14.  Kapitel

Das ist meine Base Johanna«, sagte Lisbeths Lehrmädchen Maria und schob ein mageres Ding auf ihre Lehrherrin zu.

Johanna knickste höflich. »Ich möchte mich für Eure Großzügigkeit bedanken«, sagte sie schüchtern, kaum dass Lisbeth ihre Worte vernehmen konnte.

»Von Herzen gern geschehen!«, erwiderte Lisbeth mit einem warmen Lächeln.

Das Mädchen war wirklich erbarmungswürdig dünn. Unter ihrem Hemd stachen spitz die Schulterknochen und Schlüsselbeine hervor. »Möchtest du nicht zum Essen bleiben?«, lud Lisbeth sie ein.

»Gern!« Das Kind strahlte, und seine Wangen glänzten vor Freude, als Maria sie mit sich in die Küche zog.

Lisbeth folgte ihnen und setzte sich zu den Mädchen an den reich gedeckten Küchentisch.

Zwinkernd stellte die Köchin einen Teller saures Kraut vor sie hin, und Lisbeth begann genüsslich zu essen. Es war eine Schande, wie Grete ihre Lehrmädchen behandelte, dachte sie verärgert. Am liebsten hätte sie Johanna aufgefordert, ihre Lehre bei ihr fortzusetzen, aber sie hatte bereits die vier erlaubten Lehrtöchter.

Vielleicht könnte Johanna zu Clairgin gehen, überlegte Lisbeth, die hatte kein Lehrmädchen. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie abweisend Clairgin sich seit ihrem Streit ihr gegenüber verhielt, wenn sie sich durch Zufall begegneten. Nein, Clairgin brauche ich nicht darum zu bitten, dachte Lisbeth, und sie konnte es ihr nicht einmal verdenken. Aber wenn das nächste Lehrmädchen sie verließe, würde sie Johanna sofort zu sich nehmen, beschloss sie.

»… einen schaurigen Geist mit weißem Laken gesehen. Er heulte und jaulte laut. Es war zum Grausen …« Der Satzfetzen drang ungewollt in Lisbeths Bewusstsein, und sie horchte auf.

»Die alte Mettel ist schreiend rausgerannt, auf die Straße, nur im Hemd!«, fuhr Johanna fort, ihrer Base zu erzählen. Sie schien ein wenig von ihrer Befangenheit abgelegt zu haben.

Lisbeth erinnerte sich, dass Apolonia ihr berichtet hatte, Mettel Elner sei verrückt geworden. Das Gespräch der Mädchen schien sich also um diese tragische Geschichte zu drehen. »Kannst du das noch einmal wiederholen«, unterbrach sie das Mädchen.

Johanna verstummte und schlug sich die Hand vor den Mund. Ängstlich blickte sie Lisbeth an. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Vielleicht durften die Mädchen bei Tisch nicht sprechen?

»Könntest du das noch einmal erzählen, ich habe den Anfang nicht mitbekommen«, wiederholte Lisbeth freundlich.

Auch die anderen Mädchen unterbrachen ihr Geplapper und schauten nun mit Spannung auf Johanna. Diese errötete bis in die Haarspitzen und senkte den Blick auf ihren Teller. Stockend begann sie zu berichten: »Also, es war, weil ich solchen Hunger hatte, dass ich vor Magenknurren nicht schlafen konnte. Die Meisterin sperrt des Nachts immer die Tür, die vom Hof in die Küche führt, zu. Und die Werkstatt liegt ja hinten im Hof. Doch ich hatte gesehen, dass sie an diesem Abend vergessen hatte, die Küchentür abzuschließen.« Johanna unterbrach sich und warf Lisbeth einen unsicheren Blick zu. Sie wusste, sie hatte etwas Unrechtes getan, und wenn sie der Frau Ime Hofe davon berichtete, würde diese es vielleicht ihrer Meisterin weitertragen.

Doch Frau Ime Hofes Züge ließen keine Verärgerung erkennen, im Gegenteil. Mitleid und Verständnis lagen darin, als sie Johanna zunickte, mit ihrer Erzählung fortzufahren.

»Ich bin also ins Haus geschlichen, um zu schauen, ob ich in der Küche etwas zu essen finde. Ich hatte schreckliche Angst, dass die Meisterin mich erwischt, aber der Hunger war einfach größer.«

Gebannt lauschten Lisbeth und die Mädchen ihrer Schilderung.

»Und da habe ich es gehört. Es war grauenvoll. Ein lautes Stöhnen und Jaulen. Und etwas rief: ›Jetzt komme ich und hole dich!‹ Immer wieder. ›Jetzt komme ich und hole dich!‹ So gruselig klang es. Vor lauter Angst bin ich unter den Tisch gekrochen. Und dann kam die alte Mettel die Treppe heruntergejagt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.« Johannas Augen waren schreckgeweitet, als erlebe sie die grausigen Geschehnisse der Nacht ein zweites Mal.

Die Mädchen hielten vor Spannung den Atem an.

»Und es war wirklich der Leibhaftige, der sie verfolgte!« Hastig schlug Johanna ein Kreuzzeichen.

Die Köchin und zwei der Mädchen taten es ihr gleich.

»Er hatte ein langes weißes Gewand an und polterte laut hinter ihr die Treppe herunter.«

»Und weiter?«, fragte Maria, ihre Base, atemlos.

