Teil II
1502 bis 1504
8. Kapitel
Abwesend blickte Lisbeth in den Regen hinaus, den der böige Herbstwind gegen die bemalten Glasscheiben des Hauses Xanten fegte. Die Treppengiebel des gegenüberliegenden Hauses erschienen ihr unnatürlich weit entfernt und unwirklich – so entfernt und unwirklich wie ihr eigenes Leben. Lisbeth seufzte. Sie war nicht unglücklich, dafür hatte sie beileibe keinen Grund, doch sie war auch nicht glücklich.
Nach wie vor liebte Lisbeth die Seidenweberei. Ihre Begeisterung für die feinen Garne und die schimmernden Stoffe, die sie in ihrer Kindheit magisch in Fygens Werkstatt getrieben hatte, war nicht geringer geworden. Und doch fehlte etwas in ihrem Leben. Etwas, das ihr Ermunterung und Antrieb war. Etwas, das sie des Morgens voller Tatendrang aus dem Bett springen und ihr Tagwerk beginnen ließ.
In den vergangenen Jahren war es ihr gelungen, die beiden Webereien, die sie von Mutter und Schwiegermutter übernommen hatte, zu einer einzigen Manufaktur zu vereinen, der nunmehr größten der Stadt. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten mit Stina hatten mittlerweile alle, auch Katryns altgediente Seidmacherinnen, die junge Frau Ime Hofe als ihre Dienstherrin akzeptiert und folgten ihren Anweisungen, ohne zu murren. Ihre Ware stand in gutem Ruf, nicht zuletzt dank der feinen Rohseide, die der Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft und neue Gemahl ihrer Mutter, Senyor de la Vega, nach Köln sandte und die Herman ihr natürlich bevorzugt zum Kauf anbot.
Immer noch war es für Lisbeth eine seltsame Vorstellung, ihre Mutter in diesem fernen Land zu wissen. Doch Fygen schien glücklich zu sein in ihrem neuen Leben, das war den Briefen aus Valencia deutlich zu entnehmen. Der alte Eckert war bei ihr geblieben und schien seinen ruhigen Lebensabend unter der südlichen Sonne zu genießen. Seinen betagten Knochen behagte das milde Klima und ihm die valencianischen Weinzapfe, in denen er sich die Zeit beim Würfeln vertrieb, wenn er seiner Herrin nicht zu Diensten war.
Ein Lächeln schlich sich auf Lisbeths Lippen, als sie sich vorstellte, wie ihre Mutter voller Eifer daran arbeitete, in ihrer neuen Heimat eine Seidenweberei aufzubauen mit Frauen, deren Sprache sie kaum sprach. Das war eine Herausforderung so recht nach Fygens Geschmack, dachte Lisbeth, und abermals seufzte sie. Sie beneidete ihre Mutter ein wenig um deren Aufgabe.
Dabei war sie mit ihrer Weberei durchaus ausgelastet. Von früh bis spät war sie damit beschäftigt, die nunmehr sechs angestellten Seidmacherinnen, sechs Lehrmädchen und die vier Hilfskräfte zur Arbeit anzuhalten und darüber hinaus die Weberinnen, die für sie in ihren eigenen Werkstätten webten, mit Garn zu versorgen und die Qualität ihrer Gewebe zu überwachen.
Vielleicht wäre es anders, wenn ich Kinder hätte, dachte Lisbeth niedergeschlagen.
»Lisbeth, meine Liebe! Nehmt doch noch eines von den Marzipanküchlein. Oder ein Stück Reisgebäck mit Zimt?« Brigitta van Berchem riss sie aus ihren trüben Gedanken.
Lisbeth dankte ihrer Gastgeberin höflich und bediente sich von der Platte mit feinem Gebäck, obwohl sie keinen rechten Appetit verspürte.
Es war behaglich in der Stube der Berchem-Schwestern. Im Kamin bleckte ein wärmendes Feuer. Öllichter erhellten die Stube, denn obwohl der Vormittag bereits vorangeschritten war, schien es heute nicht recht tagen zu wollen. Der starke Würzwein, ein guter, wie Lisbeth bemerkte, gesüßt und mit Zimt, Nelken und Ingwer abgeschmeckt, hatte die Stimmung der Damen gehoben und ihnen eine kleidsame Röte auf die Wangen gezaubert.
Eine Zunftversammlung war das nicht, doch man bekam leicht diesen Eindruck, denn bei dem Kränzchen, zu dem Brigitta und Gunda van Berchem geladen hatten, waren nur Seidmacherinnen zugegen. Wenn auch bei weitem nicht alle, wie Lisbeth feststellte. Nur die Erfolgreichen waren geladen, und keine unter ihnen, die weniger als vier Lehrtöchter und darüber hinaus ausgelernte Seidenweberinnen und Hilfskräfte beschäftigte.
Ein Treffen des Zunftvorstandes war diese Zusammenkunft jedoch auch nicht. Abgesehen davon, dass sie dafür zu viele waren und sich keine die Mühe machte, Protokoll zu führen, gab es keinen gewählten Zunftvorstand mehr. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich Anfang des vergangenen Jahres kein Termin für eine Neuwahl des Vorstandes finden lassen. Zunächst war einer nach dem anderen aus dem alten Vorstand erkrankt, dann wieder weilten die meisten Zunftmitglieder in Frankfurt auf der Messe. Wieder und wieder war die Wahl verschoben worden, bis man es schließlich aufgegeben hatte.
»Wozu sollte man sich auch die Mühe einer Wahl machen?«, hatte Brigitta van Berchem schließlich bemerkt. »Es sind ohnehin immer dieselben, die zu Zunftmeistern gewählt werden. Überdies sehen wir uns ja laufend. Die wenigen Zunftangelegenheiten können wir auch dann besprechen. Dafür muss man doch keine besonderen Treffen veranstalten …«
So war Brigitta mit schöner Selbstverständlichkeit einfach darin fortgefahren, sich um die Geschicke der Zunft zu kümmern. Und da sie dies kaum schlechter oder besser tat als andere vor ihr, hatte sich niemand daran gestört – es war ohnehin eine Pflicht, die Zeit kostete und eine tüchtige Seidmacherin daran hinderte, sich um ihr eigenes Geschäft zu kümmern. Nur vereinzelt hatte es Stimmen gegeben, die mahnten, das wäre nicht rechtens, doch die waren alsbald verstummt.
