11. Kapitel
Der Morgen hatte sich erst gar nicht die Mühe gemacht, zur Gänze heraufzudämmern. Immer noch lastete das drückende Wetter, und es schien, als habe die Stadt aufgehört zu atmen und verharre reglos in der Erwartung drohenden Unheils.
Das Wetter konnte einen wirklich verrückt machen, dachte Herman. Auf dem Weg zurück vom Lagerhaus am Rheinufer waren ihm nur wenige Menschen begegnet. Umso mehr verblüffte ihn die schreiende Gestalt, die ihm entgegengeeilt kam, als er eben durch das Tor der Wolkenburg treten wollte. In höchsten Tönen kreischend und wie wild mit den Armen fuchtelnd, rannte der schmalbrüstige Mann an Herman vorbei.
Den da hat es schon erwischt, dachte Herman. Dann erkannte er Seger Sydverwer. Jeder kannte den seltsamen Vogel, von dem es unter der Hand hieß, er schlafe ebenso gerne bei einem Manne wie bei einer Frau. Armes Schwein, dachte er, während Seger immer noch kreischend in die Gasse hinausstürmte. »An den Zerss! An den Zerss hat er mir gefasst!«
Überrascht blieben die wenigen Passanten stehen und blickten Seger nach, der einem aufgescheuchten Huhn gleich die Cäcilienstraße hinunterjagte.
Kopfschüttelnd trat Herman in sein Kontor. »Was wollte denn Seger bei uns?«, fragte er Alberto, der an einem Arbeitstisch über die Bücher gebeugt saß.
»Keine Ahnung«, antwortete dieser. »Er kam rein und fragte nach dir. Als ich sagte, du seiest außer Haus, begann er laut zu schreien und mit den Armen zu fuchteln. Dann rannte er davon, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.«
»Was für ein Irrer!«, brummte Herman.
Hätte er gewusst, dass der Irre den direkten Weg zum Domhof einschlug, hätte er Segers Erscheinen in der Wolkenburg niemals mit einem Schulterzucken abgetan.
Der Greve betrachtete Seger mit unverhohlener Abscheu, als hätte er ein widerliches Getier vor sich. »Mann, reißt Euch zusammen und sagt, was Ihr zu sagen habt!«, grollte er. »Ihr wart also in der Wolkenburg?«
»Jaha«, bestätigte Seger.
»Und was hattet Ihr dort zu schaffen?«
»Ein Fass Vitriol …«
Der Greve winkte ab. »Und weiter?«
»Der Herr Lützenkirchen war nicht da, nicht wahr? Aber der andere, der Luchese war da!« Seger rollte wild mit den Augen.
»Was für ein Luchese?«
»Na der … der …« Seger wand sich. »Na der Poussierstengel von dem Lützenkirchen.«
Streng blickte der Greve Seger an.
»Er ist Seidenzüchter und wohnt in der Wolkenburg beim Lützenkirchen«, erklärte Seger.
»Wir sprechen hier von dem gnädigen Ratsherrn Herman Lützenkirchen?«, vergewisserte sich der Greve.
»Von ebendem.« Seger nickte eifrig.
»Ihr spracht also mit dem Luchesen …«, nahm der Greve den Faden wieder auf.
»Sprechen wäre zu viel gesagt! Den Hosenriemen aufgebunden hat er, kaum dass er mich gesehen hat.« Seger bemühte sich, gerechte Empörung in seine Stimme zu legen.
Der Greve war sichtlich betroffen. Angewidert nickte er, Seger möge fortfahren.
»Dann hat er den Arm um mich gelegt, in ganz offensichtlicher Absicht.«
Und ich wette, ausgerechnet du hast sicherlich nichts dagegen gehabt, dachte der Greve. Der Ekel in seinem Gesicht wuchs. »Und dann?«
»Dann hat er sich an meinem Hosenriemen zu schaffen gemacht!« Segers Stimme erklomm ungekannte Höhen. »Er hat mir an den Zerss gefasst!« Aufgeregt fuchtelte Seger mit den Armen. »Seinen Zerss wollte er mir in den A…«
»Ich muss doch bitten!« Der Greve war pikiert. Nur gut, dass diese Befragung hinter verschlossenen Türen stattfand. »Was geschah dann?«
»Ich hab mich losgemacht und bin davongerannt«, rief Seger entrüstet. »Eingesperrt gehört der! Eingesperrt!«, kreischte er.
Was für ein Irrer, dachte nun auch der Greve und war sich darin mit Herman einig. Doch versuchte Vergewaltigung war ein schweres Vergehen. Er musste Segers Anschuldigungen ernst nehmen, auch wenn er diesen Vogel am liebsten gleich mit eingesperrt hätte.
Doch zuvor, so beschloss er, würde er Seger ein wenig auf den Zahn fühlen. »Wir werden Euch dazu eingehender befragen müssen«, sagte er und bedachte sein Gegenüber mit einem vielsagenden Blick. Gebieterisch hob er die Hand, um die Büttel herbeizuwinken, die an die Wand gelehnt bereitstanden.
