Teil III

1505 bis 1509

12.  Kapitel

Beklommen schritt Lisbeth durch die geschmückten Gassen. Die Stadt hatte sich in Festtagslaune herausgeputzt. An manchen Häusern hatte man Fahnen gehisst, das Wappen der Habsburger neben dem städtischen mit den drei goldenen Kronen, die Symbol waren für die Heiligen drei Könige, deren Gebeine man in einem Schrein im Dom bewahrte.

Die festliche Stimmung an diesem Johannistag passte so gar nicht zu Lisbeths Gemütsverfassung. Es war ein schlimmer Winter gewesen, voller Regen und Kälte. Lisbeth war es vorgekommen, als wolle es nie wieder Frühling werden. Wochenlang hatte sie sich von früh bis spät in der Werkstatt zu schaffen gemacht, hatte unermüdlich gearbeitet, bis sie abends erschöpft auf ihre Bettstatt gesunken war.

Doch alle Müdigkeit hatte die Trauer um Herman nicht zu lindern vermocht und sie nicht vor den quälenden Fragen geschützt, die sie sich des Nachts stellte, wenn sie schlaflos lag. Würde Herman jemals die Gnade Gottes erlangen? Oder musste er auf ewig die Qualen des Fegefeuers erdulden?

Nicht nur, dass er sich der unsprechlichen Sünde schuldig gemacht hatte. Er hatte sich selbst ums Leben gebracht und zuvor einen anderen Menschen erstochen. Galt es vor dem Jüngsten Gericht mildernd, dass Herman diese Taten aus Liebe begangen hatte? Lisbeth hoffte es inständig. Jeden Morgen sprach sie ein Gebet für ihn und entzündete des Sonntags eine Kerze für sein Seelenheil.

Selbstmörder durften nicht in geweihter Erde bestattet werden. Doch als die Flammen ihr Werk getan hatten, war ohnedies nicht viel geblieben, das zu beerdigen gewesen wäre. So war es ihrem Bruder wenigstens erspart geblieben, vor den Mauern der Stadt in einem namenlosen Grab verscharrt zu werden wie ein erschlagener Hund.

Zögerlich schritt Lisbeth durch die Gasse Unter Wappensticker. Sie hatte es nicht eilig. Seit Hermans Tod ging sie nur sehr ungern in die Wolkenburg. Zu lastend harrten dort die Erinnerungen an jene schrecklichen Tage des Bangens nach Albertos Verhaftung, Hermans letzte Tage.

Doch heute blieb Lisbeth keine Wahl, denn Fygen hatte sie gebeten, dort nach dem Rechten zu schauen. Es war Lisbeth unendlich schwergefallen, ihrer Mutter von den schrecklichen Geschehnissen zu berichten. Eine volle Woche und ungezählte Blatt Papier hatte sie dafür gebraucht. Doch schließlich hatte sie ein wenig Trost darin gefunden, dass Fygen den Tod ihres Ziehsohnes nicht hatte miterleben müssen.

Den Tod nicht und auch nicht das schmachvolle Gerede. Des Langen und Breiten hatte man in der Stadt darüber geklatscht, wie weit es mit den Lützenkirchens gekommen sei. Vor Selbstgerechtigkeit triefend, hatten diejenigen, die darum wussten, dass Herman nicht der leibliche Sohn von Fygen und Peter, sondern ein angenommenes Kind war, die Finger gehoben und bemerkt, dass aus dem Bankert eines liederlichen Lehrmädchens nun einmal kein ehrbarer Bürger werden könne. Ein angesehener Ratsherr schon gar nicht.

Der lange Winter war einem launischen Frühling gewichen, der nun eher widerwillig in den Sommer überging. Heute, auf den Tag genau, war es ein Jahr her, dass sie in der Wolkenburg Hermans Ernennung zum Ratsherrn gefeiert hatten.

Bis auf die Tatsache, dass sich wieder einmal ein Mitglied des Rates etwas Schwerwiegendes hatte zuschulden kommen lassen – was natürlich Wasser auf die Mühlen der Unzufriedenen gewesen war –, hatte die Stadt den Skandal jedoch schnell vergessen. Denn ein ganz besonderes Ereignis stand ins Haus: König Maximilian hatte die Fürsten des Reiches, darunter die sieben Kurfürsten, die Reichsgrafen und Reichsprälaten sowie die Vertreter der freien Reichsstädte nach Köln zum Reichstag geladen. Das versprach Feierlichkeiten ungekannten Ausmaßes!