Die Seidmacherinnen in Brigittas Stube hatten sich in zwei Grüppchen zusammengefunden, die sich im Alter deutlich unterschieden. Während sich die Jüngeren, Veronika van Herten, Mechthild van der Sar und Katharina Loubach, alle wie Lisbeth Anfang der zwanzig, um den Tisch mit süßen Köstlichkeiten scharten, drängten die Älteren sich vor dem Kamin zusammen, die Hände um ihre Becher mit wärmendem Würzwein geschlungen. Frieda Medman, Mettel van Hielden und Adelheid Liblar, die Schwiegertochter des gewichtigen Johann Liblar, waren in den Vierzigern, Genovefa van Wychtericht hatte gar die fünfzig überschritten.
»Ein paar arme Wichter haben den Rat gebeten, Parger herstellen zu dürfen – stellt Euch das vor!«, erregte sich die Gastgeberin, an Lisbeth gewandt, doch laut genug, um die Umstehenden in das Gespräch mit einzubeziehen.
Lisbeth nickte. Sie hatte von dem Ansinnen der ärmeren Seidmacherinnen gehört, einen halbseidenen Stoff weben zu dürfen, weil es ihnen an Geld mangelte, ausschließlich Seide zu verweben. Sie hatte Verständnis für das Ansinnen, doch bevor sie diese Ansicht äußern konnte, zischte Mechthild van der Sar: »Die sollen nur nicht rumjammern! Mit ihrer Faulheit sind sie ja selbst schuld daran, wenn sie kein Geld für Rohseide haben!«
Mechthild, die Schwiegertochter der verkniffenen Gertrud van der Sar, hätte mit ihrem dürren Hals, der langen Nase und ihrer stets säuerlichen Miene ohne weiteres als deren leibliche Tochter durchgehen können und stand ihrer Schwiegermutter auch an Selbstgerechtigkeit und Arroganz in nichts nach. Bei ihrer Heirat mit Dres van der Sar, der einer der letzten gewählten Zunftmeister gewesen war, hatten Lisbeth und Clairgin hinter vorgehaltener Hand gelästert, Gertrud hätte Mechthild nach ihrem Ebenbild für ihren Sohn ausgesucht, doch Stephan hatte ihnen lachend widersprochen: »Da liegt ihr ganz falsch. Dres hat Mechthild ganz bewusst gewählt. Jetzt hat er sich schon einmal an eine Zange gewöhnt – warum soll er sich umgewöhnen, nur weil er heiratet?«
»Bloß weil sie ärmer sind, müssen sie doch nicht faul sein«, widersprach Katharina Loubach ruhig. Katharina, eine ernste junge Frau mit länglichem Gesicht und flacher Stirn, war durch Heirat verwandt mit der Seidspinnerin Barbara Loubach und deren Tochter, Apolonia, die für Lisbeth arbeitete.
»Na, wenn sie fleißiger wären, könnten sie sich genug Rohseide leisten und müssten nicht so einen Driss fertigen«, gab Mechthild triumphierend zurück und blickte beifallheischend in die Runde.
Nun wandten sich auch die älteren Damen vom wärmenden Kamin ab und den jüngeren Frauen zu.
»Faul oder nicht – dieser Parger ist eine Schande für die Zunft. Wir sind Seidmacherinnen und keine Leinweberinnen!« Frieda Medmans Kinn schaukelte sichtlich empört. Bei dem Wort »Leinweberinnen« legte sich ein angewiderter Zug um ihre fleischigen Lippen, der deutlich machte, wie sehr sie es für unter ihrer Würde erachtete, minderwertiges Material zu verarbeiten wie etwa Flachs oder Baumwolle.
Lisbeth wagte, der gewichtigen Seidmacherin zu widersprechen. »Warum sollte man es ihnen denn nicht gestatten? Solange deutlich kenntlich gemacht wird, dass es sich nicht um reine Seidenstoffe handelt, damit niemand betrogen wird, kann es doch kein Schaden sein.«
»Aber Kindchen!«, mischte sich nun Brigitta van Berchem ein. Die Gastgeberin hatte bislang geschwiegen, doch nun bedachte sie Lisbeth mit einem nachsichtigen Kopfschütteln. »Wie Frieda richtig gesagt hat: Wir sind Seidenweberinnen. Wenn einige von uns Leinen verweben, weiß man ja nicht mehr, wer überhaupt noch Seidenweberin ist.«
»Oder Leinweberin«, ergänzte ihre Schwester Gunda überflüssigerweise und stellte eine duftende Platte mit in siedendem Fett gebackenen Apfelküchlein auf den Tisch.
»Sollen sie doch zu den Leinwebern gehen!«, warf Mechthild van der Sar dazwischen.
»Das Mischgewebe könnte aber auch seinen Nutzen haben«, überlegte Lisbeth laut. »Vielleicht für Kunden, die sich keine reinen Seidenstoffe leisten können, die sich aber doch etwas Luxus wünschen.« Sie war von Brigittas Argumenten nicht überzeugt und sah nicht ein, warum man den ärmeren Seidenweberinnen nicht gestatten sollte, Parger zu weben, wenn es ihnen dabei half, zu überleben und ihr Handwerk weiterhin selbständig auszuüben. »Ich glaube nicht, dass der Zunft ein Schaden daraus erwächst.«
»Die Entscheidung liegt ohnehin beim Rat und nicht bei uns.« Katharina Loubach bemühte sich, zu vermitteln, und legte Lisbeth besänftigend die Hand auf den Arm.
Für einen Augenblick senkte Brigitta ihren scharfen, an einen Raubvogel gemahnenden Blick in Lisbeths Augen, doch sogleich wandelte sich der harsche Ausdruck auf ihrem kantigen Gesicht, und Nachsicht glättete die Falten neben ihrer spitzen Nase. »Wie schön es wäre, wenn du recht hättest«, sagte sie, als spräche sie mit einem Kind, das noch zu jung war, um die Zusammenhänge zu begreifen. »Doch wir dürfen nicht leichtfertig ein Risiko eingehen. Darin sind wir uns doch einig?« Mit einem Blick in die Runde versicherte sich die Seidmacherin der Zustimmung der Anwesenden.
