6. Kapitel
Ihr könnt doch nicht mit diesem« – Eckert suchte vergeblich nach dem passenden Wort – »Herrn in der Gegend herumfahren!«, insistierte er und schob streitbar das Kinn vor.
Aufgeregt war am Morgen die Wirtin in Fygens stickige Kammer geplatzt. »¡Senyora, Senyora! ¡Ha arrivat uns cistell ple de taronjes per avos!«
Die Senyora hatte den Redeschwall der Wirtin nicht verstanden, aber das war auch nicht nötig gewesen, denn der ausladende Weidenkorb, der bis zum Rand angefüllt war mit saftig prallen Orangen und hinter dem die üppige Gestalt in ihrem schmierigen Mieder beinahe verschwand, war nicht zu übersehen. Sogleich erfüllte der süße Duft der Orangen die enge Kammer.
Umständlich stellte die Wirtin den Korb auf dem Boden ab, wies auf das Billett, das dem Korb angeheftet war, und blieb, die Hände abwartend vor der schmutzstarrenden Schürze verschränkt, stehen. Während Fygen die wenigen Worte las, mit denen Alejandro de la Vega sie für den späten Vormittag einlud, ihr die Seidenzuchten auf dem Land um Valencia zu zeigen, schien die Nase der Wirtin vor Neugier immer länger zu werden. Fygen faltete das Billett zusammen und blickte die Wirtin fragend an. Diese verstand die stumme Aufforderung und verschwand.
Fygen zog eine Grimasse. Die ganze Herberge war eine rechte Zumutung, vor allem, was die Sauberkeit anging. Bei ihrer Ankunft hatte Fygen festgestellt, dass der gemeinschaftliche Schlafraum gotterbärmlich stank und mit schimmeligem Stroh ausgelegt war, das dringlich eines Wechsels bedurfte. Es war bereits das dritte Gasthaus gewesen, das sie aufgesucht hatten, und Eckert hatte ihr wenig Hoffnung gemacht, sie könnte ein besseres finden.
Die Kölnische Mark wurde auch in Valencia gern genommen, und so hatten sich die Wirtsleute rasch dazu überreden lassen, zusammenzurücken und Fygen ihre eigene Schlafkammer zu überlassen, wiewohl auch die vor Schmutz starrte, von dem Ungeziefer, das sich zwischen den alten Strohsäcken tummelte, ganz zu schweigen.
Fygen hatte eine Magd eigens dazu angestellt, die Kammer von Grunde auf zu scheuern, und den Wirtsleuten aufgetragen, frische Strohsäcke herbeizuschaffen, und so schließlich ein annehmbares Quartier erhalten.
Der Vormittag war bereits fortgeschritten, und eben ertönte in der Gasse das Schlagen von Pferdehufen. Es erstarb, als ein leichtes Gespann vor der Herberge zum Stehen gebracht wurde, und Fygen lächelte ihren altgedienten Reisegefährten nachsichtig an. »Ich kann und ich werde«, sagte sie. »Senyor de la Vega ist vielleicht in seinen Handelsgepflogenheiten ein wenig – nun, sagen wir – unkonventionell, aber er ist ein Ehrenmann. Er wird mir schon nichts zuleide tun.«
Eckert verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann lasst mich Euch begleiten«, beharrte er. »Was würde der selige Herr dazu sagen?« Es war ihm gar nicht recht, seine Herrin mit dem Spanier allein zu lassen.
»Das ist nicht vonnöten«, entgegnete Fygen entschieden. »Ich bin sicher, dass mir in de la Vegas Gesellschaft kein Leid geschieht. Du hast selbst gesehen, wie er sich zu verteidigen versteht.«
Eckert verzog schmerzlich das Gesicht. Der Vorfall an Bord der Karavelle nagte immer noch an ihm.
Während er noch nach einer passenden Entgegnung suchte, strich Fygen ihre Haube glatt, warf sich den leichten Reiseumhang über die Schultern und ließ Eckert stehen.
»Ein Zeichen der Wiedergutmachung«, sagte de la Vega mit einem Zwinkern zur Begrüßung und half Fygen galant auf den Wagen.
Fygen spürte, dass sich hinter seinem scherzhaften Ton aufrichtiges Bedauern verbarg. »So bereut Ihr Eure Taten«, gab sie im gleichen Tonfall zurück.
»Nein, ganz und gar nicht. Denn schließlich waren sie es, die mich in den Genuss Eurer Gesellschaft gebracht haben.« De la Vega lachte, schwang sich neben Fygen auf den Wagen und griff nach den Zügeln. Mit sicherer Hand lenkte er das Gespann mit den beiden Rappen durch die belebten Gassen, vorbei an Eselkarren und Ochsengespannen, Mägden mit Körben und dunkelhäutigen Lastenträgern mit Bündeln, umfuhr wandernde Garküchen, lärmende Kinder und dösende Hunde, und wich achtunggebietenden Geistlichen in dunklen Kutten, zauseligem Bettelvolk und fröhlichen Müßiggängern aus.
Am Rande des Plaza Mercado zügelte de la Vega die Pferde. »Ihr entschuldigt, dass wir einen Moment halten, ich habe noch etwas Geschäftliches zu erledigen, das keinen Aufschub duldet.«
»Doch nicht etwa zweieinhalbtausend Pfund Seide aus Almeria zu kaufen?«, stichelte Fygen gutmütig.