Doch Lisbeth war beileibe nicht nach Feiern zumute. Sie fühlte sich einsam und verlassen von allen, die sie liebte. Erst der Unfall ihres Vaters, dann verheiratete ihre Mutter sich in Valencia und nun auch noch Herman. Einzig Mertyn war ihr geblieben, doch der kümmerte sich des Tags um seine Geschäfte und verbrachte die Abende zumeist auf der Gaffel, wo er nicht müde wurde, die Geschehnisse in der Stadt und die Entscheidungen des Rates wieder und wieder durchzukauen.

Als Lisbeth in Fygens Kontor trat, fand sie Stephan hinter dem großen Tisch sitzend, tief in seine Arbeit versunken. Es irritierte sie, ihn dort in jenem Sessel sitzen zu sehen, in dem vorher Herman und davor seine Mutter gesessen hatten. Doch es war nur selbstverständlich. Stephan war seinen Pflichten in den Jahren ihrer Abwesenheit so gut nachgekommen, dass Fygen sich entschlossen hatte, ihn die Geschäfte nach Hermans Tod weiterführen zu lassen, nun freilich als Kaufmannsgehilfe. Nach wie vor sandte sie Briefe mit Anweisungen, wie er die Geschäfte handhaben solle, doch in vielem ließ sie ihm freie Hand.

Es war wenig erstaunlich, dass Stephan über seinen Büchern saß, obschon heute ein Feiertag war, dachte Lisbeth. Ihr Schwager arbeitete stets viel. Seit Hermans und Albertos Tod erledigte er die ganze Arbeit, die sie sich zuvor zu dritt geteilt hatten, allein, und es schien ihr, als setze er allen Ehrgeiz darein, zu beweisen, dass Fygens Vertrauen in ihn gerechtfertigt war.

Bei Lisbeths Eintreten zog Stephan für einen kurzen Moment die Augenbrauen zusammen, legte die Feder beiseite und schob hastig einige Blätter aufeinander. Dann glättete sich seine Miene zu einem strahlenden Lächeln, und er sprang auf. »Lisbeth, welche Überraschung, dass du mich besuchen kommst.«

»Mutter bat mich darum, einen Blick in die Geschäftsbücher zu werfen …«, antwortete Lisbeth und zog entschuldigend die Schultern hoch.

»Du willst dich an so einem Tag doch nicht in die Bücher vergraben!«, rief Stephan aus. »Ich weiß etwas Besseres! Du hast in letzter Zeit nicht viel Freude gehabt. Es wird Zeit, dass du auf andere Gedanken kommst! Wir gehen aus!«

Abwehrend hob Lisbeth die Hände. »Aber das geht doch nicht! Deine Arbeit …«, hob sie an zu widersprechen und wies auf die Papiere vor ihm auf dem Arbeitstisch.

»Die läuft schon nicht weg!« Stephan ließ sich nicht beirren. Entschlossen nahm er Lisbeth an die Hand.

Es war ein schönes Gefühl, dass jemand sich um sie sorgte. Und vielleicht hatte Stephan ja recht, dachte Lisbeth. Sie hatte wirklich nicht viel Freude gehabt in den vergangenen Monaten. Kritisch blickte sie an ihrem schlichten dunklen Kleid hinab, das sie gewöhnlich zur Arbeit trug. »Aber ich kann doch so nicht ausgehen!«

»Holde weibliche Eitelkeit!« Stephan lachte. Er ließ Lisbeths Hand los und trat einen Schritt zurück. Fachmännisch glitt sein Blick über ihre biegsame Gestalt. »Du bist wunderschön«, bestätigte er ernsthaft.

Lisbeth errötete ob dieses Kompliments. Dass sie schön sei, hatte ihr lange keiner gesagt. Ohne auf ihren weiteren Protest einzugehen, zog Stephan sie mit sich hinaus.