»Die alte Mettel ist auf die Straße gestürmt. Im Hemd und ohne Schuhe. Und das bei der Kälte! ›Sie holen mich! Sie holen mich!‹, hat sie geschrien, so laut, dass alle Nachbarn zusammengelaufen sind.«

»Und dann?«

»Dann hat sich der Geist aufgelöst, und plötzlich war die Meisterin da.«

Lisbeth verzog das Gesicht.

»Die Meisterin ist auch auf die Straße gelaufen und hat versucht, die alte Mettel zu beruhigen. Doch die hat nur immer weitergeschrien und um sich geschlagen.«

»Und was hast du gemacht?« Die Mädchen vermochten die Spannung kaum zu ertragen.

Johanna schöpfte tief Luft. »Ich habe die Gelegenheit genutzt und bin ganz schnell zurück in die Werkstatt gelaufen und habe so getan, als schliefe ich.«

Für einen Augenblick saßen alle stumm vor Entsetzen da. Dann begannen die Mädchen alle zugleich durcheinanderzureden.

»Und was ist mit der alten Mettel dann geschehen?«

»Sag, wie ging es weiter?«

»Nun sag schon!«, bestürmten sie Johanna.

»Man hat sie nach Sankt Revilien gebracht, ins Geckenhaus«, antwortete Johanna. Sie schien durch das Interesse der Mädchen sicherer geworden zu sein. »Aber sie hat sich gewehrt wie wild. Dem Tönnis Wichterich hat sie die Nase gebrochen. Vier Männer haben es schließlich geschafft, sie festzuhalten, bis die Stadtwachen kamen. Aber das habe ich nicht selbst gesehen. Das hat man am nächsten Tag erzählt.«

Abermals erhob sich ein aufgeregtes Geplapper unter den Mädchen. Sie vermochten kaum zu glauben, was sie soeben gehört hatten.

Doch Lisbeth hatte etwas an Johannas Erzählung stutzig gemacht. Einen Moment gestattete sie den Mädchen noch ihre Aufregung, dann scheuchte sie sie auf. »Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte sie bestimmt.

Als auch Johanna sich erhob, bat Lisbeth sie: »Könntest du noch einen Moment bei mir bleiben?«

Der furchtsame Ausdruck schlich sich wieder auf Johannas Antlitz, doch sie ließ sich ohne Widerrede auf die Bank zurücksinken.

»Das Poltern, das du gehört hast, als der Geist die Treppe herunterkam. Kannst du dich erinnern, wie es klang?«

Das Mädchen überlegte kurz. »Ein gewöhnliches Poltern, glaube ich. So, als würde jemand mit Trappen die Stiege hinablaufen.«

»Die Füße des Geistes hast du nicht gesehen?«

»Nicht richtig. Es war dunkel im Flur. Aber ich glaube, er hatte Trappen an.«

Lisbeth nickte bedächtig. »Hattest du das Heulen schon vorher gehört?«

Das Mädchen blickte Lisbeth erstaunt an. »Ja! Ein- oder zweimal. Da konnte ich auch vor Hunger nicht einschlafen und bin zur Küche geschlichen. Aber die Tür war abgeschlossen. Und da habe ich es auch schon gehört.«

Lisbeth nickte abermals. »Meinst du, die alte Mettel ist wirklich verrückt?«, wollte Lisbeth wissen.

»So, wie die geschrien hat – ganz sicher!«

»Ja natürlich. Aber ich meine vor dieser Nacht. Ist sie dir vorher schon sonderbar erschienen? Hat sie geschrien und um sich geschlagen?«

Johanna überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.«

»So schnell kann das gehen!«, bemerkte die Köchin, die sich am Herd zu schaffen gemacht hatte.

Lisbeth brummte unwillig. Für ihren Geschmack war es zu schnell gegangen. »Du gehst nicht zu deiner Meisterin zurück!«, entschied sie, ohne das Mädchen gefragt zu haben. »Du bleibst vorerst hier!«

Johanna zuckte furchtsam zusammen. Würde die Frau Ime Hofe sie nun doch bestrafen?

Beruhigend legte Lisbeth ihr die Hand auf die mageren Schultern. »Ich werde eine andere Lehrherrin für dich finden«, erklärte sie freundlich. »Und bis dahin ruhst du dich ein wenig aus. So schmächtig, wie du bist, kannst du ohnehin nicht ordentlich arbeiten.«

Lisbeth konnte richtiggehend sehen, wie sich die Anspannung auf dem Gesicht des Mädchens auflöste und einem dankbaren Lächeln wich, als es den Sinn ihrer Worte erfasste. Sie war sicher, es würde sich eine andere Lehrherrin für Johanna finden. Katharina Loubach oder ihretwegen auch Frieda Medman. Bei allen würde das Mädchen es besser antreffen als bei Grete.

»Richte ihr eine Bettstatt in der Kammer unter dem Dach bei den anderen Mädchen«, wies Lisbeth die Köchin an. Dann wandte sie sich noch einmal an Johanna: »Versprich mir nur eines.«

Das Mädchen nickte eifrig.

»Du darfst vorerst niemandem mehr von deiner Beobachtung erzählen«, schärfte sie ihr ein. »Rede mit keinem darüber! Auch nicht mit den anderen Mädchen.«

»Das verspreche ich Euch!«, antwortete Johanna ernsthaft.

Als die Köchin mit Johanna die Küche verlassen hatte, blieb Lisbeth noch eine Weile am Tisch sitzen. Was sie soeben erfahren hatte, war doch sehr sonderbar und gab ihr zu denken. So recht wollte sie nicht glauben, dass es im Elnerschen Haus spukte, obwohl Johannas Schilderung sehr aufrichtig geklungen hatte.