»Ebendas war meine Absicht!« De la Vega lachte. »Möchtet Ihr mich begleiten?« Behende sprang er vom Wagen, warf die Zügel einem herumlungernden Gassenjungen zu und half Fygen beim Absteigen. Zügigen Schrittes führte er sie in die Llotja, an dem Taula de cambis de la Ciutat vorbei, dem Tisch der städtischen Wechselbank, unter dem schwere Geldkisten standen, bis in den hinteren Teil der Sala de Contractatión, jener glanzvollen Verkaufshalle, in der Fygen ihn am Vortag angetroffen hatte.
Der Händler aus Almeria schien sie wiedererkannt zu haben und blickte ihnen erwartungsvoll entgegen, doch de la Vega steuerte an ihm vorbei einen anderen Stand an und begrüßte den hageren Mann dahinter wie einen alten Freund. Rasch wurden die Herren sich handelseinig, während Fygen sich überlegte, ob sie nicht zu den zweieinhalbtausend Pfund noch weitere Seide hinzukaufen sollte.
Nun, wo kein undurchsichtiger Herr Alexander mehr einer Lieferung im Wege stand, beschränkte sich die Gefahr einzig auf den Transport – ein überschaubares Risiko. Natürlich hätte sie den Dret Real in Höhe eines Sechzigstels des Wertes der Ware zu entrichten, eine Ausfuhrgebühr, die allen Untertanen des Emperador d’Alemanya auferlegt wurde. Doch der Handel würde sich lohnen. »Ich würde gerne die gleiche Menge noch einmal dazukaufen«, sagte sie, an de la Vega gewandt, der ihren Wunsch dem Händler übersetzte.
Dieser blickte Fygen treuherzig aus feucht schimmernden, dunklen Augen an, schüttelte bedauernd den Kopf und überschüttete sie mit einem unverständlichen Wortschwall.
»Er bedauert es sehr, doch er hat nur noch sehr wenig Seide«, übersetzte Alejandro. »Und die ist sehr teuer.«
»Wie teuer?«
Der Händler wog den Kopf von einer Seite auf die andere, dann nannte er eine Zahl.
De la Vega übersetzte, und Fygen winkte ab.
»Sagt ihm, ich gebe ihm die Hälfte«, sagte Fygen und richtete sich auf eine zähe Verhandlung ein.
»Ein Kölnisch Gebot«, schmunzelte de la Vega. »Was dir ein Kölner heischet, das sollst du halb oder weniger bieten, so wirst du nicht betrogen«, zitierte er ein unter Kaufleuten verbreitetes Wort, bevor der dem Händler Fygens Angebot unterbreitete.
Eine Weile ging es hin und her, und am Ende hatte man sich auf zwei Drittel des ursprünglichen Preises geeinigt.
»Meinen Respekt«, sagte de la Vega. »Ihr handelt wie ein Pferdehändler. Ich selbst zahle kaum weniger.« Er bat den Händler, Fygens Seide gemeinsam mit seiner in den Gelieger der Gesellschaft bringen zu lassen, wo man sie für die Verschiffung richten würde, und nur wenig später setzten Fygen und er ihre Fahrt fort.
Fygen hätte nicht gedacht, dass Valencia um so vieles größer war als Köln. Nahezu doppelt so viele Menschen mochten hier leben, und so dauerte es geraume Zeit, bis sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatten. Fruchtbares Land breitete sich vor ihnen aus und umschloss die Stadt wie die liebenden Arme einer Mutter, die nährte.
»Die Huerta«, erklärte de la Vega, »der Gemüsegarten Valencias.«
Ein warmer Wind wehte den Duft von Orangen herbei, und Fygen sog die frische Luft tief ein – eine wahre Wohltat nach den Ausdünstungen der Stadt.
In gemächlichem Schritt fuhren sie dahin. Rechts und links des Weges wiegten sich Fruchtbäume auf Wiesen. Felder und Pflanzungen dehnten sich aus, so weit das Auge blickte, und erklommen in der Ferne blau schimmernde Hügel. Über all dem frischen Grün spannte sich der Himmel in so tiefem Azur, dass Fygen beinahe fürchtete, sich darin zu verlieren.
Auf den Feldern mühten Bauern sich mit ihren Hacken, schnitten Luzerne und pflückten Früchte. Zum Schutz gegen die Sonne hatten sie ausgeblichene Lappen fest um die Köpfe gewickelt.
Ein Hirtenjunge saß nahe dem Weg. Er hatte den Kopf auf die Knie gelegt und döste im Schatten, während seine Handvoll Ziegen sich am Gras unter den Orangenbäumen gütlich tat. Ein Stück abseits der Straße, inmitten der smaragdenen Felder, duckten sich vereinzelt niedrige Barracos. Die Häuser der Feldarbeiter schienen nur aus zotteligen Schilfdächern zu bestehen, denn ihre aus Lehm gebauten Seitenwände zogen sich zwischen den weißgetünchten Giebeln nur wenige Fuß in die Höhe.
Es war warm geworden. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und warf kurze dunkle Schatten unter die Bäume. Bewundernd betrachtete Fygen diese vor Fruchtbarkeit strotzende Landschaft. Bei diesen Witterungen konnten die Feldfrüchte gar nichts anderes tun, als zu gedeihen, und auch Wasser schien es genug zu geben: Ein Netz von trüben Rinnsalen durchschnitt das Land. Es sah nicht so aus, als zögen sich die schmalen Wasserläufe zufällig durch die Felder, dafür waren die Abstände zwischen ihnen zu gleichmäßig und ihr Lauf zu gerade. Sie wirkten wie von Menschenhand geschaffen.