Als sie das Zunfthaus der Brauer auf der Schildergasse erreichten, hatte sich der Himmel mit Wolken verhängt. Zu dieser vorgerückten Nachmittagsstunde drängte sich bereits ein fideles Völkchen unter der aufwendig bemalten Decke des Schankraumes im Hause Mirweiler. Die Brauer hatten es erst vor wenigen Jahren der Familie vom Spiegel abgekauft, weil ihr altes Zunfthaus aus allen Nähten geplatzt war.

»Un wat kritt ühr?«, herrschte der grobschlächtige Braugeselle hinter dem Tresen Stephan und Lisbeth an, kaum dass er ihrer ansichtig wurde. Zum Schutz gegen den goldgelben Gerstensaft hatte er sich eine blaue Schürze um den Bauch gebunden.

»Zwei Dicke!«, bestellte Stephan, und nur wenige Augenblicke später stellte der Geselle unsanft zwei überschäumende Becher vor sie auf das triefnasse Holz der Theke. Freundlichkeit gehörte nicht zu seiner Profession.

Durstig nahm Lisbeth einen tiefen Schluck des erfrischenden Keutebiers. Es schmeckte weit besser als das Gruitbier, zumal es nicht so leicht verdarb. Wie oft geschah es, dass man in einem Bierzapf altes Gruitbier vorgesetzt bekam.

Mit einem Mal verdüsterte sich das ohnehin dämmrige Licht im Schankraum, und Tropfen prasselten gegen die bunten, mit dem Wappen der Brauerzunft bemalten Fenster. Draußen schien ein heftiger Regenguss niederzugehen.

»Da haben wir ja gerade noch Glück gehabt«, bemerkte Stephan.

Lisbeth nickte. Ein Ellbogen stieß sie unsanft in die Seite.

»He!«, rief ein Mann neben ihr aus, dann krachte ein gefüllter Becher zu Boden. Bier spritzte auf Lisbeths Rock.

»Vermaledeiter Driss!«, brüllte der Braugeselle.

»Komm, wir suchen uns ein ruhigeres Plätzchen«, sagte Stephan und fasste Lisbeth am Arm. In der Nähe der Fenster hatte er eine freie Bank entdeckt und wollte gerade darauf zusteuern, als vor dem Haus plötzlich lautes Hufgeklapper ertönte. Unter mancherlei Flüchen und Gelächter flüchtete sich eine Handvoll Gäste vor dem Regen in den Schankraum, und an der Tür entstand ein kleiner Tumult. Die Neuankömmlinge waren keine gewöhnlichen Gäste, das ließen ihre prachtvollen Gewänder sogleich erkennen. Vielmehr mochten sie zu den Fürsten gehören, die aufgrund des Reichstages in der Stadt weilten.

Mit bübischem Lachen riss sich einer der Männer – er mochte bereits über vierzig Jahre zählen – sein tropfnasses Barett vom Kopf, dessen weißer Federschmuck vom Regen in ein trauriges Knäuel verwandelt worden war. Er schüttelte seine welligen Haare, die er nach der neuesten Mode auf Kinnlänge gestutzt trug, so heftig aus, dass die Tropfen flogen.

Doch der plötzliche Regenguss schien den hohen Herrn nicht zu verärgern. Im Gegenteil. Vielmehr kam es den Umstehenden so vor, als betrachte er ihn als großen Spaß, eigens zu seiner Belustigung inszeniert.

Als der illustre Gast weiter in den Raum hineintrat, verstummte schlagartig das Schwatzen und Lachen der Zechenden. Denn auch im dämmrigen Licht der Schankstube war seine auffallend große, hakenförmige Nase, die spitz auslief und deren Rücken zudem von einem Buckel gekrönt wurde, nicht zu übersehen. Genauso wenig wie die stark ausgeprägte Unterlippe des Mannes und sein vorspringendes Kinn. Das Kinn der Habsburger.

»Nää, dat jlöv isch nit! Dä Künning! He bei uns! Dat darf doch nit wohr sin!«, fasste der Brauergeselle die Verblüffung aller in Worte.

In der Tat war es kein Geringerer als König Maximilian selbst, der sich auf seinem Weg zum Bürgermeisterempfang am Neumarkt in das Zunfthaus der Brauer geflüchtet hatte.

Eilfertig schaffte man Platz für die hohen Herren, richtete eine Tafel in der Mitte des Raumes und kredenzte voller Stolz die Erzeugnisse kölnischer Braukunst.