Lisbeth bemerkte, dass außer ihr anscheinend nur Katharina Loubach anderer Meinung war. Doch Katharina enthielt sich eines Kommentares, und Lisbeth selbst fehlte die Kraft, abermals ihre Argumente vorzubringen. Vielleicht besaßen die älteren Seidmacherinnen in diesen Dingen den größeren Weitblick?
Brigitta nahm die Zustimmung wohlwollend zur Kenntnis. »Ihr wisst ja, wie sehr mir das Wohl unserer Zunft am Herzen liegt. Deshalb werde ich mit meinem Oheim, dem Bürgermeister, sprechen. Vielleicht gelingt es mir, ihn davon zu überzeugen, dass es das Wohl der ganzen Seidmacherzunft gefährdet, wenn der Rat diesem Ansinnen einiger Unüberlegter stattgibt.«
Mechthild van der Sar und Frieda murmelten beifällig, und ganz so, als wäre hier nicht gerade eine wichtige Entscheidung, die Belange der Zunft betreffend, gefallen, ergriff Brigitta als aufmerksame Gastgeberin eine Platte mit Gebäck und nötigte ihren Gästen wohlschmeckende Schmalzküchlein auf. Gunda beeilte sich, den Frauen die Becher neu zu füllen, und alsbald wandten sich die Gespräche der Frauen alltäglicheren Themen zu.
Mit ihrem gefüllten Becher nahm Lisbeth wieder ihren Platz am Fenster ein. Ihre Gedanken mochten sich noch nicht von dem soeben Geschehenen lösen. Rechtens und gemäß dem Zunftbrief war das sicher nicht gewesen. Was hier soeben bei Wein und Gebäck entschieden worden war, wäre ehedem vom Zunftvorstand bei einer Zunftsitzung besprochen worden, von zwei von der gesamten Zunft gewählten Amtsmeistern und zwei Amtsmeisterinnen. Aber ob die Entscheidung eines ordentlich gewählten Vorstandes anders ausgefallen wäre, wusste Lisbeth auch nicht zu sagen.
»… und weißt du schon, wer in Umständen ist?«, drängte sich ein Satzfetzen laut in Lisbeths Gedanken hinein, als wären die Worte eigens für sie gesprochen worden.
»Liese von Geyen!« Der Spott in Mechthild van der Sars Stimme war nicht zu überhören.
»Das ist doch nicht möglich! Die Ärmste kann doch gar keine Kinder kriegen!« Veronika van Hertens Mitleid mit Liese traf Lisbeth mehr als Mechthilds Häme, und sie presste die Lippen aufeinander.
»Doch, wenn ich es sage! Stolz wie ein Huhn, das ein Ei legt, gackert sie es überall herum.«
Lisbeth rückte ein Stück näher an Mechthild und Veronika heran, um sie besser verstehen zu können.
Mechthilds Kopf zuckte zu ihr herum. »Oh, wie taktlos von mir, du kannst ja auch keine …« Mit verlegener Geste schlug sie die Hand vor den Mund, doch ihre Augen funkelten mutwillig.
Lisbeth stieg das Blut zu Kopfe. Mit zusammengebissenen Zähnen rang sie sich dennoch ein Lächeln ab.
»Es geschehen doch Wunder!« Veronika schien sich für Liese zu freuen.
»Na, ein Wunder würde ich das nicht nennen«, bemerkte Mechthild lakonisch und senkte verschwörerisch die Stimme. »Eher Teufelswerk.«
»Teufelswerk?«, hauchte Veronika gespannt.
Mechthild zog geheimnisvoll die Brauen hoch. »Sie hat es ihrer Schwester Dörte gesagt, und die hat es meiner Base Gunda erzählt, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit …«
»Was hat sie erzählt?«, drängte Veronika ungeduldig.
Lisbeth hatte sich nun zu den beiden umgewandt und konnte nicht umhin, genauso gespannt wie Veronika an Mechthilds Lippen zu hängen.
»Sie war bei einer Heidin!«
»Nein!«
»Doch, sicher!« Mechthild neigte den Kopf zu Veronikas Ohr und hielt die Hand vor den Mund. »Sie war bei den Fahrenden, die vor dem Hahnentor lagern. Und eine von ihnen hat ihr ein Wundermittel gegeben!«, flüsterte sie laut genug, dass Lisbeth sie verstand.
»Und?«, fragte Veronika, begierig auf schauerliche Einzelheiten.
Doch Mechthild enttäuschte sie. »Nichts und! Es hat gewirkt.«
Clairgin warf sich ihren abgetragenen Wollumhang um die Schultern und schlug die Kapuze über ihre Haube, die an den Rändern bereits etwas angeschlissen war, bevor sie sich das unförmige Bündel auf die Schultern lud. Vielleicht war es ja doch ein wenig zu schwer geraten, dachte sie, aber bis zum Rheinufer würde sie es wohl schaffen.
Ein kühler Herbstwind wehte ihr vom Fluss entgegen, trieb ihr den Rock gegen die Beine, und als sie endlich schwer atmend den Anleger der Schalde nach Deutz erreichte, hatte ihr die Anstrengung das Gesicht gerötet.
Clairgin war nicht unglücklich darüber. Verdeckte die Röte doch die unschönen Flecken, die sich stets auf ihrer Haut zeigten und sie verrieten, sobald sie sich erregte. Und Clairgin war erregt. Sie hatte das Gefühl, unzählige Augenpaare würden sie verfolgen und ein jedes sähe ihr schon von weitem an, dass sie etwas Unredliches tat.
So ein Unsinn, schalt sie sich, als sie mit dem Bündel über den Rand der Schalde kletterte, jenem flachen Kahn, der den Fährdienst zwischen Köln und Deutz am gegenüberliegenden Rheinufer versah. Niemand nähme Notiz von der unscheinbaren Gestalt, die wie eine dunkle Krähe zwischen den anderen Weibern hockte, meist Butterverkäuferinnen und Milchmädchen von der schäl Sick, die ihre Ware in der Stadt zu Markte getragen hatten und nun am Nachmittag heimkehrten. Zwar waren deren Kannen, Körbe und Harassen leer bis auf wenige unverkäufliche Reste, während Clairgins Bündel prall gefüllt war, doch das schien keinen zu interessieren, wie Clairgin mit Erleichterung feststellte. Die meisten Mitreisenden starrten müde auf ihre Füße, und ohnehin zog man bei diesem Wetter lieber den Kopf unter die Hauben.