»Bewässerungskanäle«, erklärte de la Vega auf Fygens Frage hin. Er zog die Zügel an, verlangsamte die Fahrt und bog in einen kleinen Wirtschaftsweg ein, der sich zwischen den halbrunden Kronen eines Orangenhaines hindurchschlängelte. »Eine Kunst der Mauren«, fuhr er fort. »Sie haben es darin zur Perfektion gebracht. Das Wasser wird seinen natürlichen Läufen entzogen, in schmalen Kanälen von den Bergen herabgeführt und über die ebenen Äcker verteilt.«
Kurz ruckte de la Vega an den Zügeln. Die Pferde verließen den Weg und zogen den Wagen holpernd über das Gras zwischen den Bäumen, um nur wenige Augenblicke später inmitten des Orangenhains zum Stehen zu kommen.
De la Vega sprang vom Wagen und band sorgsam die Zügel an einen Stamm, bevor er Fygen herabhalf. Dann hob er einen Korb, der mit blütenweißem Tuch bedeckt war, von der Ladefläche des Wagens und stellte ihn im Schatten neben dem Stamm eines der Bäume ab. Mit einem Seufzen ließ er sich neben dem Korb ins Gras sinken und bedeutete Fygen, es ihm gleichzutun. Dann nahm er das Tuch vom Korb und breitete es auf dem Boden aus.
Fygen sah seinem Tun einen Moment stirnrunzelnd zu. Eine Erfrischung wäre jetzt schon sehr verlockend. Aber sie wagte zu bezweifeln, dass es dem Besitzer des Orangenhaines recht war, dass sie hier lagerten.
»Dürfen wir uns denn hier so einfach niederlassen«, fragte sie daher.
»Wer soll uns denn von hier vertreiben?«, antwortete de la Vega mit einer Gegenfrage.
»Nun, vielleicht der Besitzer dieses Orangenfeldes.«
»Wohl kaum«, antwortete de la Vega mit einem spitzbübischen Lächeln. »Es ist mein Land.«
Derart beruhigt ließ Fygen sich nun ebenfalls nieder und lehnte sich an den Stamm des Baumes.
Durch das Blätterdach schlichen vereinzelte Sonnenstrahlen und sprenkelten das Tuch, auf das de la Vega nun eine Köstlichkeit nach der anderen legte. Saftiger Schinken aus Serrano, ein duftender Laib Brot, ein Töpfchen mit Öl, in dem murmelgroße, schwarz glänzende Kugeln schwammen, und eine Handvoll praller, leuchtend roter Früchte kamen zum Vorschein. Zum Schluss ein irdener Krug und zwei Becher.
Während er dunkelroten Wein in die Becher schenkte, nahm Alejandro das Gespräch an der Stelle wieder auf, wo sie es unterbrochen hatten: »Das Bewässerungssystem bedarf sorgfältiger Verwaltung und Pflege, denn die Kanäle müssen ständig in Ordnung gehalten werden. Nicht selten kommt es zwischen den Bauern zum Streit um das Wasser.« Er reichte Fygen einen Becher. »Vielleicht habt Ihr gestern das Wassergericht vor dem Domportal bemerkt?«, fragte er und kostete einen Schluck. »Seit maurischer Zeit tagt es dort jeden Donnerstag vor dem Apostelportal, um die Streitigkeiten über die Bewässerung der Felder zu schlichten.«
Fygen nickte. Das also hatte die seltsame Versammlung zu bedeuten, die sie vor der Kirche gesehen hatte. Sie probierte ebenfalls von dem Wein. Er war stark und schmeckte fruchtig. »Mir scheint, Ihr bewundert die Mauren«, sagte sie. »Ist es denn nicht eine Befreiung, dass sie fort sind?«
De la Vega löste sein Messer vom Gürtel, schnitt bedächtig ein Stück vom Schinken ab und reichte es Fygen. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Sie sind Barbaren, aber in den Wissenschaften sind sie uns um Längen voraus«, sagte er schließlich. »In der Medizin, in der Astronomie …« Ein Hauch von Wehmut mischte sich in sein Lächeln. »Meine Mutter war Maurin.«
Überrascht blickte Fygen ihn an. Das erklärte seinen dunklen Teint und die schwarzen Haare.