Neugierig, doch nicht zu unverhohlen – denn schließlich gaffte man einen König nicht an wie eine zweiköpfige Sau auf dem Jahrmarkt –, sahen die übrigen Gäste mit an, wie die Herren sich den Gerstensaft munden ließen. Die Stimmung stieg, und die Bierkellner kamen kaum nach, die durstigen Kehlen zu tränken.

»Ihm scheint es zu schmecken!«, stellte Stephan mit einem Zwinkern fest und deutete verstohlen mit dem Kinn auf Seine Majestät, an deren Tafel man bereits die dritte Runde brachte.

Gemütlich lehnte Maximilian in dem eigens für ihn herbeigeschafften gepolsterten Sessel, die Wangen bierselig gerötet, und unterhielt sich mit einem älteren Herrn, der zu seiner Rechten Platz genommen hatte.

»Allen anderen aber auch«, erwiderte Lisbeth mit einem Lachen.

»Das ist ja wohl verständlich«, sagte Stephan. »Einen König hat man schließlich nicht alle Tage in seiner Mitte, und wer kann schon von sich behaupten, mit einer Majestät gezecht zu haben?«

»Wenn schon nicht an seiner Tafel, dann zumindest im selben Raum«, stimmte Lisbeth zu.

»Nun, ich für meinen Teil ziehe die Gesellschaft einer liebreizenden Frau allen Majestäten vor«, sagte Stephan galant und angelte zwei gefüllte Becher von einem Tablett, das einer der Bierkellner gerade an ihnen vorbeitrug. Einen davon reichte er Lisbeth, mit dem anderen prostete er ihr zu. »Auf das Wohl meiner schönen Schwägerin!« Er lächelte. Sein funkelnder Blick suchte den ihren und hielt ihn für einen Moment fest.

Verlegen senkte Lisbeth die Lider und nahm einen großen Schluck aus ihrem Becher.

Stephan beugte sich zu ihr vor und fragte mit verhaltener Stimme: »Kennst du den Unterschied zwischen dem König und einem ehrbaren kölnischen Bürger?«

»Nein«, entgegnete Lisbeth, gleichfalls im Flüsterton.

»Nun, es ist ganz einfach: Die Windeln des ehrbaren kölnischen Bürgers hängen hinter seinem Haus. Die Windeln des Königs hängen im ganzen …«

»Grüß Euch, Schwägerin.« Unbemerkt war Andreas Imhoff zu ihnen getreten und begrüßte sie mit knapper Verbeugung. »Du nimmst dir ja einiges heraus, Ime Hofe«, sagte er. »Keine Angst, dass man dir für deine Lästerlichkeiten den Kopf abschlägt?«

Lisbeths Stirn umwölkte sich. In seiner selbstgefälligen Art war Andreas längst kein so angenehmer Gesellschafter wie Stephan. Stets hatte er an allem etwas auszusetzen, vornehmlich am Betragen seiner angeheirateten Familie. Mit Sicherheit fand er es auch ungebührlich, sie hier anzutreffen.

Doch zum Glück kam er nicht dazu, sich darüber zu mokieren, denn ein königlicher Bediensteter trat zu ihnen und sprach Lisbeth an: »Seine Majestät wünscht Euch zu sprechen.«

»Mich?«, fragte Lisbeth verwundert und wandte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er nicht mit jemandem gesprochen hatte, der hinter ihr stand.

»Ja, Euch!«, bestätigte der Knappe und wandte sich um.

Lisbeth blieb nichts übrig, als ihm in die Mitte des Raumes zu folgen, zur Tafel des Königs. Andreas ließ sich die Gelegenheit, dem König zu begegnen, natürlich nicht entgehen und trat an ihre Seite, und auch Stephan schloss sich ihnen an, ein belustigtes Grinsen auf den Lippen.

»Dieses Bier ist vorzüglich! Ganz vorzüglich!«, lobte Maximilian gerade, und der Amtsmeister der Brauer strahlte vor Freude. »Es ist Keutebier«, erklärte er eifrig. »Es kommt ursprünglich aus den Niederlanden und wird aus Hopfen gemacht, mit einer Mischung aus Gerstenmalz, Weizen und Dinkel …«

Der Brauermeister unterbrach sich und blickte Maximilian fragend an. Seine Erläuterung schien das Interesse des Königs geweckt zu haben. Mit einem kurzen Winken bedeutete Maximilian ihm, fortzufahren.