Sogleich verstummte Segers Gekreisch. In seltsam grotesker Weise verdrehte der Färber die Arme miteinander und legte die Handflächen ineinander. Sein ohnehin blasses Gesicht verlor alle Farbe. »Es ist, wie ich sage«, heulte er, setzte den rechten Fuß verdreht neben den linken und presste die Knie gegeneinander. »Wär ich sonst so blöd, hierherzukommen?«
Der Greve warf einen verächtlichen Blick auf die schlotternde Gestalt des Seidfärbers. Blöd war der Kerl, dessen war er sicher. Aber auch viel zu feige, als dass er hier auftauchen und falsches Zeugnis ablegen würde, entschied er.
Wie wild hieben die Fäuste des jungen Burschen gegen das rote Tor. Lisbeth öffnete selbst, und in der hereinbrechenden Dämmerung benötigte sie einen Moment, bis sie Jost erkannte.
Der jüngste Knecht der Wolkenburg war sichtlich außer Atem. Mit einer Hand stützte er sich am Pfosten des Tores ab und hielt sich mit der anderen die schmerzende Seite. Es schien, als sei er den ganzen Weg von Sankt Cäcilien bis hierher gerannt.
»Hilda schickt mich!«, stieß er hervor. »Ich soll Euch sagen, man hat den Herrn Alberto verhaftet und in die Hacht gebracht!«
Lisbeth gab einen erstickten Laut von sich und griff sich an die Kehle.
»Alberto? Sieh an!«, brummte Mertyn, der eben hinzutrat. »Mit dem hat sich Herman anscheinend einen rechten Floh in den Pelz geholt. Ich hab ihm noch nie getraut. Keiner weiß genau, woher …«
Die letzten Worte ihres Mannes erreichten Lisbeth bereits nicht mehr. Hastig hatte sie sich einen gewachsten Umhang über die Schultern geworfen, und noch ehe ihr Gatte zur Gänze begriffen hatte, was geschah, eilte sie mit fliegenden Röcken davon.
Lisbeth erreichte die Wolkenburg trockenen Fußes, doch in dem Moment, als sie in den Schutz des Torhauses trat, zuckte der erste Blitz. Der Himmel hatte endlich ein Einsehen, und erste, münzgroße Tropfen schlugen in den Staub der Straße.
Der Hof der Wolkenburg lag im Dunkel, doch Hilda erwartete Lisbeth an der Tür.
»Wo ist er?«, fragte Lisbeth hastig.
»In der Hacht. Im erzbischöflichen Gefängnis. Sie haben ihn abgeholt und …«
»Nein, ich meine Herman«, unterbrach Lisbeth die alte Haushälterin.
Bekümmert blickte Hilda sie an. »Der junge Herr sitzt in seinem Kontor.«
»Und Stephan?«
»Auf Reisen seit ein paar Tagen.«
Für einen Moment runzelte Lisbeth die Stirn. Aus welchem Grunde mochte Stephan verreist sein? Jetzt, kurz vor Einbruch des Winters. Doch rasch wischte sie den Gedanken beiseite. Das war jetzt nicht wichtig.
Lisbeth fand ihren Bruder im Dunkel seines Kontors sitzend, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Obzwar die Dämmerung bereits hereingebrochen war, hatte er es versäumt, ein Licht anzuzünden. Bei ihrem Eintreten hob er nicht einmal den Kopf.
Wortlos trat Lisbeth auf ihren Bruder zu und schloss ihn in die Arme. Ein unterdrückter Schluchzer entfuhr Herman, und Lisbeth spürte, wie sein Körper in ihren Armen bebte. Lange hielt sie ihn einfach fest, seinen Kopf an ihre Brust gedrückt, und wiegte den großen Mann wie ein Kind.
»Was ist geschehen?«, fragte sie leise, als sein Beben endlich nachließ.
Stockend zunächst, dann immer erregter, berichtete Herman, wie die Büttel des Greven erschienen waren und Alberto geradewegs aus seinem Kontor heraus verhaftet hatten. Nur seiner Stellung als Ratsherr und dem Respekt, den die Büttel ihm zollten, verdankte er, dass sie ihm den Grund mitteilten: Alberto habe Seger Sydverwer unsittlich angefasst. Habe versucht, sich an ihm zu vergehen.
Sich an Seger Sydverwer zu vergehen! Diese Anschuldigung war so ungeheuerlich, dass Lisbeth schwindelig wurde. Haltsuchend ließ sie sich in einen Sessel neben Herman sinken.
»Ich hätte mir Seger packen sollen. Er ist mir ja regelrecht in die Arme gelaufen. Wenn ich nur gewusst hätte, was er im Schilde führte. Doch dafür ist es jetzt zu spät«, sagte Herman dumpf. Mit knappen Worten berichtete er seiner Schwester, wie Seger aus der Wolkenburg gestürmt war, und Lisbeth wurde die Kehle eng.