»Sie war eine Morisca, eine getaufte Maurin«, fuhr de la Vega fort. Seine Stimme war so leise, dass Fygen sich vorbeugen musste, um seine Worte zu verstehen. »Eine wunderschöne Frau, auch noch im Alter. Ihr Vater fiel bei der Reconquista. Als dann auch noch die Mutter starb, musste sie sich allein durchschlagen, als Schankmagd in den Tavernen der Stadt. Sie traf den alten Wilhelm, als er auf einer seiner Handelsreisen nach Valencia kam. Im Jahr 1454 muss das gewesen sein. Er war zwanzig Jahre älter als sie, doch er muss damals ein gutaussehender Kerl gewesen sein, großgewachsen und mit strohfarbenem Haar. Und er war vermögend. Sie wurde seine Geliebte und blieb bei ihm, solange er in der Stadt war. Als er abreiste, war sie in Umständen.«
Ein leichter Wind raschelte in den Blättern. De la Vega unterbrach sich und nahm einen großen Schluck aus dem Becher, bevor er fortfuhr: »Zehn Jahre später kam er plötzlich zurück, um sich hier niederzulassen. Er kaufte das Stadthaus und holte meine Mutter und mich zu sich, um bei ihm zu leben.«
Er hatte sich zurückgelehnt und stützte sich auf seinen Ellbogen. Wieder hielt er für einen Moment inne, und als er weitersprach, lag Zärtlichkeit in seiner Stimme. »Sie führte ihm den Haushalt und hatte es sicher nicht immer leicht mit ihm. Doch ich glaube, sie war zufrieden damit, auf ihre alten Tage versorgt zu sein, denn obwohl er sie anschrie und bisweilen schlug, habe ich sie bis zu ihrem Tode nie Klage führen hören. Was konnte eine Frau ihrer Profession schließlich mehr verlangen?«
De la Vega verstummte, und eine Weile saßen sie schweigend da. Die Blätter des Baumes färbten das Licht grünlich. Eine Fliege summte herbei und ließ sich auf dem Tuch nieder. Beiläufig scheuchte Alejandro sie fort und griff nach dem Brotlaib. Er brach ein Stück davon ab, tunkte es in das Steinguttöpfchen, und als es sich voll des goldgelben Öls gesogen hatte, reichte er es Fygen. Auch für sich brach er einen Kanten, dann fingerte er eine der dunklen Früchte aus dem Öl, und mit größter Selbstverständlichkeit steckte er sie Fygen in den Mund.
Forschend drehte Fygen die glatte schwarze Murmel in ihrem Mund, bevor sie hineinbiss. In der Frucht verbarg sich ein harter Kern. Genüsslich verspeiste Fygen das herzhafte Fruchtfleisch, dann spuckte sie den Kern in die hohle Hand. Sie genoss es, hier mit Alejandro zu sitzen, genoss die ruhige Vertrautheit zwischen ihnen, die auch ihr Schweigen nicht unangenehm werden ließ.
Alejandro richtete sich auf und pflückte eine der prallen Orangen vom Baum über ihnen. Geschickt schnitt er mit dem Messer die fleischige Haut in Sechstel, schälte sie ab und reichte Fygen das goldgelbe Innere. Fygen hob die Frucht zum Mund. Ein betörender Duft drang ihr in die Nase, und voller Genuss biss sie in das süße, sonnenwarme Fruchtfleisch. Ein Tropfen des Saftes rann ihr das Kinn hinab.
Unwillkürlich streckte Alejandro die Hand aus, und wie man es bei einem Kind tat, fing er den Tropfen mit dem Finger auf und steckte sich diesen in den Mund.
Die vertrauliche Geste entlockte Fygen ein Lächeln, und abermals streckte Alejandro seine Hand aus. Sachte zeichnete er mit dem Finger den Schwung ihrer Lippe nach, dann ließ er seine Hand sinken und griff gleichmütig nach seinem Messer. So konzentriert schnitt er eine weitere Scheibe von dem Schinken, dass Fygen sich fragte, ob sie sich seine Berührung nur eingebildet hatte.
Sorgsam zerteilte Alejandro den Schinken in kleine Stücke. Eines davon steckte er Fygen in den Mund, ein weiteres sich selbst. Dann griff er nach einer der leuchtend roten Früchte, die er dem Korb entnommen hatte, biss ein Stück davon ab und reichte die angebissene Frucht an Fygen weiter.
Vorsichtig versuchte diese ein winziges Stück davon. Die Frucht schmeckte ganz anders, als Fygen aufgrund ihrer leuchtend roten Farbe erwartet hatte, gar nicht süß, sondern auf eine ungewohnte Art aromatisch. Genießerisch biss sie ein zweites Stück von der Frucht ab, diesmal ein deutlich größeres.
Alejandro griff nach seinem Becher, nahm einen Schluck Wein und blickte Fygen über den Rand des Bechers hinweg in die Augen. Sein Blick hielt den ihren gefangen, schien tief in ihr Inneres zu dringen, und wieder spürte Fygen dieses beunruhigende Gefühl, das sie an Bord der Karavelle stets in seiner Gegenwart ergriffen hatte.
Dieser Mann ist nicht Peter, schoss es Fygen durch den Kopf, auch wenn er mich noch so sehr an meinen Mann erinnert. Er ist ein Fremder!
Alejandro stellte seinen Becher beiseite, und mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er sie zuvor mit den Früchten gefüttert hatte, legte er nun seine Hand in ihren Nacken, beugte sich vor und küsste sie auf den Mund.
Zu überrascht, um zu reagieren, ließ Fygen es geschehen. Und es war nicht unangenehm. Im Gegenteil. Sein Kuss fühlte sich wundervoll an. Dieser Mann wusste genau, was er tat. Und was er wollte. Seine Lippen liebkosten die ihren, rissen Fygen in einen Strudel aus Gefühlen und entzündeten eine Flamme in ihr, von der sie geglaubt hatte, sie sei für immer erloschen.
Alejandro löste seine Lippen von ihrem Mund und bediente sich genüsslich von den ölglänzenden Früchten aus dem Topf. Spielerisch fuhr er mit einer der schwarzen Kugeln über Fygens Lippen, bevor er sie ihr in den Mund gleiten ließ.
Mit dem Daumen seiner Rechten strich er liebkosend über ihre Wange, zog die Linie ihres Kinnes nach, um dann streichelnd ihren Hals hinabzugleiten. Wieder beugte er sich vor und küsste sie, dann zog er sie mit ruhiger Bestimmtheit in seine Arme.