Doch ganz so unrecht hatte Clairgin mit ihrer Befürchtung nicht. Es waren zwar nicht ungezählte Augenpaare, die ihr gefolgt waren, als sie das Haus verließ, sondern ein einziges, ein grau-grünes. Doch das war ausreichend. Denn es gehörte Jacoba.
Seit ein paar Tagen schon hatte Clairgins mittlerweile ältestes Lehrmädchen ihre Lehrherrin aufmerksam beobachtet, wobei es ihr weniger darum ging, diese bei einer Missetat zu ertappen, als vielmehr darum, eine günstige Gelegenheit abzupassen, ihrerseits von Clairgin unbemerkt entwischen zu können.
Die Verstohlenheit, mit der Clairgin ein schweres Bündel selbst geschultert und das Haus verlassen hatte, hatte Jacoba aufmerken lassen, und so war sie ihrer Lehrherrin in sicherem Abstand zum Rheinufer hinabgefolgt.
Als sie nun sah, wie Clairgin auf die Schalde stieg, spannte ein listiges Lächeln ihre schmalen Lippen. Das kam ihr sehr zupass, denn was sie vorhatte, würde ein wenig Zeit in Anspruch nehmen. Und jetzt konnte sie sicher sein, dass es eine geraume Weile dauern würde, bis ihre Lehrherrin zurückkehren würde. Beschwingt machte sie sich auf den Weg, um nur kurz darauf einen schweren Klopfer gegen eine rote Tür zu schlagen.
»Aber warum willst du zu mir kommen?« Lisbeth blickte Jacoba überrascht in das frisch gewaschene Gesicht. »Wenn ich dich recht verstanden habe, hast du nur noch ein halbes Jahr zu lernen.«
Jacoba schaute zu Boden, und Lisbeth erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter und Katryn so oft erzählt hatten. Es kam ihr so vor, als sei sie dabei gewesen, als der einflussreiche Herr Lützenkirchen, damals angesehener Vorstand im Seidamt, das junge Lehrmädchen Fygen aus den Fängen ihrer grausamen Lehrherrin Mettel befreit hatte. Freilich hatte Mettel ihre Nichte schuften lassen bis zum Umfallen, sie gekniffen, geschlagen und ihr kaum zu essen gegeben. Von den Schikanen, die Fygen von Mettels missgünstiger Tochter Grete zu erdulden gehabt hatte, ganz zu schweigen.
Doch das Mädchen, das hier vor ihr stand, war weder schlecht genährt, noch wies es Anzeichen von Misshandlungen auf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Lehrherrin dich schlägt oder dir nicht genug zu essen gibt«, sagte Lisbeth streng.
»Nein, das ist es nicht …«, druckste Jacoba herum.
»Sondern?«, forschte Lisbeth nach.
»Nun, äh … also …«
»Also was?« Lisbeth verlor allmählich die Geduld. Sie hatte Dringlicheres zu erledigen, als sich mit den Animositäten eines Lehrmädchens herumzuschlagen, dass nicht einmal ihr eigenes war. In der Werkstatt wartete der Färbergeselle darauf, dass sie seine Arbeit überprüfte und ihm den Lohn für seinen Herrn ausbezahlte.
»Es ist schon etwas anderes, bei Euch zu lernen, oder bei Frieda Medman oder bei den Berchem-Schwestern. Ihr habt einen besseren Ruf. Eure Lehrmädchen haben die hübscheren Kleider, bekommen besseres Essen und wohnen in schöneren Häusern …«
Ob dieser Undankbarkeit stieg Lisbeth die Zornesröte ins Gesicht. Als Jacoba, kurz nachdem sie zu Clairgin gekommen war, schwer erkrankt war, hatte ihre Lehrherrin nicht geknausert, sondern die Kosten für ihre Behandlung übernommen und sie mit eigener Hand gesund gepflegt.
Und jetzt wollte Jacoba ihrer Lehrherrin diese Großzügigkeit vergelten, indem sie sie vor der Zeit verließ. Und das aus so schnöden Gründen wie hübscheren Kleidern und einem Stück Selchfleisch mehr in der Woche. Lisbeth schnaubte leise durch die Nase.
Es wäre ein Verlust für Clairgin, wenn Jacoba sie vor der Zeit verließe. Schließlich war die gute Arbeit, die ein Mädchen im letzten Lehrjahr für ihre Lehrherrin leistete, der Lohn für die gute Ausbildung und für alles, was eine Lehrherrin in das Mädchen investiert hatte. Von den besonderen Kosten, die Clairgin mit Jacoba gehabt hatte, einmal abgesehen. Es wäre einfach ungerecht, wenn eine andere Lehrherrin die Früchte erntete, die Clairgin gesät hatte.
Barsch beschied sie Jacoba: »Nein, zu mir kannst du nicht kommen.« Wenn das Mädchen unbedingt die Lehrstelle wechseln wollte, so konnte man das zwar kaum verhindern, doch Lisbeth würde dem sicher keinen Vorschub leisten.
Jacoba zuckte mit den Schultern und knickste nachlässig. Wenn Frau Ime Hofe sie nicht wollte, so war das nicht weiter schlimm. Dann würde sie eben zu den Berchem-Schwestern gehen. Und sie wusste Brigitta van Berchem auch einen guten Grund zu nennen, warum diese sie unbedingt einstellen müsste. Eine Neuigkeit, mit der sie ihrer künftigen Lehrherrin sicher eine Freude bereiten würde. Als Antrittsgeld sozusagen.
Während Jacoba sich zum Gehen wandte, nahm Lisbeth sich vor, mit Clairgin über die Angelegenheit zu sprechen. Es würde sicher nicht schaden, wenn diese über ihr undankbares Lehrmädchen Bescheid wüsste. Gleich, wenn sie mit dem Färbergesellen fertig wäre, würde sie zu Clairgin gehen. Sie hatte die Freundin ohnehin schon viel zu lange nicht mehr gesehen.