Herman rang die Hände. »Ich habe versucht, den Bütteln zu erklären, dass das ein Irrtum sein müsste. Eine Verleumdung. Doch sie haben nicht auf mich gehört.« Resigniert ließ er die Hände in den Schoß sinken. »Selbst wenn ich mich für ihn verwenden würde, es würde nichts nützen. Ein so schlimmes Verbrechen wie das, wessen man Alberto beschuldigt, unterliegt dem Hochgericht. Es ist ein Fall für den Greven und die Schöffen. Der Greve ist zwar kölnischer Bürger, aber er untersteht dem Erzbischof. Da endet der Einfluss eines jeden Ratsherrn. Überdies haben zu viele gesehen, wie Seger schreiend davongelaufen ist«, endete Herman.
Die Ohnmacht in seiner Stimme schnitt Lisbeth ins Herz. Er brauchte es nicht auszusprechen. Sie beide wussten, auch wenn Alberto die Dinge, deren Seger Sydverwer ihn beschuldigte, nie begangen hatte, so stünde doch sein Wort, das Wort eines Fremden, gegen das eines, zugegebenermaßen nicht bestens beleumundeten, doch kölnischen Bürgers.
Und eben weil Seger keinen Ruf zu verlieren hatte, weil jeder wusste, welchen Neigungen er frönte, mochte man ihm Glauben schenken.
Als wäre Herman Lisbeths Gedanken gefolgt, sagte er kaum hörbar: »Er hat es nicht getan. Er und ich … er ist …«
»Ich weiß«, flüsterte Lisbeth und strich ihm tröstend über den Arm. »Er hätte das nie getan.«
Dankbar blickte Herman sie an, und trotz des schwachen Lichtes sah Lisbeth den grenzenlosen Schmerz in seinen Augen.
Für eine Weile versanken sie in hilflosem Schweigen, nur der Regen war zu hören, der in heftigen Schauern gegen die Fenster peitschte. Lisbeth fand keine Worte des Trostes für ihren Bruder. Es gab keine.
Es gab nur eine Frage, und Lisbeth stellte sie laut: »Warum? Warum tut Seger das? Was hat er gegen Alberto? Oder gegen dich?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie etwas mit diesem Kerl zu schaffen gehabt, und ich glaube nicht einmal, dass Alberto Seger kennt. Vielleicht hat jemand Seger dazu angestiftet.«
Lisbeth dachte einen Moment über Hermans Worte nach. »Wer könnte so einen Hass auf euch haben, dass er Seger zu solch einer Grausamkeit anstiftet?«, fragte sie schließlich. »Habt ihr einen Strauß mit einem anderen Kaufmann?«
»Nein, das habe ich auch schon überlegt. Mir fällt niemand ein. Und auch im Rat ist nichts vorgefallen, das über gewöhnlichen Disput hinausginge …«
Die Erwähnung des Rates brachte Lisbeth Brigitta van Berchem in den Sinn, und sie spürte, wie ihr ein kalter Schauder das Rückgrat hinaufkroch. Die Seidmacherin hatte ihr unverhohlen gedroht, doch Lisbeth hatte sich nicht darum geschert, sondern Herman dazu gedrängt, sich für die Zulassung von Rita zum Seidamt einzusetzen. War es möglich, dass Brigitta hinter Segers Verleumdung steckte?
Lieber Gott, bat sie stumm, lass das nicht den Grund sein! Auf ihrer Haut bildeten sich feine Schweißperlen. Kaum vermochte sie ihre Befürchtung in Worte zu fassen. »Kann es sein, weil du dich für die Zulassung von Rita eingesetzt hast?«, fragte sie bang und hielt den Atem an.
»Das erscheint mir ziemlich abwegig.« Herman machte eine wegwerfende Geste, und Lisbeth atmete verstohlen auf, unendlich erleichtert, diese Schuld nicht auf sich geladen zu haben.
»Es ist müßig, nach dem Grund zu suchen«, fuhr Herman mit müder Stimme fort. »Überall gibt es Leute, denen Menschen wie wir ein Dorn im Auge sind. Nirgendwo auf dieser Welt werden wir unseren Frieden finden. Und Gottes Strafe wartet im Jenseits …« Gequält presste er die Worte hervor. Doch dann brach es mit so ungeahnter Heftigkeit aus ihm heraus, dass Lisbeth zusammenfuhr: »Mein Gott! Wir haben uns das doch nicht ausgesucht. Diese Liebe ist einfach stärker als wir! In Florenz sind es die Uffiali della Notte, die ganz gezielt nach Sodomitern sucht, und in Venedig das Collegium Sodomitarum, das seine Fühler über das ganze Land ausstreckt und uns verfolgt.«
»Habt ihr deshalb Lucca verlassen und seid nach Köln gekommen?« Lisbeths mitfühlende Worte waren mehr Feststellung als Frage. In Köln wurden Männer, die der stummen Sünde verfallen waren, nicht von den Bütteln verfolgt. Sie standen in schlechtem Ruf, und man spottete ihrer, doch solange sie niemandem etwas zuleide taten, solange kein Verbrechen geschah, ließ man sie unbehelligt.
Wer immer Herman Böses wollte, er hatte es sehr geschickt eingefädelt. Hätte er öffentlich gemacht, dass der gnädige Ratsherr Herman Lützenkirchen ein Fisternöll mit einem anderen Mann hätte, wäre nur Hermans Ruf ruiniert gewesen. Indem seine Feinde aber ein Verbrechen vortäuschten …
Lisbeth durchfuhr ein bleierner Schreck. Bis dato hatte sie nur an Alberto gedacht und war sich der großen Gefahr, in der Herman selbst schwebte, gar nicht bewusst gewesen.