Wer hätte je gehört, dass ein Geist hölzerne Trappen trug? Es mochte ein sehr menschlicher Geist gewesen sein, der die alte Mettel gejagt hatte. Und wenn es kein Geist gewesen war, dann versuchte jemand, Mettel in den Wahn zu treiben. Doch wer sollte so etwas Widersinniges tun, überlegte sie. Grete? Ihre eigene Tochter?

Zutrauen würde Lisbeth Grete diese Grausamkeit jederzeit, doch was hätte sie davon? Niemand mochte gerne mit der Schande leben, einen Verwandten im Geckenhaus zu haben.

Andererseits jedoch wusste Lisbeth, dass die alte Mettel seit ein paar Jahren nicht mehr arbeitete. Doch nach wie vor kommandierte sie ihre Tochter und die Lehrmädchen herum. Und sie hielt immer noch den Daumen auf den Geldbeutel im Elnerschen Haus. Ohne ihre Zustimmung durfte Grete nicht einmal einen Sack Mehl kaufen.

Ihre Mutter in den Wahnsinn zu treiben wäre für Grete ein geschickter Weg, sich ihrer zu entledigen, überlegte Lisbeth. Sie müsste zwar für deren Unterhalt im Geckenhaus aufkommen, doch Mettels ganzes Vermögen würde ihr zufallen. Aber dass Grete dafür bereit war, die Schande auf sich zu nehmen, bezweifelte sie dann doch.

Seit jedoch der neue Transfixbrief in Kraft war, gäbe es für Grete noch ein weiteres Motiv, fiel Lisbeth ein. Sie durfte nicht länger im Hause ihrer Mutter als Seidmacherin arbeiten. Und dass Mettel ihr Geld gab, um einen eigenen Hausstand zu gründen und eine Weberei einzurichten, war kaum zu erwarten.

Mettels Wahnsinn kam für Grete wirklich zum passenden Moment, dachte Lisbeth. Doch halt! Um die neue Bestimmung im Transfixbrief konnte Grete zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst haben. Oder doch? In Lisbeth keimte ein böser Verdacht. Hatte es bereits Pläne für einen neuen Transfixbrief gegeben, ohne dass Mertyn etwas davon geahnt hatte? Wäre er womöglich auch ohne ihr Zutun entstanden?

Nein, das war wohl zu weit hergeholt, verwarf Lisbeth den Gedanken. Doch ob Grete nun um die neuen Bestimmungen gewusst haben mochte oder nicht, man durfte keinesfalls den Fehler machen, sie zu unterschätzen. Wie schwer wog die Schande gegen Mettels Vermögen und eine eigene Weberei denn wirklich? Mit einem Mal kam Lisbeth die Vorstellung, dass Grete ihre eigene Mutter ins Geckenhaus getrieben hatte, gar nicht mehr so abwegig vor.

Ratlos lehnte Lisbeth sich auf der Bank zurück. Was sollte sie nun mit ihrem Verdacht anfangen? Wenn Mettel tatsächlich verrückt war, dann konnte man nichts dagegen unternehmen. Doch Lisbeth glaubte nicht, dass Mettel verrückt war. Sie war durchgedreht, aber die Schimären, die sie jagten, konnten sie im Geckenhaus nicht erreichen. Womöglich war sie wieder ganz bei Sinnen, saß dort zwischen den Verrückten, und niemand glaubte ihr, dass sie nicht gemeingefährlich war. Lisbeth spürte, wie sich bei der Vorstellung die Härchen auf ihren Armen aufstellten.

Nicht dass sie allzu großes Mitleid mit Mettel hatte. Sie war eine unangenehme, garstige Person, aber ins Geckenhaus gesperrt zu werden hatte auch sie nicht verdient. Nicht, wenn sie nicht wirklich irre war, dachte Lisbeth empört. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten.

Sie würde herausfinden müssen, ob Mettel verrückt war. Doch wenn sie recht behielt und Mettel bei Sinnen war, dann würde sie dafür sorgen, dass man Grete eingehend befragte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das schwor Lisbeth sich.

 

Ein eisiger Wind trieb Lisbeth Tränen in die Augen. Schützend zog sie ihren Mantel enger um sich, doch der Wind drang sogar durch das schwere Wolltuch. Die Pfützen in den Gassen waren von schmutzigem Eis überkrustet, und Lisbeth achtete darauf, auf dem gefrorenen Unrat nicht auszurutschen. Trotzdem beschleunigte sie ihren Schritt, damit ihr wärmer wurde. Kleine Atemwölkchen stiegen von ihrem Mund in den klaren Morgenhimmel, und als Lisbeth schließlich in die Stolkgasse einbog, war ihr endlich warm geworden.

In den Fenstern von Sankt Revilien spiegelte sich die kalte Wintersonne. Bezeichnenderweise lag das Hospital am nördlichen Rand der Stadt, unweit der Weingärten des Stiftes Sankt Ursula und damit fernab der prächtigen Bauten um den Alter Markt und Dom. Denn Siechtum und Tod boten beileibe keinen Anblick, den man den ungezählten Besuchern der Stadt, Händlern wie Pilgern, zumuten mochte.

Und seit Johann Rinck das Kloster mit einer Stiftung von tausend Goldgulden bedacht hatte, war dies noch wichtiger geworden, denn mit dieser großzügigen Spende hatten die Provisoren des Krankenspitals Sankt Revilien einen unbewohnten Beginenkonvent hinter ihrem Hospital zu einem Heim für Sinnlose umgebaut, deren Schreie und Gelärm mitunter in erschreckender Lautstärke auf die Straßen schallte.