Vielleicht wäre Lisbeth und Clairgin einiger Unbill erspart geblieben, wenn nicht in dem Moment polternd der Hausknecht der Hers ins Haus Zur Roten Tür geplatzt wäre.
Die kopflose Tante Fya hatte ihn geschickt. Der Vater ihres Gatten Hans, jener erfahrene Transporteur, der Fygen und Eckert sicher über die Alpen geleitet hatte, war plötzlich verstorben. Ihr Gemahl weilte in Antwerpen, und jetzt wusste Fya nicht, was sie mit dem Leichnam machen sollte, den man ihr ins Haus gebracht hatte.
Lisbeth vergaß Clairgins Lehrmädchen Jacoba und eilte ihrer Schwester zu Hilfe.
Die Fahrenden lagerten bereits eine geraume Weile mit ihren bunten Wagen vor dem Hahnentor, und da man nie wissen konnte, wann sie der Stadt plötzlich überdrüssig wären, ihre Habe auf die Karren laden und sich im Dunkel der Nacht davonstehlen würden, hatte Lisbeth sich alsbald nach dem Kränzchen im Haus Xanten auf den Weg zu ihnen gemacht.
Als sie die kleine Wagenstadt erreichte, drang eine fremd klingende Weise an ihr Ohr. Doch sonst war es ruhig im Lager. An der Feuerstelle, um die sich die Handvoll Wagen drängten, als suchten sie dort Schutz und Wärme, saßen nur ein alter Mann und ein junger Bursche. Argwöhnisch musterten sie Lisbeth aus dunklen Augen, die zwischen struppigen Bärten und wildem Haar hervorblitzten. Es kam nicht oft vor, dass Bürger der Stadt den Lagerplatz aufsuchten.
Die anderen Zigeuner der Sippe schienen in Geschäften in der Stadt unterwegs zu sein, boten ihre Dienste als Kesselflicker oder Musiker an, übten sich in verstohlenen Diebereien oder weissagten den Menschen, die mutig genug waren, das Schicksal erfahren zu wollen, eine blühende Zukunft voraus.
Als Lisbeth zu den beiden Männern ans Feuer trat, verstummte die Melodie.
»Latscho dives!«, grüßte der Alte und stieß den Burschen mit dem Ellbogen in die Seite. Dieser legte daraufhin die Flöte aus den Händen, erhob sich und führte Lisbeth zielstrebig zu einem der Wagen.
Auf den hölzernen Trittstufen, die in das Innere des Karrens führten, saß eine Frau, nur wenig älter als Lisbeth selbst. Sie trug ein helles Hemd und allerlei Flitter um den Hals und an den Armen, und von ihren Ohren baumelten Ringe, die bei jeder Bewegung ihres kleinen Kopfes leise klimperten. Um ihre hüftlangen schwarzen Zöpfe hatte sie ein orangefarbenes Tuch gebunden, dessen Kanten von farbigen Perlen gesäumt wurden.
Überraschend weiße Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht der Frau auf, als sie lächelnd ihren leuchtend gelben Rock zusammenraffte und auf der Stufe zur Seite rutschte. Mit einer anmutigen Geste, die die kupfernen Reifen an ihren Armen zum Klirren brachte, bedeutete sie Lisbeth, sich neben ihr niederzulassen.
Als Lisbeth sich setzte, nahm sie den schweren süßlichen Duft wahr, der von der Frau ausging.
Der schmutzig graue Hund, der zu ihren Füßen im Staub lag, hob kurz den Kopf, gähnte und kratzte sich ausgiebig mit der Pfote hinter dem Ohr. Der Bursche verschwand, und wenige Augenblicke darauf setzte das Flötenspiel wieder ein.
Ohne ein Wort griff die Zigeunerin nach Lisbeths Hand und drehte die Handfläche zu sich hin. Aufmerksam betrachtete sie die Länge und die Form der Finger, fuhr dann mit ihrem Zeigefinger die Linien in der Fläche nach. »Gute Hand!«, sagte sie. »Viel gesund! Glückliche lange Leben.«
Die Zigeunerin schenkte Lisbeth ein breites Lächeln. »Was willst du? Mann hast du, Glück hast du. Kinder hast du.«
Lisbeths Miene umwölkte sich, und hastig entzog sie der Frau ihre Hand.
»Keine Kinder? Hier steht anders!« Die Zigeunerin furchte die Stirn und tippte mit dem Finger auf Lisbeths Hand, die diese an ihre Brust gepresst hielt.
»Nein, keine Kinder«, bestätigte Lisbeth.
»Oh, macht nix! Kommt schon!« Mit einem leisen Lachen erhob die Zigeunerin sich und verschwand im Innern des Wagens, um nur wenige Augenblicke darauf zurückzukehren, in der Hand ein zerdrücktes Päckchen, das sie Lisbeth reichte. Mit Nachdruck schloss sie deren Hände darum. »Ist Knochen in Herz von Tier in Wald. Große Tier mit so …« Die Frau hob beide Arme an den Kopf, um ein Geweih zu imitieren.
»Hirsch«, sagte Lisbeth, und die Zigeunerin nickte.
»Hirsch! Geht heraus ohne Messer. Nimmst du, bevor du machst Liebe mit deine Mann!«
Mit einem leisen Schnauben legte Lisbeth das zerdrückte Päckchen am Abend neben die Truhe in ihrer Schlafkammer. »… bevor du machst Liebe mit deine Mann …«, wiederholte sie die Worte der Zigeunerin. Woher sollte sie denn im Voraus wissen, wann Mertyn Lust darauf verspürte, den Leib seiner Gemahlin mit seiner Aufmerksamkeit zu beehren, anstatt sich wie meist müde auf der Bettstatt auf die Seite zu rollen?
Vorsichtig wickelte Lisbeth den schmutzigen Lumpen von dem Päckchen, und ein kleines Häufchen blassen Pulvers kam zum Vorschein. Sie betrachtete es und fragte sich, ob sie dieses Zaubermittel wirklich ausprobieren sollte. Doch dann streute sie es entschlossen in einen Becher, füllte diesen mit verdünntem Wein aus dem Krug auf, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, leerte sie den Becher, ohne ihn ein Mal abzusetzen.