Man würde Alberto peinlich befragen, und wer weiß, was dieser gestehen würde. Oder was man ihn zu gestehen zwang? Wie weit mochte der Arm der Verleumder reichen? Seine Beziehung zu Herman wäre da noch das mindeste. Was, wenn er aussagte, Herman sei an der Tat beteiligt gewesen? Dann würde man auch Herman verhaften!
Doch wie sollte Alberto schweigen, angesichts der Mittel, die dem Scharfrichter zur Verfügung standen? Kalter Schweiß trat Lisbeth aus den Poren, und trotz der herbstlichen Kühle war ihr Kleid binnen eines Wimpernschlages durchweicht. »Du musst die Stadt verlassen!«, brachte sie atemlos hervor. »Jetzt gleich!«
»Nein, ich bleibe! Das bin ich Alberto schuldig.« Hermans Stimme klang erschreckend fest.
Lisbeth rang um Luft. Sein ganzes Leben lang war Herman vor Schwierigkeiten davongelaufen, hatte bei unwichtigen Dingen Reißaus genommen wie damals, als ihm die Seidenraupenzucht misslungen war. Wieso musste er jetzt plötzlich Rückgrat zeigen? Jetzt, wo es ihn das Leben kosten konnte?
Am liebsten hätte Lisbeth geschrien und ihren Bruder geschüttelt, doch sie zwang sich zur Ruhe. »Herman, damit rettest du Alberto nicht! Ihm kann nur noch Gott helfen. Bring dich in Sicherheit. Noch heute Nacht. Alberto wird es verstehen. Geh zu Mutter nach Valencia …«, flehte sie eindringlich.
Stoisch schüttelte Herman den Kopf. »Ich bleibe!«, beharrte er und verschloss sich in tiefem, hoffnungslosem Schweigen.
Lisbeth schlug die Hände vors Gesicht. An der Festigkeit und Ruhe, die in seiner Stimme lagen, erkannte sie, dass er seine Entscheidung getroffen hatte. Er würde sie nicht ändern, gleich, was sie auch sagen mochte.
Der letzte Lichtschein war hinter den dunklen Wolken verschwunden, und das Kontor lag in Finsternis, doch Lisbeth vermochte es nicht, sich zu erheben, um ein Licht zu entzünden oder den Kamin anzufachen. Es blieb nichts zu tun, was das Grauen würde abwenden können. Nichts blieb, außer zu warten. Wie eine kalte Woge ergriff die Verzweiflung von ihr Besitz und durchflutete sie, bis sich jeder einzelne Körperteil angefüllt hatte mit lähmender Angst.
Zäh zogen sich die Tage dahin, trübe und hoffnungslos. Lisbeth war bei Herman in der Wolkenburg geblieben. Die meiste Zeit verbrachte sie kniend in der kleinen Kapelle im Erdgeschoss des Hauses. Lisbeth konnte sich nicht entsinnen, je zuvor so viel gebetet zu haben. Doch wie groß konnte ihre Hoffnung sein, der Herrgott möge ihre Bitten für den Bruder und seinen Freund erhören, angesichts der Schwere der Schuld, die sie auf sich geladen hatten?
Herman brachte die meiste Zeit in seinem Sessel im Kontor zu, kaum dass er ihn verließ, außer um im Latrinenhaus seine Notdurft zu verrichten. Die Mahlzeiten, die die alte Hilda ihm unter Mühen selbst bereitete und ins Kontor brachte, rührte er nicht an. Auch Lisbeth vermochte es kaum, Speisen zu sich zu nehmen, und kummervoll musste sie mit ansehen, wie Herman von Tag zu Tag weiter in sich zusammensank. Aus dem kräftigen, hochgewachsenen Mann wurde eine gebeugte Gestalt, die unter der Last des Schicksals schier zusammenzubrechen drohte. Die Haut in seinem Gesicht wurde fahl und nahm einen aschfarbenen Ton an, in seine blonden Locken mischten sich täglich neue Silbersträhnen.
Doch so lange die Tage sich auch dehnten, bleiern ineinanderflossen, so wuchs gleichwohl mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass man Herman abholte, in Lisbeth die Hoffnung.
Und dann dämmerte grau der Tag des heiligen Kunibert herauf. Auf dem Domhof, zu Fuße des immer noch unvollendeten Gotteshauses, hatte man die Schöffenbänke zum Geviert gestellt, und trotz des garstigen Wetters hatte sich eine ansehnliche Schar Zuschauer eingefunden. Schließlich war das Verbrechen, über das man hier richtete, keines, das jeden Tag geschah. Überdies sorgte die Person des Delinquenten für zusätzliche Pikanterie: War der doch Gast – und sicherlich mehr als das, wie die Klatschmäuler zu berichten wussten – eines gnädigen Ratsherrn!
