultern und führte sie fort von Hermans Kammer, die Treppe hinab und in Fygens Kontor.
Als sich die schwere Tür hinter ihnen geschlossen hatte, blickte er seiner Schwägerin ernst in die Augen. »Das muss ein Schreck für dich sein, ich weiß«, sagte er. »Aber du darfst niemandem davon erzählen. Niemandem!«, schärfte er ihr ein. Am besten, du vergisst einfach, was du gesehen hast.«
Lisbeth nickte erleichtert. Hermans Geheimnis war bei Stephan gut aufgehoben. Wie hatte sie auch nur einen Moment an der Loyalität ihres Schwagers zweifeln können?
Trübe dämmerte der Morgen herauf, als wüsste der Himmel um Fygens Traurigkeit. Wie ein grauer Schleier lag die Feuchtigkeit über dem Land, wob sich in Büsche und spannte sich zwischen den Bäumen. Nicht einmal die Orangenbäume sandten ihren Duft zum Geleit, als der Wagen vom Hof der Alqueria rollte.
Dies war nun tatsächlich der Abschied, dachte Fygen bekümmert und warf einen letzten Blick zurück. Sie hatte gerade noch eine Passage erhalten, auf dem letzten Lastschiff, das Valencia vor dem Winter verließ. Morgen bei Sonnenaufgang würde die Nau in See stechen, die westliche Atlantikküste in Richtung Antwerpen hinaufsegeln und sie nach Hause bringen. Fort von hier. Fort von Alejandro … Fygen unterdrückte ein Seufzen. Sie selbst hatte es so gewollt.
Den Weg zur Stadt – sie würden zunächst Eckert mit dem restlichen Gepäck in der Herberge abholen, bevor sie zum Grao hinausfuhren – legten sie schweigend zurück. Nur allzu bald hatten sie das Stadttor passiert und rollten in die Stadt hinein. Fygen achtete nicht auf den Weg, doch irgendwann erkannte sie linker Hand den Turia, der sich wie ein silbriger Wurm durch die Stadt schlängelte.
Sie durchquerten gerade die Quartiere der Handwerker, als Alejandro unvermittelt den Wagen vor einer Toreinfahrt zum Stehen brachte. Das Schlagen der Hufe erstarb, und übrig blieb ein klapperndes Geräusch, das durch das Tor auf die Gasse herausschallte. Zunächst achtete Fygen nicht darauf, doch dann horchte sie auf. Es war das vertraute Klappern eines Webstuhls.
Alejandro half ihr beim Absteigen, und voller Neugier folgte sie ihm durch das niedrige Tor zu dem Werkstattgebäude, das sich im Hof an die rückwärtige Wand des Hauses lehnte.
Alejandro öffnete die Tür und zog Fygen hinter sich her in einen langgezogenen Raum hinein. Im Vergleich zu ihrer Werkstatt in der Wolkenburg war es nur ein unordentlicher Schuppen, zu dunkel und ein wenig muffig, doch es war tatsächlich eine Seidenweberei.
Vier Flachwebstühle standen darin, aber nur an einem wurde gearbeitet. Bei ihrem Eintreten verstummte das Klappern. Mit sichtlicher Mühe erhob sich hinter dem Webstuhl eine magere, von den Jahren gebeugte Frau und trat auf sie zu.
Ganz nah kam sie Fygen und Alejandro, die Augen kurzsichtig zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, und musterte die Besucher. Dann schien sie Alejandro zu erkennen, und ein breites, zahnloses Lächeln glättete die kummervollen Furchen in ihrem Gesicht.
»Senyor de la Vega!«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang, als reibe man Pergament aneinander. Ehrfürchtig ergriff sie Alejandros Hand, und Fygen erkannte die Hoffnung, die sich auf den verwitterten Zügen spiegelte.