Mit einem kleinen grimmigen Lächeln stellte sie den Becher beiseite und hob den Deckel von der Truhe, in der sie ihre Leibwäsche aufbewahrte. Sie nahm ein neues Nachtgewand heraus und breitete es auf der Bettstatt aus. Das zarte leinene Hemd war an Saum und Ärmeln mit flandrischer Spitze besetzt, und ein seidenes Band hielt den Ausschnitt zusammen. Sorgfältig löste Lisbeth das Band und erweiterte den Ausschnitt großzügig, bevor sie es wieder mit einer Schleife band. Dann stieg sie aus ihren Kleidern und streifte sich das Nachthemd über den Kopf. Zuletzt tupfte sie sich ein wenig Duftwasser auf das Dekolleté und schlüpfte zwischen die Laken. Nun sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis Mertyn nach Hause kam …
Es war eine sehr gemischte Gesellschaft, die sich im Hinterzimmer des Goldenen Krützchens traf. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen die Männer, einzeln, mal zu zweien. Sie traten durch die Seitentür, schlichen durch Rudolfs Küche und gelangten, von den gewöhnlichen Zechenden in der Schankstube ungesehen, ins hintere Zimmer.
Rudolf kannte die meisten von ihnen. Es waren Handwerksgesellen, Steinmetze, Harnischmacher, Goldschmiede, Topfschläger, Bäcker und Weber. Und ein paar junge Hitzköpfe aus wohlhabenden Häusern. Darunter zu Rudolfs Erstaunen auch Mertyn Ime Hofe.
Rudolf wusste nicht genau, worüber die Männer sprachen. Dass man über Politik redete und sich damit gegen den Rat wandte, der solche heimlichen Zusammenkünfte streng verbot, war ihm klar, doch mehr wollte Rudolf gar nicht wissen. Halt disch erus, dann küsste nit erin – halt dich raus, dann gerätst du nicht in Schwierigkeiten, war das Motto, mit dem er als Wirt stets gut gefahren war.
Rudolf bediente die Gäste im Hinterzimmer selbst. Darauf legten die Herren großen Wert, mochten Rudolfs Schankmädchen auch noch so hübsch sein. So auch jetzt, als er mit einem Tablett voll gefüllter Weinkrüge in das hintere Zimmer trat.
»Die Kassen sind leer wie der Magen eines Hundes«, klagte einer der Steinmetze, ein hagerer Mann mit scharfkantigem Gesicht, das aussah, als sei es mit einem Messer geschnitzt worden. Rudolf kannte ihn, er arbeitete an der Dombauhütte. »Wir zahlen uns dusselig an Steuern, und was machen der von Rheidt und all die gnädigen Herren vom Rat? Allen voran unser feiner Bürgermeister Johann van Berchem?« Beifallheischend blickte er in die Runde. Dann griff er nach dem Krug und nahm einen Schluck Wein, bevor er selbst die Antwort gab: »Ich sag’s euch. Die Taschen machen die sich voll! So ist das!« Er nickte bekräftigend, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, und stellte den Krug mit einem deftigen Krachen auf dem Tisch vor sich ab.
»Der Berchem soll sogar seinen eigenen Diener aus der Stadtkasse bezahlen, heißt es«, fügte ein junger Bursche hinzu, der kecken Mütze nach zu urteilen, die er auf den langen Locken trug, ein Student der Universität. »Und die Weinherren schaffen den Ratswein in die eigenen Keller.«
»Sie verschachern die einträglichsten Pöstchen untereinander«, klagte ein spitzgesichtiger Topfschläger an, gerade so laut, dass die Umsitzenden ihn verstanden, aber so leise, dass er leicht behaupten konnte, er hätte das nie so gesagt.
»Schaffen sogar eigens Ämter, damit sie ihre Genossen, wenn diese aus dem Rat ausscheiden, auch wohlversorgt wissen«, setzte der Student obenauf.
»Und wenn das Geld wieder all ist, erhöhen sie – frech wie Dreck – einfach die Steuern«, rief ein grobschlächtiger Bierbrauer. »Oder geben auf der Rentkammer leichtes Geld für schweres Silber aus.«
Als Rudolf einen gefüllten Becher vor ihm abstellen wollte, schüttelte er den massigen Schädel und klopfte stattdessen gegen eine verkorkte Steingutflasche, die er vor sich stehen hatte. Er verabscheute Wein und hatte daher gleich sein eigenes Gebräu mitgebracht.
Rudolf sah großzügig darüber hinweg. Es würde genug gesoffen werden an diesem Abend. Denn reden macht durstig, und viel reden macht sehr durstig. Und reden, das taten sie beileibe genug, die Herren.
»Das Beste ist, sie fragen nicht einmal den gesamten Rat – nein, im Geheimen treffen sie sich und hecken ihre Schandtaten aus«, ereiferte sich ein kräftiger junger Mann, dessen Oberlippe so weit vorsprang, dass Rudolf fürchtete, den größten Teil des Weines aus dessen Becher später vom Boden aufwischen zu müssen.
»Genau! Die setzen sich da zusammen in ihren geheimen Kränzchen und mauscheln, was das Zeug hält«, meldete sich wieder der Steinmetz zu Wort.
Rudolf unterdrückte ein Schmunzeln. Was taten diese Herren hier denn anderes bei ihm im Hinterzimmer, fragte er sich belustigt. Doch in manchem, was die heimlichen Gäste anprangerten, musste Rudolf ihnen recht geben. Nichts hatte sich an den Missständen geändert, die nach dem Neußer Krieg zum Aufstand des Gürtelmachers Hemmersbach geführt hatten, der am Aschermittwoch vor nun fast zwanzig Jahren vom Rat niedergeschlagen worden war.
Im Gegenteil. Zu den hohen Steuerlasten, welche die Bürger zu tragen hatten, und dem Ämtermissbrauch seitens des Rates hatte dieser sich nun auch noch der Günstlingswirtschaft und der Unterschlagung städtischer Gelder schuldig gemacht. Der Rat musste aufpassen, wenn er nicht bald wieder einen Aufruhr niederknüppeln lassen wollte.