Schweigend stand Lisbeth mit Herman in der Menge. Hoch aufgerichtet, die Kapuze ihres dunklen Mantels tief in das Gesicht gezogen, war sie sich der neugierigen Blicke, die auf sie gerichtet waren, unangenehm bewusst. Sorge und Anspannung der vergangenen Tage hatten deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war blass, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.
»Ob man ihm wohl den Kopf abschlägt?«, fragte eine Buttermagd aus dem Vorgebirge laut neben Lisbeth, und sie zuckte zusammen.
»Für Sodomie? Niemals! Das ist so abscheulich! Aufs Rad flechten werden sie ihn!« Eine knochige Alte wusste es besser und schüttelte sich in wohligem Grausen.
Lisbeth stellten sich die feinen Härchen an den Armen auf. Angestrengt bemühte sie sich, nicht auf das Geschwätz um sie her zu hören, doch es gelang ihr nicht.
»Na, wie wär es mit Ersäufen?«, schlug ein baumlanger Bursche mit vernarbtem Gesicht vor.
»Ersäufen ist nur fürs Weibsvolk!«, widersprach ihm die Alte.
»Na eben drum!«, versetzte der Kerl mit anzüglichem Lachen.
Mit überlautem Kreischen fielen die Weiber in sein Gelächter mit ein.
Als sich die Tore der Hacht an der Südwestecke des Domhofes nahe dem Eingang von Unter Goldschmied öffneten, verstummte das aufgeregte Gerede der Zuschauer. Gespannt beobachtete man, wie die Prozession, angeführt vom Greven und den Schöffen, durch das Tor trat und den Schöffenbänken zustrebte. Es folgten der rotgewandete Scharfrichter und die Gewaltrichterboten in ihrer bunten Dienstkleidung mit zweifarbigen Hüten.
Lisbeth hielt den Atem an, als schließlich die Büttel erschienen, die den Delinquenten in ihrer Mitte führten. Die Menge johlte und kreischte.
»Sodomit!«, gellte die Buttermagd und klatschte vor Begeisterung in die Hände.
»Lombarde!«, schrie die Alte. »Hängt den Hurenbock!«
Als Lisbeth Alberto erblickte, schlug sie entsetzt die Hand vor den Mund, und sie spürte, wie auch Herman neben ihr zusammenzuckte. Sein Gefährte bot einen schrecklichen Anblick. Mit Mühe humpelte er zwischen seinen Bewachern voran. Albertos ehedem gebräuntes Gesicht war aschfahl und überkrustet von geronnenem Blut, seine Hände und Füße in blutige Lumpen gewickelt. Sein rechter Arm stand in schiefem Winkel vom Körper ab, anscheinend nur nachlässig vom Scharfrichter eingerichtet, nachdem er ihm zuvor aus dem Gelenk gerissen worden war. Alberto musste der peinlichen Befragung lange standgehalten haben.
Außerhalb der Schöffenbänke blieben der Scharfrichter und die Büttel mit Alberto stehen, während Schöffen und Greve sich in den Bänken niederließen.
Feiner Nieselregen fiel auf die Versammlung, und wie erstarrt sah Lisbeth zu, wie der Schöffenmeister eilig von einem Schöffen zum andern ging, ihm ins Ohr flüsterte und ihn an seine Verschwiegenheitspflicht gemahnte. Was bei der Befragung des Delinquenten zutage gekommen war, durfte der Allgemeinheit nicht offenbart werden.
Als der Schöffenmeister wieder seinen Platz eingenommen hatte, erhob sich der Greve. Gewöhnlich zelebrierte der kleingewachsene Mann in aller Ausführlichkeit die Wichtigkeit des Amtes, für das ihn der Erzbischof ausgewählt hatte. Denn bei aller Macht, die der Rat der Stadt sich in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit dem Erzbischof erstritten hatte, so übte der Erzbischof doch immer noch den königlichen Blutbann aus, behielt die Gerichtsgewalt über schwere Verbrechen, die mit Leibes- oder Todesstrafe geahndet wurden. Doch angesichts der Kälte und der alles durchweichenden Nebelschwaden, die sich in den Ecken des Domhofes an die Mauern klammerten, hielt er sich heute nicht mit belehrenden Reden auf, sondern kam sogleich zur Sache. »Alberto Pezzi von Lucca«, verkündete er mit sonorer Stimme. »Ihr seid vor dem Erzbischöflichen Hochgericht überführt und geständig der versuchten Vergewaltigung von Seger Sydverwer.«
Frenetischer Jubel brandete über den Domhof. Die Zuschauer hoben die Arme über die Köpfe, applaudierten und pfiffen.
Lisbeth biss sich auf die Lippe. Es war ihr bewusst gewesen, dass man erst zu Gericht sitzen würde, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hatte, denn ohne Geständnis kein Urteil. Doch das Urteil ausgesprochen zu hören, das zerstörte alle Hoffnung, die sie für Alberto im Geheimen noch gehegt hatte.
Voller Angst vor dem Maß der Strafe, mit der man Alberto belegen würde, krampfte sie die Hand in Hermans Unterarm.