»Und überdies ist Hopfen weit billiger als Gruit. Er wird in Kerpen und Düren angebaut, etwa auf halbem Weg nach Aachen. Die Gruit dagegen …«

»Ja?«

»Gruit ist ein Gemisch aus verschiedenen Kräutern und besteht im Wesentlichen aus Gagel, Harz, Ingwer, Lorbeer, Kümmel und Anis. Und wie Majestät sicher wissen, liegt das Gruitrecht beim Erzbischof, der es teuer verpachtet, und die Pächter wiederum verkaufen die Gruit teuer …«

Maximilian unterbrach den Brauer mit einer Handbewegung, bevor dieser sich weiter in Klagen über den Gruitpreis ergehen konnte. Es war immer dasselbe, wenn man mit diesen Bürgern sprach. Kaum lieh man ihnen sein Ohr, hatten sie nichts Besseres zu tun, als zu jammern und sich zu beklagen und ihn schlussendlich um ein Eingreifen zu ihren Gunsten zu bitten. »Warum klagt Ihr über den Gruitpreis, wenn Ihr selbst sagt, dass Hopfen günstiger zu haben ist? Fahrt doch einfach darin fort, dieses Hopfenbier zu brauen. Es ist wirklich wohlmundend«, beschied er dem Zunftmeister und winkte ihn lässig beiseite. Denn hinter dessen breitem Rücken hatte er ein ihm bekanntes Gesicht entdeckt, das ein weit vergnüglicheres Gespräch versprach.

Der aufmerksame Page stupste Lisbeth an, und sie sank in einen tiefen Knicks, die Herren an ihrer Seite verbeugten sich ehrfürchtig.

»Ihr seid jünger und hübscher geworden, seit Wir Euch zuletzt sahen – wie stellt Ihr das an?«, sprach der König Lisbeth aufgeräumt an. Das Obergärige hatte seinen Wangen Farbe verliehen, und er dünstete.

Eine feine Röte stieg auch Lisbeth zu Gesicht, breitete sich über Hals und Dekolleté – und das nun bereits zum dritten Mal an diesem Tag. Sie entsann sich genau des Abends, an dem sie dem König zum ersten Mal begegnet war. Nach seiner Krönung zum deutschen König hatte Maximilian gemeinsam mit seinem Vater, Kaiser Friedrich, Köln besucht. Doch es wäre gänzlich unpassend, den König an ihre erste Begegnung zu erinnern, denn er hatte sich damals in einer höchst prekären und gar nicht souveränen Lage befunden – bäuchlings im Stroh auf dem Marktplatz liegend. Bei einem Turnier, das man zu seinen Ehren auf dem Alter Markt veranstaltet hatte, war er gegen den Willen des Kaisers in die Schranken getreten und von Pfalzgraf Philipp unrühmlich aus dem Sattel gehoben worden. Der Kaiser hatte daraufhin befohlen, ihn in voller Rüstung liegen zu lassen, wo er war.

Bald zwanzig Jahre musste das nun her sein, rechnete Lisbeth nach. Sie war damals sieben Jahre alt gewesen. »Majestät belieben zu schmeicheln oder mich zu verwechseln«, antwortete sie höflich.

»Nein, nein!«, beharrte der König lachend. Ihm schien die Erinnerung an jene Episode gar nicht peinlich. »Sie war damals so mitfühlend, mir im Schutz der Dunkelheit aufzuhelfen – und dazu klug genug, es so anzustellen, dass sie dabei nicht den Befehl des Kaisers missachtete!«, erklärte er dem älteren Herrn, der neben ihm stand.

»Lutz…, Lutzkich…, ah, ja! Lützenkirchen!«

»Das ist sie nicht!«, sagte der ältere Herr ruhig.