»Der Seidmacher ist verstorben«, erklärte Alejandro. »Und seine Witwe ist alt. Allein schafft sie die Arbeit nicht mehr und muss die Weberei verkaufen …«
Fygen spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ihre Glieder fühlten sich mit einem Mal an, als seien sie aus Watte. »… Verkaufen …«, hallten Alejandros Worte in ihrem Kopf wider. »… die Weberei verkaufen …«
Fygens Gedanken wirbelten durcheinander. Sollte sie die Weberei kaufen? Hatte Alejandro sie deshalb hierhergebracht? War das seine Art, sie zu bitten, hierzubleiben? Bei ihm zu bleiben? Unsicher blickte sie zu ihm auf.
In Alejandros Zügen lag Anspannung. Mit seiner rechten Hand hielt er die Linke so fest umfasst, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er spürte, dass sie eine Erklärung erwartete. »Valencia kann sich keines nennenswerten Seidengewerbes rühmen«, hob er umständlich an. »Nicht wie Toledo oder Sevilla. Und das, obwohl man hier Rohseide in Mengen gewinnt …« Alejandro merkte selbst, wie dozierend seine Worte klangen, und er unterbrach sich. Es fiel ihm schwer, das, was er Fygen sagen wollte, in Worte zu fassen. Und das lag beileibe nicht daran, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, sich im Deutschen auszudrücken.
Tief holte er Luft, bevor er fortfuhr: »Aber vielleicht ist es ja an der Zeit, das zu ändern? Hier gibt es mehr Seide, als man …« Abermals brach er ab und verbesserte sich: »… als du bis zum Ende deiner Tage verweben kannst.« Unsicher blickte er Fygen an. Hatte sie verstanden, was er ihr damit zu sagen versuchte?
Ruhig erwiderte Fygen seinen Blick, hörte ihm zu, den Kopf aufmerksam geneigt. Nicht ein Zucken in ihren Zügen verriet ihm, ob sie ihn verstanden hatte.
Alejandro seufzte. Er musste deutlicher werden. »Vielleicht könntest du noch eine Weile bleiben«, fuhr er fort. »Und diese Weberei wieder in Schwung bringen. Du musst es natürlich nicht – nur wenn es dir Freude bereitet. Ich weiß, die Weberei ist nicht besonders schön, etwas rückständig. Doch das lässt sich ändern. Es muss auch nicht diese Weberei sein. Möglicherweise finden wir noch eine andere. Vielleicht gefällt es dir hier irgendwann so gut, dass du ganz hierbleiben möchtest …« Nie war Alejandro so nervös gewesen. Er, der sonst so kühl zu verhandeln pflegte, redete nun in fieberhafter Hast, getrieben von der Angst, sie könne nein sagen. Er wollte nicht, dass sie abreiste. Dass sie so plötzlich aus seinem Leben verschwand, wie sie darin erschienen war.
Alejandro hatte nie geheiratet. Dabei hatte er beileibe nicht gelebt wie ein Mönch. Er hatte nichts gegen Frauen. Er schätzte sie, nur nicht ihre ständige Gegenwart. Wenn sie hübsch waren, dann waren sie zumeist hirnlos, und Alejandro fand ihr andauerndes Geplapper mühsam. Wenn sie jedoch seinen Geist zu fesseln vermochten, gebrach es stets an anderer Stelle.
Nie zuvor war er einer Frau begegnet, deren Gesellschaft er sich des Tages und in der Nacht wünschte, die klug und unterhaltsam zugleich war, und deren Äußeres sein Blut in Unruhe zu versetzen vermochte. So wie diese Frau hier es vermochte, und das, obschon sie ihre Jugend bereits lange hinter sich gelassen hatte.
Ihre Reife war so anziehend, dass er Fygens Jugend nicht vermisste. Obwohl es interessant gewesen sein mochte, das Ungestüm ihrer frühen Jahre erlebt zu haben. Ein letztes Mal schlich sich ein Funken Neid auf seinen Halbbruder Peter in Alejandros Herz, weil jener es hatte erleben dürfen.