Als Lisbeth auf den Kirchhof trat, war von Schreien und Gelärm indes nichts zu hören. Der Kirche gegenüber lagen die Spitalsgebäude, von einer hohen Mauer umfriedet, still inmitten ihrer Gärten. Kaum mochte man glauben, dass dies ein Ort der Krankheit und des Wahnsinns war.

Ein mürrisch dreinblickender Wärter öffnete auf Lisbeths Klopfen hin das schwere Tor.

»Ihr wünscht?«, fragte er gelangweilt.

»Zur Mettel Elner möchte ich.«

»Zur Elnerschen?« Der Mann hob die Brauen bis zum Ansatz seines schütteren Haares. »Da seid Ihr die Erste«, sagte er und musterte sie unentschlossen. »Seid Ihr eine Verwandte?«

»Ja, sie ist die Base meines Oheims«, log Lisbeth.

»Na, wenn Ihr unbedingt wollt«, brummte der Wärter und ließ Lisbeth in den großzügigen Hof treten. »Wir haben sie in eines der Hundehäuschen gesteckt.«

Schlurfenden Schrittes führte er Lisbeth an dem Spitalsgebäude vorbei und quer über den Hof, einem einstöckigen Bau entgegen, der sich am rückwärtigen Ende des Hofes gegen die Mauer lehnte. Rechter Hand erkannte Lisbeth eine kleine Kapelle, hinter der kahle Obstbäume ihre Zweige in den klaren Morgen reckten.

Umständlich öffnete der Wärter die Tür und ließ Lisbeth eintreten. Ein ekelhaft fauliger Gestank schlug ihr entgegen und nahm ihr den Atem. Lisbeth spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Sie schluckte ein paar Mal trocken und versuchte, ihren Ekel zurückzudrängen. Von der Helligkeit draußen geblendet, konnte sie in dem großen Raum zunächst nichts erkennen. Doch als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entfuhr ihr ein Laut des Entsetzens.

Das flackernde Licht des Kamins in der Ecke des Raumes erhellte einen grauenvollen Anblick. Auf den Bänken ringsum der unverputzten Wände hockten abgerissene Kreaturen – manche lagen mehr, als sie saßen –, und auch im niedergewälzten Stroh auf dem Boden kauerten ein paar der bedauernswerten Gestalten. Ihre Kittel starrten vor Dreck, und man hatte ihnen die Haare geschoren. Lisbeth spürte ihre stumpfen Blicke auf sich gerichtet, und sie getraute sich kaum, in die vom Wahn verwüsteten Gesichter zu blicken.

Eine Frau in mittleren Jahren schlug monoton die Handflächen aneinander, ohne Unterlass, wieder und wieder. Eine andere, weit älter an Jahren, lag auf dem Boden an die Wand gekauert, Arme und Beine wie ein Säugling an sich gezogen, die Hände wie zum Schutz über dem Kopf gefaltet.

»Juhuääääää!«, jaulte jemand plötzlich auf, und Lisbeth fuhr zusammen. Ein Mann mit dem gebeugten Körper eines Greises hatte die Nase der niedrigen Decke zugewandt und heulte wie ein Hund. Dabei wirkte sein aufgedunsenes Gesicht jung und unschuldig wie das eines Kindes.

»Die da sind harmlos«, murmelte der Wärter, wies in Richtung der Kranken und schickte sich an, in den Gang zu treten, der rechter Hand von dem Raum abging.

In dem Moment glitt einer der armen Wichte von der Bank und hockte sich mitten in den Raum. Er hob seinen Kittel, entblößte sein Hinteres und begann seelenruhig seine Notdurft in das Stroh zu verrichten. Mit einem Satz war der Wächter bei ihm und packte ihn im Nacken. Grob riss er ihn auf die Beine und schob ihn mit Nachdruck durch die Tür ins Freie, den Latrinen zu, damit er dort sein Geschäft erledige.

Plötzlich hörte Lisbeth ein Rascheln neben sich im Stroh, spürte, wie eine Hand nach ihren Beinen griff und wie jemand versuchte, sich an ihr hochzuziehen. Ihr entfuhr ein Schrei, und sie wich entsetzt zurück. Ihres Halts beraubt, sank die elende Gestalt jämmerlich zurück auf die schmutzigen Halme.

Trotz des Gestanks zwang Lisbeth sich, die verfaulte Luft tief ein- und auszuatmen, um sich zu beruhigen. Am liebsten wäre sie einfach davongerannt. Es war so unsagbar schrecklich an diesem Ort. Und das Schlimmste stand ihr noch bevor.

Warum war sie nur hergekommen, fragte Lisbeth sich. Was hatte sie mit der alten Mettel zu schaffen? Und warum nur war sie allein gekommen? Sehr viel hätte sie darum gegeben, wenn Clairgin jetzt bei ihr wäre und ihr zur Seite stünde. Doch sie konnte immer noch umkehren und nach Hause gehen.

Nein, entschied Lisbeth und straffte die Schultern. Sie hatte sich die Sache nun einmal in den Kopf gesetzt, und nun musste sie sie auch durchstehen.

Dankbar bemerkte sie, dass der Wärter endlich vom Hof zurückkehrte, und folgte ihm in den Gang hinein. Zu beiden Seiten des schmalen Flurs gingen je vier massive Holztüren ab, gesichert mit schweren eisernen Riegeln.