Der Greve wartete ab, bis sich der Radau auf dem Domhof gelegt hatte, bevor er die Strafe verkündete: »Ihr werdet durch das Feuer vom Leben zum Tode gebracht!«
Die Menge jubelte begeistert. Eine Verbrennung fand nicht alle Tage statt und versprach rohen Gemütern eine außergewöhnliche Lustbarkeit.
Lisbeth spürte die Worte des Greven wie einen Schlag, und sie fühlte, wie Herman neben ihr erstarrte. Das Verbrennen war eine ehrlose Strafe und zudem eine grausame, hatte der Verurteilte doch unsägliche Qualen zu erleiden, bis er endlich zu Tode kam.
Der Greve wandte sich an den ersten Schöffen in der Bank. »Seid Ihr mit dem Urteil einverstanden?«, fragte er.
Nein, bitte sag nein, flehte Lisbeth stumm und schloss die Hände zu Fäusten. Die Schöffen wurden zwar formell vom Erzbischof eingesetzt, doch sie waren in Köln geborene und eingesessene Bürger. Sie konnten einem Urteil widersprechen …
Doch klar und deutlich sprach der Mann die Formel, mit der die Schöffen als Vertreter der Stadt ihre Zustimmung zum Urteil des Greven erteilten: »Das teile ich mit der Bannglocke mit!«
Der nächste Schöffe gab nicht minder fest seine Zustimmung, dann noch einer und der nächste, und als schließlich der letzte Schöffe seine Zustimmung bekundet hatte, erlosch auch Lisbeths letzter Funken Hoffnung.
Die Armsünderglocke wurde angeschlagen. Dünn und elend tönte sie über den Domhof, und kaum dass der letzte Ton von den grauen Nebelschwaden aufgesogen worden war, führte man Alberto in das Geviert zwischen die Schöffenbänke.
Wieder erhob der Greve die Stimme und wandte sich nun direkt an Alberto: »Ihr seht wohl, dass Ihr sterben müsst. Also ist nun der rechte Moment, es einzugestehen, so Ihr noch mehr verbrochen habt, damit nicht gar ein anderer Eurer Missetaten wegen in Verdacht oder böse Nachrede komme.«
Gespannte Stille breitete sich über den Domhof. Erwartungsvoll harrte man auf pikante Einzelheiten des Verbrechens und Geständnisse anderer ruchloser Taten.
Doch Alberto schüttelte den Kopf, das Gesicht schmerzverzerrt. »Ich habe weiter nichts zu gestehen«, sagte er fest.
Vereinzelt schallten Rufe der Enttäuschung aus der Menge.
»Dann frage ich Euch nun: War an der Tat, wegen der Ihr sterben müsst, auch noch jemand anderer als Helfer oder Mitwisser beteiligt?«
Abermals wurde es still auf dem Domhof. Lisbeth sah, wie der Gerichtsschreiber eifrig nach der Feder griff.
Erneut schüttelt Alberto den Kopf. »Nein!« Seine Stimme war tonlos, doch bis in die hinteren Reihen der Zuhörer vernehmbar.
Enttäuscht ließ der Gerichtsschreiber die Feder sinken.
Die Herren erhoben sich aus den Bänken, und die Büttel führten Alberto zu einem Steinblock aus blauem Basalt. Der Scharfrichter trat vor und stieß Alberto dreimal hart mit dem Rücken gegen den blauen Stein zum Zeichen der Anerkennung der Hochrichterlichen Gewalt des Erzbischofs. »Wir stoßen dich an den blauen Stein. Du kommst deinem Vater und Mutter nicht mehr heim!«, sprach er feierlich.
Die Büttel ergriffen Alberto und schleppten ihn zu dem schwarzen Henkerskarren, der wartend am Rande des Domhofs stand. Sie hievten ihn hinauf und sperrten ihn in den hölzernen Käfig, der darauf angebracht war. Der Scharfrichter stieg vorn auf den Karren, und während zwei Schöffen mit dem Schreiber voraus nach Melaten ritten, um dort alles für die Hinrichtung vorzubereiten, formierte sich auf dem Domhof die Prozession, die den Verurteilten zur Richtstätte vor den Toren der Stadt geleiten würde.
Voran ritt der Greve hoch zu Ross. Ihm folgten die buntgewandeten Gewaltrichterboten, dann scherte der Henkerskarren mit Alberto und dem Scharfrichter ein, an allen Seiten flankiert von den Bütteln.
In wildem Haufen drängelten die Schaulustigen hinterdrein, und auch der scharfe Wind, der ihnen eisige Regenschauer entgegenblies, als sie die Einfriedung des Domhofs verließen, konnte ihre Festtagslaune nicht schmälern.
Schwankend, das Gesicht zur Maske erstarrt und den Blick auf die geschundene Gestalt seines Gefährten vor sich geheftet, folgte auch Herman dem Karren. Lisbeth hätte viel darum gegeben, sich den entsetzlichen Anblick der Hinrichtung zu ersparen. Doch Herman war in einer Verfassung, in der sie ihn unmöglich würde alleinlassen können. Und so blieb ihr nichts übrig, als an seiner Seite zu gehen, als der schaurige Zug in quälender Langsamkeit seinen Weg nahm, die Breite Straße entlang, die Ehrenstraße und durch das Ehrentor aus der Stadt hinaus.