»Das ist sie! Ich vergesse kein Gesicht!«, echauffierte sich Seine Majestät. »Kennt Ihr sie denn überhaupt?«

»Das Gesicht stimmt, Majestät. Aber sie ist es nicht.«

»Ist sie nicht?«

»Nein. Sie hat die falschen Augen!«

Maximilian blickte aufmerksam in Lisbeths braune Augen. »Das stimmt! Hackenay, Ihr versteht doch etwas von Frauen! Die andere hatte ganz ungewöhnliche Augen. Bernsteinfarben, wie die Eu…« Maximilian stockte, und ein verstehendes Grinsen breitete sich über sein Gesicht. »Hackenay! Mir schwant, Ihr kennt sie besser, als ich erwartet habe!«, rief er aus.

Sprachlos verfolgte Lisbeth den kurzen Disput der Herren, dessen Gegenstand sie war. Sie blickte von einem zum andern. Hackenay! Der Hof- und Rechenmeister des Königs. Das also war er – Fygens leiblicher Vater – und somit ihr, Lisbeths, Großvater.

Lisbeth wusste um die Zusammenhänge, das Geheimnis um die uneheliche Geburt ihrer Mutter, doch sie war Hackenay nie begegnet. Ihre Mutter und der Rechenmeister hatten keinen Umgang miteinander gepflegt, und soweit Lisbeth wusste, war Fygen ihrem Vater seit jenem schicksalhaften Empfang im königlichen Hof nicht mehr begegnet.

Für Lisbeth war Nikasius Hackenay immer nur eine schemenhafte Figur gewesen. Ein Mann, der die Verliebtheit eines jungen Mädchens ausgenutzt hatte, es zu verführen, und dann um seiner Karriere willen eine andere geehelicht hatte.

Eingehend, doch mit der vorsichtigen Distanz, mit der man ein seltenes Tier betrachtet, musterte sie den Mann, der ihr genauso wenig ein Großvater war wie der alte Wilhelm Lützenkirchen im fernen Valencia.

Der Rechenmeister war trotz seines Alters – er musste die sechzig lange überschritten haben – ein auffallend gutaussehender Mann. Er war groß gewachsen, hielt sich überdies sehr aufrecht, und sein sympathisches Gesicht unter dem eisgrauen Haar hatte eine gesunde Farbe. Seine ungewöhnlichen bernsteinfarbenen Augen – ja, die hatte er unverkennbar seiner Tochter vererbt. Nie, außer bei ihrer Mutter und jetzt bei Hackenay, hatte Lisbeth Augen von solcher Farbe gesehen.

Zwar hatten die Jahre Furchen um Mund und Nase in die ansprechenden Züge des Rechenmeisters gegraben, doch das Alter war schonend mit ihm umgegangen. Lisbeth konnte sich gut vorstellen, dass er dereinst in jungen Jahren so manch einem Weibsbild den Kopf verdreht haben mochte.

»Und wer seid Ihr nun?«, wandte sich der König wieder Lisbeth zu und riss sie aus ihrer Betrachtung.

»Die Tochter. Lisbeth Ime Hofe. An jenem Abend nach dem Turnier war ich zwar zugegen, doch ich war damals noch ein Kind. Es war meine Mutter, die Euch aufgeholfen hat.«

»So, die Tochter!«, stellte der Monarch mit einem Nicken fest und musterte sie eingehend. »Ihr steht Eurer Mutter in Liebreiz nicht nach! Bis auf die Augen, bedauerlicherweise …«

Lisbeth spürte, wie Andreas neben ihr einen winzigen Schritt näher trat und sich straffte.

Wie beabsichtigt nahm der König ihn zur Kenntnis.

»Euer Gemahl?«, fragte er und wies mit dem Kinn auf Andreas.

»Mein Schwager, Euer Majestät.«

Andreas verbeugte sich abermals.

Der Rechenmeister neigte sich seinem König zu und flüsterte: »Imhoff. Faktor der Fugger in Köln.«

Maximilian war angeheitert, doch er war nicht betrunken genug, eine Chance nicht zu erkennen, wenn sie sich ihm bot. Er war nun schon eine geraume Weile in der Stadt, und das Feiern war hier kostspielig. Die Gastwirte bestanden auf Bezahlung.