Durch den Stoff ihres Kleides hindurch spürte Fygen Alejandros Hände warm auf ihren Schultern, ihrem Rücken. Fühlte, wie sie ihr Rückgrat hinab- und über die Rundung ihrer Hüfte strichen. Sie wusste genau, wohin es führen und was geschehen würde, wenn sie diesen Händen keinen Einhalt geböte.
Doch warum sollte sie? Es war schön, zu fühlen, wie Alejandros Arme sie hielten, schön, seinen Atem am Ansatz ihres Haares zu spüren, seine Lippen auf ihrem Hals. Und schön, begehrt zu werden. Seit Peters Tod hatte Fygen sich nicht mehr so lebendig gefühlt wie in diesem Moment, und ihr fiel kein Grund ein, warum sie Alejandros Berührung nicht genießen sollte. Mit einem wohligen Seufzer schlang sie ihre Arme um seinen Nacken, und diesmal waren es ihre Lippen, die, ohne zu tändeln, die seinen suchten.
Alejandros Hände verstanden die Einladung und folgten ihr. Seine Linke strich Fygens Taille hinauf, verbündete sich hinter ihrem Rücken mit der Rechten, um gemeinsam die Schnürung von Fygens Kleid zu öffnen. Sie mochten darin über reiche Erfahrung verfügen, denn sie beherrschten diese Kunst blind, und bereits nach wenigen Augenblicken sank Fygen das Oberteil ihres Kleides von den Schultern. Kundig streifte Alejandro ihr das Leinen bis zur Taille hinab, und entblößt boten sich ihm Fygens weiße Brüste dar.
Geniert suchte Fygen ihre Blöße zu bedecken. Jeden Moment konnte doch ein Landarbeiter durch das Grün der Blätter treten und sie überraschen.
Aber Alejandro schien das nicht zu kümmern. Mit Bestimmtheit entzog er Fygen den Stoff ihres Kleides, den sie schützend über ihre Blöße hatte ziehen wollen, und legte seine Hand besitzergreifend auf die Wölbung ihrer Brust. Zart strich er über ihre samtige Haut, streichelte sie, und mit einem kleinen Seufzer lehnte Fygen sich ins Gras zurück, schloss die Augen und gab sich seinen Liebkosungen hin.
Sie spürte, wie eine lang vermisste Erregung in ihr wuchs. Wo immer Alejandros Hände sie berührten, schienen sie kleine Feuer auf ihrer Haut zu entzünden, auf ihren Armen, ihren Brüsten, ihrem Bauch.
Sicheren Griffes schob Alejandro den Stoff von Fygens Kleid tiefer hinab, entblößte ihren Bauch, ihre Lenden, ihre Scham. Mit quälender Süße entfachten seine Hände auch hier ihre Brände. Fygen stöhnte lustvoll.
Dann plötzlich waren die findigen Hände fort, überließen Fygens Haut einen unendlichen Augenblick lang allein ihrem Sehnen. Der Laut schien sie vertrieben zu haben.
Fygen wollte nicht, dass diese Hände, die so genau wussten, wie sie ihr Lust bereiten konnten, aufhörten, sie zu berühren. Sie wünschte, dass sie für immer darin fortfahren würden, ihre Brände zu legen.
Doch ihr stummes Flehen wurde nicht erhört. Unbeirrt streiften Alejandros Hände ihr das Kleid zur Gänze vom Körper, umfassten mit sicherem Griff ihre Hüften, zogen sie dicht an seinen Leib und hielten sie, während seine Männlichkeit mit lustvoller Bestimmtheit in sie drang.
Alejandro war ein erfahrener Liebhaber, der zu genießen wusste und es verstand, in Fygen eine Leidenschaft zu entfachen, die sie lange entbehrt hatte. Findig bereitete er ihr und sich eine Lust, die alles um sie herum versinken ließ. Unter ihren Berührungen mischten sich die Wärme der Sonne, der Duft der Orangen, das Grün der Blätter und die Weichheit der Luft zu einem einzigen erregenden Rausch.
Die Sonnenstrahlen hatten ihre sengende Kraft verloren und erreichten bereits die Stämme der Bäume, als Fygen und Alejandro schließlich ihren Hunger aufeinander gestillt hatten. Ermattet ließ Fygen sich ins kühlende Gras zurücksinken, und während Alejandro ihre Becher auffüllte, horchte sie in sich hinein.
Da war kein Bedauern. Fygen bereute es nicht, sich Alejandro hingegeben zu haben. Im Gegenteil. Sie hatte es in vollen Zügen genossen. Sie war eine erwachsene Frau. Und sie war Witwe. Davon, dass sie enthaltsam lebte, würde Peter auch nicht ins Leben zurückkehren.
In Alejandros Armen hatte sie das Gefühl gehabt, das Leben sei endlich zu ihr zurückgekehrt. Und was daraus würde – nun, das würde man sehen. Darüber würde sie sich heute nicht den Kopf zerbrechen. Dankbar ergriff sie den Becher, den Alejandro ihr reichte, und leerte ihn mit durstigem Zug. Mehr Trunkenheit, als ihr das Glück bescherte, konnte ihr auch der starke Wein nicht bereiten.