In den Türen befanden sich Klappen, von denen der Wärter nun eine anhob. Lisbeth erhaschte einen Blick in die schmale Kammer. Auf einer dünnen Schicht faulenden Strohs erkannte sie eine abgezehrte Gestalt, deren Fuß mit einem Lederriemen an einen eisernen Ring gebunden war, den man in die Wand eingelassen hatte. Völlig nackt lag die Frau auf dem eisigen Boden. Lisbeth erschauerte.

»’tschuldigung, falsche Tür«, knurrte der Wärter. Dann bemerkte er Lisbeths Erschrecken. »Lohnt sich nicht, die anzukleiden«, erklärte er. »Die reißt sich die Sachen eh gleich wieder vom Leib.« Mit einem Krachen schlug er die Klappe zu und trat zur nächsten Tür. Er warf einen kurzen Blick durch die Luke und nickte zufrieden. »Hier, das ist sie«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um Lisbeth einen Blick auf die Insassin der Zelle zu gewähren.

Lisbeth winkte ab. »Öffnet mir die Tür!«

Verblüfft starrte der Wärter sie an. »Ihr wollt da hinein? Seid Ihr sicher?«, fragte er. »Die in den Hundehäusern sind gefährlich, die sperren wir nicht umsonst weg.«

»Ganz sicher!«, beschied Lisbeth ihm, bemüht, ihrer Stimme mehr Zuversicht zu verleihen, als sie tatsächlich empfand.

»Na gut. Aber beklagt Euch nachher nicht bei mir, wenn sie Euch etwas zuleide tut.«

Lisbeth nickte und wappnete sich innerlich gegen das, was sie nun erblicken mochte.

Der Wärter schob den Riegel von der Tür, und Lisbeth machte vorsichtig einen Schritt in die Zelle hinein.

Der Länge nach ausgestreckt lag die alte Mettel auf dem Stroh, und, wie Lisbeth es bei der nackten Frau gesehen hatte, auch ihr Fuß war mit einem stabilen Lederriemen gebunden. Auf dem Boden, unweit von Mettels Füßen, stand eine Eisenpfanne, in der die Reste einer Mahlzeit faulten. Zwei fette Ratten taten sich daran gütlich.

Bei Lisbeths Eintreten fuhr Mettel auf und blinzelte sie aus kleinen Augen an. Die große Frau war sichtlich abgemagert. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Haut hing lose unter ihrem Kinn. Wenn Lisbeth ihr an einem anderen Ort begegnet wäre, hätte sie sie kaum wiedererkannt. Mettel trug keine Haube, und Lisbeth sah, dass ihr der Kopf vom Bartscherer rasiert worden war.

Doch das Mundwerk hatte man der Alten nicht gestutzt. »Wer ist da?«, fragte sie barsch. Ihr Augenlicht schien deutlich nachgelassen zu haben, doch ihre Stimme hatte nicht an Kraft verloren.

Lisbeth schluckte.

»Lisbeth Ime Hofe«, sagte sie, um Freundlichkeit bemüht.

»Ime Hofe!« Mettel spuckte den Namen förmlich aus. »Wenn du gekommen bist, um mich zu verhöhnen, dann kannst du gleich wieder abhauen!«, keifte sie und kam schwerfällig auf die Beine. Drohend baute sie sich vor Lisbeth auf, die Arme in die Hüften gestemmt.

Lisbeth verspürte einen heftigen Stich im Unterleib, doch sie achtete nicht darauf. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um nicht vor Mettel zurückzuweichen. Die Alte war garstig, aber das war sie immer gewesen.

»Wie geht es Euch?« Lisbeth suchte in der Frage Zuflucht, die man gewöhnlich bei Krankenbesuchen stellte.

»Mir? Großartig, das siehst du doch!« Mettels Stimme troff vor Hohn. »Das Quartier ist sehr komfortabel, die Mahlzeiten erlesen. Nur ein wenig eintönig ist es hier, und du könntest mir ein warmes Bettjäckchen bringen.« Mettel schnaubte böse. »Herrgott, was willst du hier?«, herrschte sie und funkelte Lisbeth böse an.

Das war ganz die alte Mettel. Unfreundlich wie ehedem. Doch Lisbeth konnte an ihr keine Spur von Wahnsinn entdecken. Auch an ihrem Blick war nichts Irres. Mit den stumpfen Gestalten, die Lisbeth in dem großen Raum gesehen hatte, hatte sie nichts gemein. Sie gehörte nicht hierher.

»Ihr seid nicht irre«, stellte sie laut fest.

»Nein, bin ich nicht!«, giftete Mettel. »Aber wenn ich noch länger hier drinnen bleibe, dann werde ich es!«

Lisbeth biss sich auf die Lippe.

»Doch diese Verrückten hier drinnen glauben es mir einfach nicht. Angekettet wie einen bissigen Hund haben sie mich! Die Wächter hier sind noch irrer als die Insassen! Und einen Saufraß bekommt man hier vorgesetzt!«, zeterte sie und trat voller Abscheu gegen die Eisenpfanne, dass es schepperte. Erschrocken stoben die Ratten davon. Der Wärter vor der Tür ließ ein deutliches Räuspern vernehmen.

Lisbeth hatte genug gesehen und wandte sich grußlos ab. Was sollte man einem Menschen in dieser Lage auch wünschen?

»Vergiss das Bettjäckchen nicht«, höhnte Mettel, als der Wärter die Tür hinter Lisbeth verriegelte.

Gesenkten Blickes eilte Lisbeth den düsteren Gang entlang, und ohne die Kranken noch einmal anzusehen, trat sie in den Hof. Dankbar sog sie die klare Winterluft ein und machte sich, aufgewühlt von dem, was sie im Geckenhaus gesehen und gehört hatte, auf den Heimweg.