Einen Moment bedauerte Maximilian, dass seine Gemahlin Bianca Maria ihn nicht begleitet hatte. Doch sie weilte mit ihrem Hofstaat in Lienz. Andernfalls könnte er sie als Pfand zurücklassen, wie dereinst in Brabant und Worms, wenn er bei seiner Abreise seinen Verbindlichkeiten nicht würde nachkommen können. Doch es war fraglich, ob diese gewieften Stadtväter sich darauf überhaupt einlassen würden …

Nein, es war gut, dass Bianca ihn nicht begleitet hatte. Sie war so gänzlich uninteressant. Nichts Reizendes war an ihr. Sie war langweilig und unansehnlich. Ganz anders die Herzogin. Der König wandte den Kopf und schenkte der einzigen Dame an seiner Tafel ein vertrauliches Lächeln.

Vielleicht bot sich hier eine günstige Gelegenheit, seine private Schatulle aufzubessern, dachte Maximilian. Dieser aufgeblasene Wichtigtuer kam ihm gerade recht. »Ah, der Fuggerfaktor!«, sagte er aufgeräumt. »Was hört Ihr aus der goldenen Schreibstube?«

Ausnahmsweise verbot Andreas sich ein spöttisches Lächeln. Der König war stets im Bilde, wie es um die Geschäfte seines Dukatenesels in Augsburg stand. Und was der König nicht wusste, das wusste außer Jacob Fugger und vielleicht seinen Brüdern niemand.

»Im März ist die Flotte des portugiesischen Königs unter Franzisko de Almeida von Rastello aus Richtung Indien in See gestochen. Selbstverständlich ist unsere Gesellschaft maßgeblich beteiligt. Wir erwarten davon immense Gewinne«, prahlte er.

»Vorzüglich! Ganz vorzüglich! Sicherlich ist die kölnische eine der wichtigen, wenn nicht gar die wichtigste Faktorei der Fugger«, komplimentierte der König.

Das war reine Schmeichelei. Die kölnische Faktorei spielte im Handelsreich der Fugger, das von Lissabon im Westen, Neapel im Süden bis nach Riga im Norden bald die ganze bekannte Welt umspannte, eine untergeordnete Rolle. Um Stephans Mund zuckte es verdächtig ob dieser Übertreibung.

»Ihr müsst ein wohlhabender und einflussreicher Mann sein«, fuhr der König fort.

Andreas lächelte selbstgefällig.

»Das versetzt Euch wohl in die Lage, Unsere Majestät mit einem kleinen, sicherlich entbehrlichen, Darlehen zu erfreuen.«

Andreas nickte. »Selbstverständlich, Euer Majestät. Zu gerne.«

Das Zucken um Stephans Lippen wurde stärker. Für einen umsichtigen Kaufmann war es ein unsicheres Geschäft, dem König Geld zu leihen. Denn um die Bonität der Habsburger war es noch nie gut bestellt gewesen. Weder Maximilian noch sein Vater hatten sich je dadurch ausgezeichnet, ihren finanziellen Verbindlichkeiten pünktlich nachzukommen.

Der König nickte abschließend, und auf seinen Wink hin nahm Rechenmeister Hackenay den Fuggerfaktor zur Seite, um mit ihm die Einzelheiten zu besprechen.

Überraschend wandte Seine Majestät sich nun Stephan zu, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Er griff in die perlenbesetzte Börse, die ihm vom Gürtel hing, fingerte eine große Münze hervor und reichte sie Stephan. »Kauft Eurer Gemahlin etwas Schmückendes. Nicht dass sie selbst nicht Zierde genug ist, doch ein wenig Geschmeide steht jeder Frau gut zu Gesicht.«

Stephan verneigte sich und dankte, außerstande, das Missverständnis aufzuklären.

Eine weitere Verbeugung, ein Knicks von Lisbeth, und schon hatte der König sich wieder seinem gefüllten Becher zugewandt. Das war wirklich einmal ein gelungener Tag, fand er. Die Regenwolken hatten sich verzogen, und Sonnenstrahlen schickten bunte Lichter durch die bemalten Fenster herein. Doch Maximilian dachte nicht daran, dieses gastliche Zunfthaus zu verlassen. Mochten Bürgermeister van Berchem und seine kreuzlangweiligen Ratsherren doch zu ihrem festlichen Bankett empfangen, wen sie wollten, entschied er. Hier bei den Brauern war es alle Male vergnüglicher. Später würde er dann weiterziehen zum Tanz um das Johannisfeuer, das man vor den Toren der Stadt entzündete.