Alejandro packte die Reste ihres Mahls zurück in den Korb. »Das war eine recht ausgedehnte Siesta«, sagte er schmunzelnd und half ihr auf. »Ich denke, die Seidenraupen heben wir uns für morgen auf.«
Er löste die Zügel des Gespanns, wendete den Wagen, und kurz darauf rollten sie auf der Fahrstraße der Stadt zu. Doch bereits nach einer halben Meile brachte er den Wagen zum Stehen, so als habe er es sich anders überlegt, und wandte sich ihr zu. »Ich besitze eine Alqueria unweit von hier. Vielleicht möchtest du …« Er brach ab und drehte verlegen die Zügel in den Händen. »Sie ist nicht so komfortabel wie das Stadthaus, aber sie ist bestimmt bequemer als die Herberge. Es wäre mir eine Freude, sie dir zur Verfügung zu stellen, solange du in Valencia bist.« Beinahe schüchtern blickte er zu ihr herüber, als wäre es ihm wichtig, dass sie sein Angebot annahm.
Seine plötzliche Verlegenheit rührte Fygen, doch nach der Intimität der vergangenen Stunden belustigte sie sie auch ein wenig. Das Angebot klang verlockend. Es war hier draußen auf dem Land so viel angenehmer als in der Stadt, und der verlausten Herberge würde sie lieber heute als morgen den Rücken kehren. Warum sollte sie also nicht Alejandros Gastfreundschaft in Anspruch nehmen?
Der Mond hatte sich wieder gerundet, zum zweiten Mal bereits, seit Lisbeth den Rat des Doktors eingeholt hatte. Tagelang hatte sie ihre Badekur betrieben, hatte akribisch die Rindenstücke in den Zuber gestreut und stundenlang im kalten Wasser ausgeharrt.
Die einzige Folge jedoch, welche die Kur gezeitigt hatte, war, dass Lisbeth sich unterkühlt hatte. Ein paar Tage hatte sie deshalb sogar im Bett verbringen müssen, doch schwanger war sie davon nicht geworden.
Genauso wenig wie von all den probaten Hausmitteln, die sie bereits versucht hatte, einschließlich jenen, welche sich die Frauen nur hinter vorgehaltener Hand zu wispern getrauten. So vieles hatte sie schon probiert. Sie hatte sich mit Eselsmilch und Hasenfett eingerieben, hatte Bibergeil gegessen und zerstoßene Perlen.
Lisbeth seufzte und zog den Mantel enger um die Schultern, als sie von der Breiten Straße in den Berlich einbog. Es war zu kühl für die Jahreszeit, und wenn sie an die kalten Bäder dachte, lief ihr immer noch ein Schauder über den Rücken.
Auch ein studierter Mann wusste eben nicht alles, dachte sie enttäuscht. Doch vielleicht war das genau der Fehler? Was verstanden Männer vom Kinderkriegen? Diese Überlegung war es, die Lisbeth heute nach Sankt Kolumba geführt hatte.
Das Viertel war heruntergekommen. Zweistöckige Häuser standen hier, von denen gerade einmal die Fundamente steinern waren, das Übrige war aus Holz gefügt. Putz und Farben der Fassaden waren verwittert, blätterten und bröckelten. Der Unrat lag in Haufen auf der Gasse, Schweine und Hunde scharrten darin herum. Es war eine arme Wohngegend, die sich deutlich von Sankt Alban unterschied.
Lisbeth passierte das Klarissenkloster, dann fiel ihr Augenmerk auf einen soliden, doch unscheinbaren Bau mit vergitterten Fensteröffnungen im Eingang zur Schwalbengasse. Auf dem Schieferdach prangten unübersehbar die drei Kronen – das Wappen der Stadt. Das musste das Frauenhaus sein, mutmaßte sie ein wenig enttäuscht. Im Geheimen hatte sie sich das Haus, in dem die käuflichen Frauen lebten, immer viel pompöser vorgestellt, mit prächtigen Verzierungen und aufwendiger Malerei an der Fassade.
Eine große Mauer umgab das Haus mit dem daran angeschlossenen Friedhof und schützte es vor fremden Blicken, obschon es wohl eher ihr eigentlicher Zweck sein mochte, die benachbarten Klarissinnen vor dem Anblick des Hauses zu bewahren.
An der Mauer vor dem Haus lehnten einige Frauen in mittleren Jahren und schwatzten. Acht an der Zahl mochten es sein. Ihre Kleidung war gewöhnlich in ihrer Farbigkeit, und ausnahmslos trugen sie den roten Schleier, den die Stadtväter den gemeinen Töchtern zu tragen verordnet hatten. Ein praktischer Brauch, denn er schützte nicht nur die ehrbaren Bürgerinnen vor zweifelhaften Angeboten, sondern erleichterte auch den Freiern die Suche nach den wohlfeilen Damen.
Zwei von ihnen hatten ein paar junge Handwerksburschen angesprochen und versuchten nun, sie zu einem Besuch im Haus zu überreden. Lautstark priesen sie ihre Vorzüge und wollten Art und Preis des Geschäftes aushandeln. Die anderen Frauen musterten Lisbeth unverhohlen.
Es war nicht das erste Mal, dass Lisbeth Hübschlerinnen sah. Auf dem Domhof, dem Heu- und dem Neumarkt, an jenen Orten, an denen man üblicherweise auf Händler und Pilger traf, war sie bereits Frauen mit roten Kopftüchern begegnet, jungen wie alten. Doch nur von ferne und vereinzelt. Hier in ihrem Viertel flößten sie Lisbeth Furcht ein. Schamvoll wandte sie den Kopf ab und wollte rasch an den Frauen vorbeieilen, als eine von ihnen ihr zurief: »Na, Schätzchen, willst du dir ein bisschen was dazuverdienen, oder hat dein Mann einen toten Wurm im Latz?«
Die anderen Frauen kicherten laut.