So habe ich mit meiner Vermutung recht behalten, dachte Lisbeth grimmig. Mettel ist ganz und gar nicht verrückt. Heute noch würde sie dafür sorgen, dass man Mettel aus Sankt Revilien entließ und Grete eingehend zu den Vorgängen befragte, beschloss Lisbeth. Dann würde sich zeigen, ob Grete tatsächlich versucht hatte, sich ihrer eigenen Mutter auf so grausame Weise zu entledigen.

Und wenn es so war, wovon Lisbeth nun ausging, dann würde man sie für ihre Schandtaten zur Rechenschaft ziehen. Diesmal würde sie nicht ungeschoren davonkommen! Es war an der Zeit, dass man Gretes Boshaftigkeit, die nicht einmal vor der eigenen Mutter haltmachte, einen Riegel vorschob.

In Gedanken versunken passierte Lisbeth die Goldwaage und hatte gerade Unter Spormacher erreicht, als ihr plötzlich ein scharfer Stich in den Unterleib fuhr. Der Schmerz kam überraschend und war so heftig, dass Lisbeth sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Beinahe im selben Moment spürte sie, wie ihr etwas Feuchtes die Beine hinablief und ihre Strümpfe durchweichte. Blind tastend suchte sie Halt an einer Hauswand und krümmte sich zusammen.

Das Kind! Sie verlor ihr Kind! Der Gedanke erfüllte sie vom Kopf bis zu den Zehen mit grausiger Kälte. Um sie herum verloren alle Dinge ihre Farbe, nahmen ein schmutziges Grau an. Nein! Das durfte nicht sein! Lisbeth schlang schützend die Arme um den Leib, Tränen der Verzweiflung rannen ihr über das Gesicht.

Nach Hause! Sie musste so schnell wie möglich nach Hause gehen, dachte sie. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

Keuchend richtete Lisbeth sich auf und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es war nicht mehr weit bis zur Obermarspforte, doch die Pein machte ihr das Gehen beinahe unmöglich. Abermals krümmte sie sich vor Schmerz zusammen, hätte sich am liebsten auf den gefrorenen Boden der Straße gelegt, bis der Schmerz nachließ. Doch sie wusste, sie musste weitergehen. Mühsam, Schritt für Schritt, schleppte sie sich voran, und nach einer Weile verlor der Schmerz ein wenig von seiner Schärfe.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie schließlich das Haus Zur Roten Tür erreichte. Schwer schleppte sie sich die wenigen Stufen hinauf, und als sie die Tür aufstieß, troff ihr das Blut bereits auf die Schuhe.

Mertyn eilte ihr aus seinem Kontor entgegen. »Mein Gott, Lisbeth! Was ist geschehen?«, rief er entsetzt, als er das Blut sah.

Lisbeths Gesicht war kreidefarben. Unfähig, zu antworten, taumelte sie auf Mertyn zu. Es gelang ihm gerade noch, seine Frau aufzufangen, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Auf seinen Armen trug Mertyn Lisbeth in ihre Kammer und blieb bei ihr, bis man die Hebamme geholt hatte. Doch dann verzog sich der Hausherr in sein Kontor. Das hier war Sache der Frauen. Dabei hatte er nichts zu suchen.

So plötzlich der Schmerz und die Blutung begonnen hatten, so jäh ließen sie auch nach. Die Hebamme untersuchte Lisbeth gründlich, dann schüttelte sie teilnahmsvoll den Kopf. »Da ist nichts zu machen«, sagte sie. »Ihr habt Euer Kind verloren.«

Lisbeth schluckte, bemüht, die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen stiegen.

»Ihr seid noch jung, Ihr werdet andere Kinder haben«, tröstete die Wehmutter und tätschelte ihr die Wange. »Ruht Euch aus, bleibt eine Weile im Bett und erholt Euch«, ordnete sie an. »Dann wird es schon wieder werden. Wer ein Mal schwanger wird, der wird es auch ein zweites Mal.«

Als sie schließlich allein in ihrer Kammer lag, konnte Lisbeth ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Hoffnungslos rannen sie ihr die Wange hinab und sickerten in die Kissen. Die aufmunternd gemeinten Worte der Hebamme vermochten Lisbeth nicht zu trösten. Sie hatte auch schon gehört, dass Frauen nach einem Missfall einen weiteren hatten. Oder dass sie nie wieder empfingen. In ihr war nur ein einziger Gedanke: Sie hatte ihr Kind verloren!

Ihr alter Kummer, die Enttäuschung über ihre Kinderlosigkeit, die sie jahrelang fest in einen Winkel ihres Herzens verbannt hatte wie einen Geist in die Flasche, war mit Macht aus seinem verkorkten Gefängnis entkommen und drohte sie zu überwältigen.

Lisbeth wollte nicht an das Kind denken. Das Kind, das sie hätte haben können. Sie wollte sich nicht die Frage stellen, warum? Warum gerade sie ihr Kind verlor. Wollte nicht über Gerechtigkeit nachdenken.

Natürlich war es nicht gerecht! Jahre hatte es gedauert, bis sie überhaupt schwanger geworden war, und dann verlor sie ihr Kind in den ersten Wochen. Da wäre es gnädiger gewesen, sie wäre erst gar nicht in Umstände gekommen! Doch Gnade konnte man sich nicht aussuchen. Man durfte nur darauf hoffen, sie geschenkt zu bekommen.