Der Blick der alten Weberin glitt aufmerksam von Fygen zu Alejandro und zurück zu Fygen. Sie schien verstanden zu haben, dass es nicht auf de la Vegas Entscheidung ankam, sondern auf die der Frau.
Fygens Blick heftete sich auf die ehedem weißgetünchte Wand hinter Alejandro. Wie gerne würde sie bleiben! Ihr Herz wünschte sich nichts sehnlicher, als bei Alejandro zu bleiben. Aber sie konnte doch in Köln nicht alles hinter sich lassen, ihre Kinder, die Faktorei, die Wolkenburg …
Alejandro missdeutete Fygens Schweigen. Sie schien ihn noch immer nicht verstanden zu haben. Gewöhnlich war er sehr direkt, oft schon zu direkt, wie er an den Reaktionen so mancher Handelspartner hatte ablesen können. Doch heute schien eine nie gekannte Befangenheit von ihm Besitz ergriffen zu haben. Er war einfach nicht geübt darin, über Gefühle zu sprechen.
»Herrgott, Frau!«, platzte es schließlich aus ihm heraus, und er fasste sie heftig an den Schultern. »Weißt du denn nicht, dass ich dich liebe? Bleib gefälligst hier und heirate mich!«
So! Nun war es heraus. Mochte sie damit anfangen, was sie wollte. Sich entscheiden, wie sie wollte.
Fygen war unfähig, zu antworten. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Er liebte sie! Immer noch stand sie da, die Hand um den Holm des Webstuhls geklammert, während ihre Gedanken durcheinanderpurzelten.
Was wartete denn wirklich zu Hause auf sie? Die Töchter waren erwachsen und gut verheiratet. Sie brauchten sie nicht mehr.
Und das Faktorenamt, für das sie sich so gemüht hatte? Etwas schade wäre es darum wohl, dachte Fygen. Gerade jetzt, wo sie mit der Einfuhr allerfeinster Seide aus Almeria all jene Missgünstigen, die da behaupteten, eine Frau könne unmöglich in einem solchen Amt erfolgreich sein, allen voran ihren Eidam Andreas Imhoff, eines Besseren belehrt hatte.
Doch hier in Valencia könnte sie wieder Seidmacherin sein. Fygen liebte die Seide seit jenem lang vergangenen Tag, als sie zum ersten Mal im Seidenkaufhaus unter Riemenschneider zu Köln die Seidenballen betrachtet hatte, die sich in schillernden Farben zu Stapeln türmten. Nie würde die magische Faszination nachlassen, die dieser edle Stoff auf sie ausübte, und sie wusste: Im Grunde ihres Herzens war sie Seidenweberin.
Doch auch das war nicht wirklich von Bedeutung, erkannte Fygen jetzt. Sie würde auch bleiben wollen, wenn es keine Seidenweberei hier für sie gäbe. Denn wichtig war nur eines: Alejandro liebte sie!
Endlich, als sie sicher war, dass ihre Stimme ihr gehorchen würde, fragte sie: »Wie viel verlangt die alte Seidmacherin für die Webstühle?«
Ein Strahlen breitete sich über Alejandros Gesicht, als er den Sinn ihrer Worte erfasste. »Egal, ich biete ihr die Hälfte«, entgegnete er mit befreitem Lachen und ergriff Fygens Hände. »Du bleibst bei mir?«
»Ja, ich bleibe bei dir.«
Die Alte schien begriffen zu haben, dass eine Entscheidung gefallen war, und schenkte ihnen ein zahnloses Grinsen.
»Gira el cap!«, befahl Alejandro ihr knapp. »Schau weg!«
Kichernd legte sich die ohnehin kurzsichtige Weberin die Hände vor die Augen und drehte sich demonstrativ um, während Alejandro Fygen in seine Arme schloss. Die glucksende Antwort der Alten verstand Fygen nicht. Doch das machte nichts. Sie hatte ja den Rest ihres Lebens Zeit, diese wundervolle Sprache zu erlernen.