Lisbeths erster Impuls war, ihren Schritt zu beschleunigen und das Weite zu suchen. Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Das hier waren einfach nur Frauen. Frauen, die nicht so viel Glück im Leben gehabt hatten wie sie. Sie brauchte keine Angst vor ihnen zu haben.
»Könnt Ihr mir sagen, wo ich die alte Bela finde?«, fragte sie und versuchte ihr Unbehagen hinter Freundlichkeit zu verbergen.
»Ah so! Ihr wollt nur zu der Alten«, sagte die Frau, die sie angesprochen hatte, ein wenig enttäuscht. »Da entlang, gleich das dritte Haus ist es.« Gelangweilt wies sie weiter in die Gasse hinein.
Die Berlichhuren verloren das Interesse an Lisbeth und wandten sich wieder ihrem Plausch zu.
Das Haus, in dem die alte Bela wohnte, war genauso heruntergekommen wie das restliche Viertel. Doch konnte man daran kaum Anstoß nehmen. Als Hebamme wurde man nicht reich, es sei denn, man half dem lang ersehnten Stammhalter eines Adelsgeschlechts ans Licht der Welt. Aber der Hochadel war in der freien Reichsstadt dünn gesät, und so sah sich die alte Bela auch im greisen Alter noch gezwungen, sich ihren Unterhalt mit ihrer Hände Arbeit zu verdienen.
Allerdings hatte sie sich, seit ihr die Kräfte schwanden und ihr Augenlicht sie zu verlassen begann, darauf verlegt, mit allerlei Kräutern zu handeln und ihr Wissen um die Krankheiten und Gebrechen der Frauen feilzubieten.
Und so fand Lisbeth sie in dem von der Hübschlerin bezeichneten Haus in ihrem Laden hocken, inmitten von Körben, Kisten und Harassen voller Blätter und Rinden. Büschelweise hingen getrocknete Kräuter und Gräser von der niedrigen Decke.
So muss es in einem Fuchsbau aussehen, dachte Lisbeth, und mit ihrer spitz vorspringenden Mundpartie sah auch die Bewohnerin dem scheuen Streuner nicht unähnlich.
Doch dieser erste Eindruck verlor sich alsbald. Denn die alte Bela war alles andere als scheu. »Ich mache keine Hausbesuche mehr!«, beschied sie Lisbeth, kaum dass diese ihren Laden betreten hatte.
»Ich bin nicht wegen einer Niederkunft gekommen«, entgegnete Lisbeth.
»So? Warum dann?«
Es fiel Lisbeth zwar immer noch nicht leicht, die Worte auszusprechen, doch was half es, lange herumzureden? »Ich kann keine Kinder bekommen«, sagte sie schlicht.
Bela betrachtete sie aufmerksam aus kleinen, goldfarbenen Augen. Unter dem sauberen Kopftuch, das sie sich um den Kopf gewunden hatte, lugte eine dürre Strähne schlohweißen Haares hervor. »Du siehst gesund und kräftig aus. Was ist mit deinem Mann? Hat er Kinder?«, fragte sie forsch.
»Nein, ich sagte doch, dass wir keine Kinder haben. Deswegen bin ich ja hier!«
»Nicht du, Kindchen. Er! Hat dein Mann Kinder?«
Die Direktheit der Frage ließ Lisbeth zusammenzucken. Anders als sein Vater war Mertyn kein Mann, der sein Vergnügen bei leichten Mädchen suchte. Abgesehen davon war ihr Gatte so sehr mit seinen Geschäften und der Politik beschäftigt, dass er kaum die Zeit für solche Zerstreuungen finden würde. »Nicht dass ich wüsste«, sagte sie verlegen.
»Was stimmt dann nicht mit ihm?«, fragte Bela ungerührt.
Auf den Gedanken, dass es nicht an ihr, sondern an Mertyn liegen könnte, war Lisbeth noch gar nicht gekommen. Gemeinhin war es der Fehl der Frauen, wenn sie keine Kinder bekamen.
Sie musste ein verdutztes Gesicht gemacht haben, denn Bela ließ ein zahnloses, meckerndes Lachen hören. »Schau nicht wie eine Kuh, wenn es donnert! Es wär nicht das erste Mal, dass es an dem Kerl liegt.«
Gänzlich unpassend kamen Lisbeth die respektlosen Worte der Berlichhure in den Sinn: »Oder hat dein Mann einen toten Wurm im Latz?« Lisbeth hielt sich die Hand vor den Mund. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte sie laut gelacht.
»Was ist mit seinem Zerss?«, fragte die Alte, als hätte sie Lisbeths Gedanken gelesen.
Lisbeth stieg die Röte ins Gesicht.
Was sollte damit sein?
Fragend blickte sie Bela an.
»Na, ist er zu groß oder zu klein, zu dick oder zu dünn, oder einfach krumm und schief? Vielleicht knubbelig und verwachsen?«, fragte sie so gleichmütig, als rede sie von Gurken, die ein Bauer auf dem Markt feilbot.
Die Röte in Lisbeths Gesicht vertiefte sich. Mit einer solch peinlichen Befragung hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte zwar nicht viele Vergleiche, doch bisher war ihr an Mertyns bestem Stück nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Verneinend schüttelte sie den Kopf.