Mehr und mehr Menschen schlossen sich dem Zug an, um sich das grausige Schauspiel nicht entgehen zu lassen, und als man Melaten schließlich erreichte, war am Rabenstein alles gerichtet.
Im Schritttempo rollte der Armsünderkarren durch die Pfützen auf den freien Platz, der im Regen bereits aufzuweichen begann. Als das Gefährt zum Halten kam, drängte sich die hemmungslose Menschenmenge so dicht heran, dass die Büttel es kaum vermochten, Alberto vom Karren zu holen. Mit erhobenen Stöcken drängten sie die Gaffer rigoros zurück, bis sie in gebührender Entfernung um den einzelnen Pfahl in der Mitte des Platzes zu stehen kamen.
Um den Pfahl herum hatte man wenig dürres Stroh auf den Lehmboden geschüttet – der Greve, der dafür aufzukommen hatte, war ein geiziger Mann. Anders dagegen der Scharfrichter. Die ihm unterstehenden Huren der Stadt, vor allem diejenigen vom Domhof und Heumarkt, von denen er den dritten Teil ihrer Einnahmen erhielt, hatten in letzter Zeit fleißig gearbeitet, was ihm gute Gewinne eingetragen hatte. Und so hatte der Henker sich nicht lumpen lassen und für einen ansehnlichen Stapel Feuerholz gesorgt. Kurz rüttelte er noch einmal an dem Pfosten, um sicherzugehen, dass dieser sich nicht aus dem Boden heben ließ, dann, auf sein Zeichen hin, stießen die Büttel den Verurteilten vom Karren.
Alberto fand auf seinen geschundenen Füßen keinen Halt und stürzte vornüber in den Dreck, was die Zuschauer mit höhnischem Gelächter quittierten.
Grob rissen die Büttel ihn an den Armen, um ihn aufzurichten. Alberto entfuhr ein Schrei, als das Gelenk seiner Schulter nachgab. Doch ohne sich davon beirren zu lassen, schleppten die Stadtdiener ihn auf das gestapelte Feuerholz, so dass er mit dem Rücken an dem Pfahl zu stehen kam. Unsanft bogen sie ihm die Arme nach hinten, was Alberto abermals einen Schmerzenslaut entlockte.
Lisbeth schlug ob dieser unnötigen Grausamkeit die Hände vors Gesicht.
Eigenhändig band der Scharfrichter Albertos Arme mit einem guten Strick zusammen. Er wollte sichergehen, dass der Verurteilte sie nicht würde lösen können. Noch einmal rüttelte er an dem stabilen Pfosten. Das Gelingen der Hinrichtung lag zur Gänze in seiner Verantwortung. Wenn etwas schiefging und er den Verurteilten nicht zu Tode brachte, stand zu befürchten, dass sich der Zorn der Zuschauer gegen ihn selbst wandte. Es geschähe nicht zum ersten Mal, dass man einen Henker gemeinsam mit dem Todgeweihten erschlug.
Derweil war der Greve von seinem Ross gestiegen und trat nun zu den beiden Schöffen, die einige Schritt entfernt des Scheiterhaufens Aufstellung genommen hatten. Sogleich verstummte das Lärmen auf dem Platz, und die Zuschauer schoben sich näher heran, damit ihnen auch nicht eine winzige Kleinigkeit des grausigen Schauspiels entgehen möge. Nur mit Mühe gelang es den Bütteln, sie zurückzudrängen.
Dem Ritual folgend, wandte sich der Greve zunächst an den älteren der beiden Schöffen. »Ist nun Richtzeit?«, fragte er weithin vernehmlich.
»Ja!«, bestätigte der Schöffe.
»Ist nun Richtzeit?«, wiederholte der Greve seine Frage, an den zweiten Schöffen gewandt.
»Ja!«, bestätigte auch dieser.
Mit majestätischer Gebärde hob der Greve seinen Stab und gab dem Scharfrichter das Zeichen, seines grausigen Amtes zu walten.
Lisbeth schnürte sich die Kehle zusammen. Eine eisige Kälte erfüllte sie, und sie spürte, wie ihre Haut feucht wurde von kaltem Schweiß.
Der Henker nahm von seinem Gehilfen eine lodernde Fackel entgegen. Damit trat er zu dem Scheiterhaufen und entzündete die ersten Halme. Doch das feuchte Stroh widersetzte sich den Flammen, rauchte und erlosch mit einem Zischen. Wieder und wieder hielt der Scharfrichter die Fackel vergeblich an die Halme. Erst als er aus einem Eimer einige Kellen Pech darauf verteilte, fügte sich das Stroh schließlich in sein Schicksal und ging widerwillig in Flammen auf. Das Knistern war in dem gespannten Schweigen, das auf dem Platz lastete, deutlich zu hören.
Lisbeth grub die Fingernägel in die Handflächen. Ihr war schwindelig, und sie befürchtete, keinen weiteren Moment länger aufrecht stehen zu können.
Handbreit für Handbreit eroberten sich die blauen Flammen ihren Weg zu den Scheiten. Das Holz rauchte und kohlte zunächst, doch dann entflammte ein Scheit nach dem andern.