Über all das wollte Lisbeth nicht grübeln. Nicht jetzt. Es war geschehen, und keine Macht der Welt konnte daran etwas ändern. Diese Gedanken schmerzten Lisbeth weit schlimmer als die Krämpfe, die sie gepeinigt hatten.

Wie einem Ertrinkenden das rettende Ufer, blitzte ihr plötzlich der Gedanke an die alte Mettel in Sankt Revilien auf, und beinahe dankbar klammerte sie sich daran, denn er lenkte sie von ihrer Verzweiflung ab. Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub! Sie musste dafür sorgen, dass man Mettel aus dem Geckenhaus entließ und dass Grete ihre gerechte Strafe erhielt. Entschlossen richtete Lisbeth sich auf ihrer Bettstatt auf und rief nach ihrer Magd. Sie wünsche umgehend ihren Gemahl zu sprechen.

Mertyn unterbrach seine Wanderung, die ihn in seinem Kontor vier Schritt dem Fenster zuführte, dann wieder die gleichen vier Schritt zurück zur Tür. Abwesend schenkte er sich etwas Wein in einen Becher. Er hatte gar nicht gewusst, dass Lisbeth in Umständen war. Dabei hätte sie doch außer sich sein müssen vor Freude. Doch davon hatte er ebenfalls nichts gemerkt, dachte er ein wenig schuldbewusst.

Nun, er war ein vielbeschäftigter Mann. Dreimal in der Woche musste er an den Ratsversammlungen teilnehmen, und seine Geschäfte konnte er derweil nicht vernachlässigen.

Warum hatte Lisbeth ihm nicht gesagt, dass sie ein Kind erwartete? Wusste sie denn nicht, wie sehr auch er sich Kinder wünschte?

Mertyn blickte auf, als es an die Tür des Kontors klopfte: Er möge doch sogleich zu seiner Gemahlin kommen. Besorgt hastete er die Treppen hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ging es Lisbeth schlechter, fragte er sich bange. Als er sie vorhin auf ihrer Bettstatt niedergelegt hatte, war sie doch bereits wieder bei Bewusstsein gewesen.

Zu Mertyns grenzenloser Erleichterung fand er seine Gemahlin aufrecht im Bett sitzend. »Lisbeth! Gott sei es gedankt!« Aufatmend ließ er sich auf der Kante ihrer Bettstatt nieder und schloss sie in die Arme. »Du darfst nicht traurig sein«, flüsterte er, bemüht, seine eigene Enttäuschung zu verbergen.

Doch seine tröstend gemeinten Worte erreichten bei Lisbeth das Gegenteil. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte jetzt kein Mitleid. Das machte alles nur schlimmer. »Mertyn, ich muss …«, hob sie an.

»Scht! Du musst dich jetzt ausruhen und gesund werden. Und wenn du wieder bei Kräften bist …«

»Aber …«, unterbrach Lisbeth ihn.

»Nichts aber! Ich bin sicher, wir werden noch Kinder bekommen! Einen ganzen Stall voll, du wirst sehen!« Mertyn gab sich Mühe, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.

»Mertyn, hör mir zu!«

Lisbeths energischer Tonfall ließ ihn aufhorchen.

»Ich war in Sankt Revilien!«

»Wo warst du?« Entsetzt starrte Mertyn seine Frau an. Redete sie im Fieberwahn?

»In Sankt Revilien«, wiederholte Lisbeth.

»Was, um Himmels willen, hattest du dort zu suchen?«

»Ich habe die alte Mettel besucht.«

»Lisbeth, du bist krank!« Besorgt legte Mertyn ihr die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob sie erhitzt war.

»Nein, Mertyn. Hör mir zu. Es ist wichtig!«, widersprach Lisbeth eindringlich. In ruhigen Worten erzählte sie ihm von der Beobachtung des Elnerschen Lehrmädchens und schilderte ihren grauenvollen Besuch im Geckenhaus.

Zweifelnd zunächst, dann jedoch mit wachsendem Staunen lauschte Mertyn Lisbeths Worten. Ihre Stimme war fest, und ihm wurde bald klar, dass seine Frau vollständig bei Sinnen war und man es hier möglicherweise mit einem bösen Verbrechen zu tun hatte.

Als Lisbeth geendet hatte, ließ sie sich ermattet in die Kissen zurücksinken. »Unternimm etwas dagegen«, bat sie ihren Gemahl. »Zeige Grete beim Rat an.«

Zärtlich strich Mertyn ihr eine tränenfeuchte Strähne aus dem Gesicht. »Das werde ich«, versprach er. »Da kannst du sicher sein. Aber nur, wenn du dich jetzt ausruhst und schnell gesund wirst.«

 

»Werte Frau Mutter!« Lisbeth setzte die Worte schwungvoll auf das Blatt, dann nahm sie noch einmal Fygens Brief zur Hand und überflog die ersten Absätze. Erneut griff sie zur Feder. »Es freut mich, zu lesen, dass Ihr und Euer Gemahl wohlauf seid und Euch bester Gesundheit erfreut«, schrieb sie. »Ich selbst bin eben erst von einem Missfall genesen, der mich eine Weile ans Bett gefesselt hat.«

Für einen Moment hielt sie inne. Ausführlich vermochte sie nicht über den schmerzlichen Verlust ihres Kindes zu berichten – zu quälend waren die Erinnerungen –, und überdies würde sie ihre Mutter nur beunruhigen. Bedächtig strich Lisbeth sich mit dem weichen Flaum der Feder über den Handrücken und überlegte sich die nächsten Sätze.