Als Rudolf eine Weile später erneut das Hinterzimmer betrat, um die geleerten Krüge einzusammeln und die nächste Runde zu kredenzen, hatte sich die Stimmung im Raum merklich aufgeheizt.
»… besten, wir bringen die Schweinehunde allesamt um!«, rief der Steinmetz aufgebracht. Seine grünen Augen glitzerten fiebrig im Grau seines Gesichts.
»Jawohl! Jetzt sofort!«, stimmte der Mann mit der vorspringenden Oberlippe zu.
Rudolf erschrak. Das hier sah gefährlich nach beginnendem Aufruhr aus, und er bereute bereits, der Versammlung sein Hinterzimmer überlassen zu haben.
Just in diesem Moment sprang der gewöhnlich so ruhige Mertyn Ime Hofe auf und schob seinen Stuhl mit einem Ruck zurück. »Ohne mich!«, verkündete er entschieden. »Damit macht ihr euch mit diesem Lumpengesindel gemein. Und was bringt es, wenn ihr sie umbringt? Dann folgen andere von ihrem Schlag nach. Andere, die sie jetzt schon in ihre Ämter gehievt haben. Mord und Aufruhr schaden allen. Euch selbst und euren Familien. In einer so großen Stadt wie unserer kann man nur friedlich zusammenleben, wenn alle Recht und Ordnung respektieren.«
Die Hetzreden waren verstummt, die Blicke aller gespannt auf Mertyn gerichtet. Als vermögender Kaufmann war Ime Hofe zwar nicht einer von ihnen, aber als Sohn eines Neubürgers gehörte er auch nicht zum Filz der alteingesessenen Familien, war also auch nicht einer von denen.
»Recht und Ordnung!«, schnaubte der Bierbrauer. »Wir sollen uns an Recht und Ordnung halten, während die feinen Herren machen, was sie wollen! Wir haben die Schnauze voll! Bis hierhin.« Er hielt seine fleischige Rechte unter seine Nase, um ihnen allen zu zeigen, bis wohin er die Machenschaften des Rates stehen hatte.
»Wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen?«, rief auch der Bursche mit der vorspringenden Lippe. »Es ist Zeit, zu handeln! Höchste Zeit!«
»Wir müssen etwas tun! Wir können das doch nicht tatenlos mit ansehen!«, pflichtete ihm der Student bei, seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Ich gebe euch recht. Ihr müsst etwas tun«, sagte Mertyn. »Aber den Ratsherren die Hälse umzudrehen, führt zu gar nichts. Glaubt es mir. Es bringt euch nur auf das Schafott!«
»Davor fürchten wir uns nicht!«, rief der Student dazwischen, doch mit dieser Meinung stand er wohl allein. Seine Mitverschworenen murrten nur.
»Ihr könnt etwas tun«, fuhr Mertyn unbeirrt fort. »Ihr könnt in euren Gaffeln dafür sorgen, dass anständige, ehrenhafte Männer in den Rat gewählt werden. Männer, die würdig sind, die Bürgerschaft zu vertreten, und diese Ehre nicht beschmutzen und für niedere Zwecke ausnutzen. Ich für meinen Teil werde versuchen, selbst in den Rat gewählt zu werden.« Ohne die Versammelten noch eines weiteren Blickes zu würdigen, erhob Mertyn sich von seinem Stuhl und verließ das Goldene Krützchen.
Betreten und sichtlich ernüchtert, blieben die Verschwörer vor ihren Krügen sitzen. Eine Weile murrten sie noch und beschworen lautstark die übelsten Strafen auf die Häupter der Ratsherren herab, aber Mertyn hatte ihrem Zorn die Spitze genommen. So bedauerlich es war, doch Ime Hofe hatte recht mit dem Weg, den er ihnen wies. Nach der Rede des Seidenhändlers hatte niemand mehr rechte Lust, den Bürgermeistern den Kragen umzudrehen.
Es war bereits zu vorgerückter Stunde, als Lisbeth davon erwachte, dass Mertyn zu ihr unter das Laken schlüpfte. Das Licht war erloschen, und er hatte sich im Dunkeln bis auf das Hemd entkleidet, um sie nicht zu wecken.
Lisbeth hörte seinen Atem, spürte, wie er sich hin und her wälzte, bis er schließlich auf dem Bauch liegen blieb. Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf seine Schulter. Durch das Leinen seines Hemdes hindurch spürte sie die Wärme seiner Haut. Sanft ließ sie ihre Finger in seinen Nacken gleiten und kraulte mit den Fingerspitzen den Ansatz seines dichten Haares.
Mertyn entfuhr ein unwilliges Grunzen, doch Lisbeth ließ sich davon nicht beirren. Sachte ließ sie ihre Hand an seiner Wirbelsäule entlang den Rücken hinabfahren.
»Lisbeth, es ist schon spät«, murmelte Mertyn.
Lisbeth ignorierte seine Worte und fuhr darin fort, ihn zu streicheln. Tiefer ließ sie ihre Finger Mertyns Rücken hinabgleiten, dann fuhren sie über sein Gesäß bis zum Ansatz seiner Schenkel. Neugierig suchten sie den Saum seines Hemdes, schlüpften vorwitzig darunter und glitten an Mertyns kräftigen Schenkeln wieder hinauf, ohne dass störendes Tuch sie von seiner Haut trennte.
Mertyn entfuhr ein leises Stöhnen, und Lisbeth vermochte nicht zu sagen, ob vor Ärger oder aus Behagen. Unbeirrt schlich sich ihre streichelnde Hand an der Innenseite seiner Schenkel hinauf, hoch und immer höher.
Mit einem Aufstöhnen – nunmehr zweifellos vor Begehren – wälzte Mertyn sich zu ihr herum. Seine Hand schloss sich besitzergreifend um ihre Brust, während er mit der anderen ihr Hemd bis über die Schenkel hinaufschob. Flüchtig suchten seine Lippen die ihren, dann machte er sich zielstrebig daran, seiner eben entflammten Begierde Erleichterung zu verschaffen.
Noch lange, nachdem Mertyn ermattet in seine Kissen zurückgesunken war, lag Lisbeth wach, die Knie an den Leib gezogen, damit kein Tropfen von seinem kostbaren Saft verschwendet in das Laken sickern würde. Mertyns Umarmung hatte ihr zwar keine sonderliche Freude bereitet, doch vielleicht hatte sie ihren Zweck erfüllt. Bitte, Mutter Gottes, lass mich diesmal ein Kind empfangen, betete sie stumm.