Und so warteten die Bürgermeister und die Ratsherren an diesem Johannistag vergebens auf das Erscheinen ihres Königs. Das war umso ärgerlicher, als die Stadtväter sich Maximilian mit einem opulenten Bankett besonders geneigt hatten machen wollen. Denn sie erhofften sich seine Unterstützung in einem Prozess, den Erzbischof Hermann von Hessen bei der Kurie gegen die Stadt angestrengt hatte. Sie konnten nicht ahnen, dass die kölnischen Brauer und später am Abend die Bürger beim Tanz um die Feuer dies mit ihrer Lebensart weit besser verstanden, als das erlesenste Bankett es vermochte.

Kleine Wölkchen stiegen vom Pflaster der Schildergasse auf, als Lisbeth und Stephan das Zunfthaus der Brauer verließen.

»Dann werde ich für meine Gemahlin mal etwas Geschmeide erstehen.« Stephan grinste und hakte sich gutgelaunt bei Lisbeth unter.

»Aber …«, hob Lisbeth an zu protestieren.

»Nichts aber«, unterbrach Stephan sie. »Heute sollst du einmal richtig Freude haben! Sag bloß, ich hätte bisher nicht gut für deine Unterhaltung gesorgt. Sogar einen lebenden König habe ich dir präsentiert!« Stephan zog eine gespielt beleidigte Miene, und Lisbeth musste hellauf lachen.

»Also gut«, willigte sie ein und ließ sich von ihrem Schwager in Richtung Unter Goldschläger führen, der Gasse, in der die Gold- und Silberschmiede ihre Werkstätten hatten.

»Ein wunderschönes Stück für die Frau Gemahlin«, bemerkte der Silberschmied und legte Lisbeth ein Armband um das Handgelenk. Es war eine kunstfertige Arbeit. Die großen Glieder der Kette fügten sich perfekt ineinander, ohne dass man daran eine Schmelzstelle hätte erkennen können.

Lisbeth unterdrückte ein Kichern. Heute schien jedermann sie für Stephans Frau zu halten. Angetan strich sie mit dem Finger über das matte Silber. Das kühle Metall wog schwer und bildete einen hübschen Kontrast zu ihrer zart gebräunten Haut.

»Wie zierlich deine Handgelenke sind«, bemerkte Stephan. »Man sieht ihnen die Weberei gar nicht an.«

»Nun lass es mal gut sein mit den Komplimenten!« Lisbeth lachte. »Sonst steigen sie mir am Ende noch zu Kopf.«

»Was soll das gute Stück denn kosten?«, erkundigte sich der vermeintliche Gemahl.

Der Silberschmied nannte einen unanständig überhöhten Preis, Auftakt zu einer zähen Verhandlung. Als sich die Angebote nach langem Feilschen merklich angeglichen hatten, gab der Silberschmied vor, mit sich zu ringen. Nur, wie er betonte, weil er Frau und Kinderschar zu unterhalten hätte, nannte er schließlich einen Preis, der Stephan akzeptabel erschien.

»Einverstanden!«, sagte dieser.

»Aber das ist weit mehr, als der König dir gegeben hat!«, mischte Lisbeth sich ein.

»Sch!«, machte Stephan. »Wir nehmen es!« Er reichte dem Silberschmied die Münze des Königs und legte noch ein paar aus dem eigenen Säckel dazu. »Und jetzt auf zum Tanz am Johannisfeuer!«

Für einen Moment erwachte in Lisbeth das Pflichtbewusstsein. Der Nachmittag war schon recht fortgeschritten, und Mertyn würde vielleicht bald nach Hause kommen. Wie sollte sie ihm ihr Ausbleiben erklären, wenn sie nach ihm heimkäme?

Doch diesmal widersprach sie Stephan nicht. Seit langem hatte sie nicht so viel Freude gehabt wie an diesem Tag. Mochte ihr Gatte sich doch mit seinen kreuzlangweiligen Kollegen vom Wollenamt die Ohren heißreden, dachte sie mutwillig.

Hätte Lisbeth gewusst, wie sehr ihre Gedanken an diesem Abend denen des Königs glichen, es hätte sicherlich zu ihrer Erheiterung beigetragen.