»Hier hat sich eine Geschichte zugetragen, die Ihr kaum glauben mögt: Grete Elner hat ihre Mutter ins Geckenhaus gebracht …«, fuhr sie schließlich fort und berichtete Fygen in kurzen Sätzen von Gretes Schandtaten und ihrem Besuch bei Mettel in Sankt Revilien.

»… Der Rat handelte schnell«, schrieb sie. »Auf Mertyns Eröffnung hin befragte man Mettel und kam zu dem gleichen Schluss wie ich: Die alte Mettel ist nicht verrückt!

Grete muss völlig außer sich geraten sein, als die Büttel sie in ihrer Werkstatt verhafteten und vor den erschreckten Augen ihrer Lehrmädchen aus dem Haus zerrten. Sie muss geschrien und getobt haben, doch angesichts der strengen Befragung, die man ihr androhte, gab sie ihren Widerstand bald auf und gestand ihre Missetat: Wieder und wieder hatte sie ihrer Mutter des Nachts den Schlaf geraubt, hatte vor deren Kammertür schaurig geheult und ihr mit verstellter Stimme Grausiges angedroht, um sie in den Wahn zu treiben.

Zuletzt hatte sie sich gar ein Laken über den Kopf gezogen und war in Mettels Schlafkammer erschienen, um ihre Mutter glauben zu machen, ein Geist verfolge sie. Für achtundzwanzig Tage sperrte man Grete bei Wasser und Brot in den Frankenturm, einen für jeden Tag, den Mettel in Sankt Revilien hatte zubringen müssen.«

Lisbeth ließ die Feder sinken. Fast vermeinte sie das schelmische Schmunzeln ihrer Mutter zu sehen, wenn sie diese Zeilen las.

»Mettel wurde natürlich alsbald aus dem Geckenhaus entlassen, doch Sankt Revilien ist ihr nicht gut bekommen. Sie ist ja schon eine alte Frau. Ihre Gesundheit hat dort gelitten, und kurz nachdem Grete aus dem Turm gelassen wurde, brachte sie Mettel dazu, ihr die Weberei zu überschreiben. Mit welchen Drohungen sie das nun wieder erreicht hat, will ich gar nicht wissen.

Die alte Mettel hat sich auf das Altenteil zurückgezogen. Doch Ihr kennt sie ja. Bis heute will sie es nicht wahrhaben, dass es ihre eigene Tochter war, der sie ihren Aufenthalt in Sankt Revilien zu verdanken hat. Wenn die Rede darauf kommt, nimmt sie Grete in Schutz, wie sie es immer getan hat, und schimpft bitterlich über die anmaßenden Ratsherren, die ihre unschuldige Tochter völlig grundlos in den Turm gesteckt hätten.«

Lisbeth legte die Feder aus der Hand und nahm einen Schluck Wein. Dann tauchte sie die Feder erneut in das Tintenglas und strich sie sorgfältig ab, bevor sie fortfuhr zu berichten: »Meinem Gemahl geht es gut, er lässt Euch respektvoll grüßen. Wie stets arbeitet er sehr viel und kommt gewissenhaft seiner Aufgabe als städtischer Ratsherr nach.«

Lisbeth seufzte. In ihren Augen kam Mertyn seinen Verpflichtungen nur zu gewissenhaft nach. All seinen Verpflichtungen – mit Ausnahme der eines Ehemannes. Nachdem der neue Transfixbrief verabschiedet war, hatte Mertyn sich anderen Fragen der städtischen Verwaltung zugewandt. Doch anders als über die Seidenweberei pflegte er sich darüber mit ihr nicht zu besprechen. Wie früher saß er bis tief in die Nacht im Kontor über seinen Büchern und kam zumeist erst in die Schlafstube, wenn sie bereits schlief.

Ergeben zuckte Lisbeth mit den Schultern. So war nun einmal sein Naturell. Lisbeth hätte es sich zwar anders gewünscht, doch so war es allemal besser, als wenn Mertyn faul wäre und bis nachts im Bierzapf säße wie der Mann von Stina Lommerzheim. Es nutzte nicht, zu klagen, gerade ihrer Mutter gegenüber nicht. Denn ihr Vater war nicht anders gewesen.

Mochte da ein Zusammenhang bestehen, fragte Lisbeth sich. Schon von Jugend an hatte Mertyn sich Peter Lützenkirchen als Vorbild auserkoren.

»Auch von Agnes und Sophie und Hans soll ich recht schön grüßen«, fuhr Lisbeth fort zu schreiben. »Es hat uns erfreut, zu hören, dass Ihr nunmehr acht Lehrmädchen und vier Helferinnen beschäftigt. Eure Seidenweberei scheint zu gedeihen. Nicht dass Ihr uns binnen Jahresfrist in Antwerpen auf der Messe den Rang ablauft!

Auch Stephan sendet Euch seine Grüße. Wann immer ich ihn sehe, ist er sehr eifrig bei der Arbeit. Doch das zu hören dürfte Euch nicht überraschen, denn Ihr steht ja mit ihm in Korrespondenz.«

Mit guten Segenswünschen für Fygen und ihren Gemahl beendete Lisbeth den Brief, streute Sand auf das Papier, der die überschüssige Tinte aufsaugen sollte, und faltete das Blatt. Wenn sie den Brief heute noch in die Wolkenburg brachte, würde Stephan dafür Sorge tragen, dass der Fuhrknecht, der Köln morgen mit einer Lieferung Wein in Richtung Brabant verließ, ihn einen Teil der Strecke mitnahm.