Zwischen Hoffen und Bangen dehnten sich für Lisbeth die nächsten Wochen ins Endlose. Kaum eine Stunde, in der sie sich nicht die Frage stellte, ob es diesmal geklappt hatte, in der sie sich nicht vorstellte, wie ein kleines Wesen langsam in ihr heranwachsen würde. Jeder Morgen, an dem sie erwachte, ohne dass in der Nacht ihre Blutung eingesetzt hatte, war ein kleiner Sieg, ein Tag mehr, der ihrer Hoffnung Nahrung gab. Doch mit jedem Tag wuchs zugleich ihre Angst davor, erneut enttäuscht zu werden.
Kaum vermochte Lisbeth es, in ordentlicher Weise ihre Arbeit zu verrichten. Sie war fahrig und unkonzentriert. Als sie es gegen Ende der dritten Woche fertigbrachte, den Mädchen Schuss- statt Kettgarn zum Bespannen der Webstühle herauszulegen, verlor sie schließlich die Geduld mit sich selbst. Strikt verbot sie sich jede weitere Grübelei. Es käme, wie es kommen sollte!
Der Mond rundete sich und nahm wieder ab, doch nichts geschah. In Lisbeth begann erneut die Hoffnung zu keimen und sich allmählich in ihrem Herzen auszubreiten.
In der Werkstatt herrschte fieberhafte Betriebsamkeit, und unermüdlich drang das Klappern der Webstühle in den Hof hinaus. Es ging in großen Schritten auf die Herbstmesse zu, und Lisbeth wollte sichergehen, auf dem Antwerpener Bamasmarkt genug Ware anbieten zu können.
Wenn man die bisherigen Webstühle ein wenig zusammenrücken würde, so fände sich noch Platz für einen weiteren, hatte Lisbeth entschieden, und war sich gerade mit dem Schreiner, der ihr einen neuen Webstuhl anfertigen sollte, handelseinig geworden, als ihr ein scharfes Ziehen durch den Leib fuhr. Erschreckt presste sie die Hand auf den Bauch.
Doch sie wusste, das würde nicht helfen. Das Ziehen würde stärker werden, sich in Schmerz verwandeln, und dann würde das Bluten kommen. Lisbeth war es, als zerbräche etwas in ihr. Alle Kraft schien sie plötzlich zu verlassen. Ohne ein Wort verließ sie die Werkstatt und stieg unter Mühen in ihre Kammer hinauf.
Kraftlos ließ sie sich auf ihre Bettstatt sinken und barg den Kopf in den Kissen. Doch die Tränen wollten nicht fließen.
Lange lag sie so da und kämpfte mit der Enttäuschung. Sie würde nie Kinder haben – ganz gleich, was ihr der Arzt, die Hebamme oder die Zigeunerin vorgegaukelt hatten. Sie alle verdienten ihr Brot mit der Hoffnung, die sie verkauften.
Es war gleich, was sie unternahm. Sie könnte zu Dutzenden von heilkundigen Frauen, Ärzten, Badern oder Gesundbetern laufen. Gott hatte dieses Glück für sie nicht vorgesehen. So schmerzlich es auch war, sie würde sich damit abfinden müssen.
Die Glocke von Groß Sankt Martin rief zur Vesper. Es war Zeit für das Nachtmahl, doch Lisbeth vermochte nicht hinunterzugehen. Trübe starrte sie auf das milchige Stück Himmel hinter dem Fenster, das langsam in der Abenddämmerung verblasste.
Es war leicht gesagt – sich damit abfinden! Doch wie bitter war es, sich vorzustellen, dass sie nie ihr eigenes Kind im Arm halten würde! Nie würde sie die Wärme des kleinen Körpers an dem ihren spüren, die winzigen Händchen berühren, die nach ihr griffen, an ihr Halt suchten, das grenzenlose Vertrauen in den großen Augen erblicken, mit dem nur Kinder ihre Eltern ansehen können!
Nun endlich, nach Stunden, kamen die Tränen. Haltlos schluchzte Lisbeth ihren Kummer in die Kissen.
Zwei ganze Tage schon lag Lisbeth krank, war nicht in der Lage, ihre Bettstatt zu verlassen und sich anzukleiden. Die liebevoll bereiteten Speisen, die man ihr hinaufschickte, rührte sie nicht an. Eine dumpfe Traurigkeit hüllte sie wie in Watte und schien all ihre Lebenskraft aufzusaugen.
Am Morgen des dritten Tages ließ ein resolutes Klopfen Lisbeth auffahren. »Was ist jetzt mit dem Bamasmarkt?«, tönte die Stimme von Stina Lommerzheim barsch durch die Tür. »Wenn Ihr nicht hinreisen wollt, dann können wir ja alle nach Hause gehen!«
Lisbeth vernahm die Worte und verstand auch ihren Sinn, doch sie war nicht in der Lage zu antworten. Nach einer Weile hörte sie, wie sich die schweren Schritte der Seidmacherin entfernten.
Stinas Worte waren anmaßend gewesen, der Tonfall nicht minder. Doch es war genau diese Unverschämtheit, der es gelang, das düstere Gespinst, das Lisbeth umgab, zu durchdringen.
Außerhalb ihrer Kammer ging das Leben weiter, erkannte Lisbeth. Es hielt nicht einfach an, nur weil sie hier vom Kummer überwältigt lag. Da draußen waren Menschen, für die sie Verantwortung trug. Die Lehrmädchen, die Weberinnen, Spinnerinnen und Färber. Ihr aller Wohl hing davon ab, dass sie ihnen Arbeit und Brot gab, des einen mehr, des anderen weniger. Sie konnte sich nicht einfach vor der Welt verstecken. Überdies brachte ihr das Trauern nichts ein – davon bekäme sie schließlich auch kein Kind.
Als Lisbeth sich aufrichtete, hatte sie einen Entschluss gefasst. So schwer es auch war, sie würde sich mit ihrer Kinderlosigkeit abfinden! Dies war das letzte Mal, dass sie darum geweint hatte!