Vereinzelt ertönten Jubelrufe, doch die Menge hielt weiterhin gespannt den Atem an.
Voller Angst, welche Pein sie dort erblicken würde, schaute Lisbeth in das geschundene Gesicht von Alberto. Auch die Misshandlungen des Scharfrichters hatten seinen ebenmäßigen Zügen ihre Anziehungskraft nicht genommen. Das Gesicht unbewegt, den Kopf nach hinten geneigt, soweit die Fesseln es zuließen, richtete er seinen samtigen Blick auf die trostlos kahlen Kronen der Bäume, die über dem Platz aufragten.
Dieser Mann, der ihrem Bruder Halt und Zuflucht gegeben hatte, der ihm mehr bedeutete als jeder andere Mensch auf Erden, schien gefasst, beinahe ruhig seinem irdischen Ende entgegenzublicken.
Unwillkürlich wandte Lisbeth sich zu Herman um. Seinen Schmerz mochte sie sich nicht vorstellen. Aschfahl, den Blick unbeirrt auf das Antlitz seines Gefährten geheftet, schien er neben ihr erstarrt zu sein, das Gesicht zur Maske versteinert. Zwei feuchte Spuren zogen sich über seine eingefallenen Wangen.
Immer dichter fraßen sich die Flammen an Alberto heran, fauchten und bleckten. Beißender Rauch breitete sich über den Platz, stieg Lisbeth brennend in Nase und Augen. Als sie sich mit der Hand über das Gesicht fuhr, bemerkte sie, dass es feucht war von Tränen.
Enger und enger umzingelten die Flammen Alberto und leckten gierig an seinen Füßen. Lisbeth schloss die Augen, außerstande, dem Grauen weiter zuzusehen. »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes …«, betete Lisbeth leise.
Es knallte. Funken stoben in den feuchten Morgenhimmel, und mit einem Fauchen schossen die Flammen zwischen allen Holzscheiten zugleich empor. Der Scheiterhaufen brannte!
Jubel brandete auf. Die Zuschauer pfiffen, rissen die Arme über die Köpfe und schrien ihre Genugtuung hinaus. Die reinigende Kraft des Feuers würde die Last der Sünde von der Stadt nehmen, mit der der fremde Sodomiter sie befleckt hatte. Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan.
Plötzlich spürte Lisbeth eine heftige Bewegung neben sich, und sie öffnete die Augen. Erschreckt sah sie, wie Herman sich mit den Ellbogen rüde einen Weg zwischen den Zuschauern hindurchbahnte. Die Starre in seinem Gesicht war fester Entschlossenheit gewichen.
Rücksichtslos einen überraschten Büttel beiseitestoßend, stürmte Herman dem Scheiterhaufen zu. Im Laufen zog er sein Messer aus der Scheide, die an seinem Gürtel hing.
»Nein, Herman!«, schrie Lisbeth, doch ihre Worte verhallten ungehört.
Mit einem Satz sprang Herman auf den Scheiterhaufen. Eine Wolke aus gleißenden Funken stob auf, hüllte Herman und Alberto ein und nahm Lisbeth für einen Moment die Sicht.
Einen unendlichen Augenblick lang standen sich die beiden Männer gegenüber, der Blick des einen tief in den des anderen gesenkt, einem stummen Versprechen gleich. Schmerz und Qual lagen darin, aber auch eine Liebe, der selbst der Tod ihre Größe nicht nehmen konnte.
Die Flammen malten zitternd rote Schatten auf Hermans Wangen, als er seinen Gefährten fest in den Arm schloss. Mit der Rechten holte er aus, und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte die Klinge auf. Dann stieß Herman sie tief in den Rücken seines Geliebten.
Ein Aufschrei gellte durch die Menge. Albertos Kopf sank auf seine Brust, sein kraftloser Körper nur mehr von den Fesseln aufrecht gehalten.
Die Büttel hatten sich von ihrer Überraschung erholt. Hastig stürmten sie dem Scheiterhaufen zu, und das Volk, unbändig vor Erregung und nun seiner Bewacher ledig, drängte schreiend nach vorn.
Verzweifelt mühte Herman sich, das Messer aus dem Leib seines Geliebten zu winden. Die Flammen versengten ihm schmerzhaft Gesicht und Hände. Schon erreichte der erste Büttel den Scheiterhaufen. Doch die Flammen, die Herman mannshoch umloderten, hinderten den Wachmann daran, ihn zu ergreifen, wollte er nicht selbst ihr Opfer werden.
Endlich gelang es Herman, das Messer aus Albertos Leib zu lösen. Abermals holte er aus, die Klinge diesmal auf sein eigenes Herz gerichtet.
»Nein!« Lisbeths Schrei gellte über den Platz, übertönte das Geschrei der Menge. Doch er erreichte Herman nicht mehr. Entschlossen hatte seine Hand ihren letzten Streich geführt.
Die Zuschauer hielten in ihrem Rasen inne. Eine entsetzte Stille breitete sich über den Richtplatz, nur unterbrochen vom Knistern und Fauchen des Feuers, das von den beiden leblosen Körpern Besitz ergriff.