Bela nickte. »Steht er oft in der Nacht auf, um sich zu erleichtern?«
Abermals schüttelte Lisbeth den Kopf. »So alt ist er noch nicht.«
»Ist er krank? Gebrechlich? Friert er leicht?«
Gegen ihren Willen musste Lisbeth lächeln. Mertyn war jung, gesund und kräftig. »Nein.«
»Trinkt oder isst er im Übermaß?«
Mertyn aß schon gern und gut und sprach auch dem Wein zu. Doch übermäßig? Nein, das könnte man nicht von ihm behaupten. Dann dürfte kaum einer der Männer, die sie kannte, Kinder haben. Ihr Schwager Hans kam Lisbeth in den Sinn. Der aß in der Tat beängstigende Mengen. War das der Grund, warum er und Tante Fya bislang auch keine Kinder hatten?
»Nein«, antwortete sie.
»Wie ist sein Gemüt? Zornig? Traurig?«
Abermals konnte Lisbeth nicht umhin zu lächeln. Bela kannte Mertyn nicht! Er war so gleichmütig und beherrscht wie kaum ein Mann. »Nein, auch das nicht.«
Belas letzte Frage ließ Lisbeth aufhorchen: »Pflegt er oft den Beischlaf?«
Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatten sie im Schlafgemach viel Freude aneinander gehabt. Mertyn war ein zärtlicher und ausdauernder Liebhaber. Doch das hatte mit der Zeit nachgelassen. Mittlerweile kam er oft erst spät in der Nacht in die Schlafkammer, wenn sie bereits schlief …
»Hm!«, brummte die Alte. Unschwer hatte sie an Lisbeths Miene ablesen können, wie es um das Ime Hofesche Schlafgemach bestellt war.
»Wenn er seinen Zerss nicht gebraucht, dann wird der Samen darin nutzlos!« Ein breites Lächeln glättete die Runzeln der Alten, und sie nickte zufrieden. »Kindchen, ich sehe nicht ein, warum du und dein Mann nicht einen ganzen Stall voll Kinder bekommen solltet!«, rief sie aus. »Du solltest seiner Männlichkeit ein wenig aufs Pferd helfen.«
Mit dem Ellbogen drückte Lisbeth die Klinke an der Tür zu Mertyns Kontor auf und schob sich in den Raum hinein, bemüht, die abgedeckten Teller auf dem Tablett im Gleichgewicht zu halten.
Der Hausherr saß im schwindenden Tageslicht an seinem aufgeräumten Arbeitstisch, den Blick konzentriert auf den einzelnen Folianten vor sich gesenkt. Bei Lisbeths Eintreten hob er kurz den Kopf und schenkte ihr ein abwesendes Lächeln, um sich sofort wieder seinem Geschäftsbuch zu widmen.
Lisbeth stellte das Tablett neben ihm auf dem Tisch ab und hob die Deckel von den Tellern. Einzelne Fleischstücke lagen darauf, knusprig gebraten und kräftig gewürzt. Sogleich durchzog ein herzhafter Duft nach Gebratenem das Kontor.
Beiläufig langte Mertyn nach einem der appetitlich angerichteten Fleischstücke und schob es sich in den Mund, ohne den Blick aus dem Buch zu heben. Zweimal kaute er darauf, dann prustete er und spuckte den Bissen voller Abscheu in die hohle Hand. »Igitt! Lisbeth! Was, um Himmels willen, ist das?«
Lisbeth biss sich auf die Lippe. Von der alten Bela war sie direkt zum Alter Markt geeilt, wo man an der Kotzbank neben minderwertigem Fleisch auch Innereien feilbot. Dann war sie selbst in die Küche gegangen und hatte die Köchin vom Herd vertrieben, um Mertyns Nachtmahl eigenhändig zu bereiten.
Dass das Fleisch nicht sehr schmackhaft sein würde, hatte sie erwartet. Daher hatte sie sich bei der Zubereitung des Gerichtes besondere Mühe gegeben und viele Gewürze und teuren schwarzen Pfeffer daran getan, um den Geschmack zu übertünchen. Doch anscheinend war es trotzdem ungenießbar geraten.
»Hammelhoden, Hasenhoden, Hoden von Ebern und Hirschen«, zählte Lisbeth kleinlaut auf. »Es war gar nicht so leicht, sie aufzutreiben.«
Mertyn stieß einen würgenden Laut aus und fuhr sich mit seinem Schnupftuch über den Mund. »Das mag ja alles den feinen Zungen mancher Gecken munden, Lisbeth, doch mir machst du mit diesem neumodischen Firlefanz keine Freude. Bring mir einfach gebratene Wurst oder ein Hämmchen mit Kraut.«
»Es ist keine neue Mode«, gestand Lisbeth unglücklich. »Es ist … es ist … es ist, weil …« Ein Schluchzer bahnte sich den Weg in ihre Kehle. »Ich wünsche mir doch so sehr, dass wir endlich ein Kind bekommen!«, brach es aus ihr heraus.
Verblüfft starrte Mertyn seine Frau an. Dann zeichnete sich Verstehen auf sein Gesicht. »Und deshalb soll ich diese Unsäglichkeiten essen? Nein, Lisbeth, das ist dummer Aberglaube! Wenn der Herrgott uns mit Nachwuchs segnen will, dann wird er das schon tun«, suchte er seine Frau zu trösten. »Aber mit diesen Teufelskünsten versündigst du dich. Lass Messen lesen, von mir aus jeden Monat eine.«
»Aber alle Gebete haben nicht gefruchtet«, klagte Lisbeth verzweifelt. »Vielleicht könnten wir eine Wallfahrt machen. Nach Sankt Marien in Büchen«, schlug sie eifrig vor. »Oder nach Augsburg. Dort soll eine Jungfer leben, eine Heilige, die darin Wunder vollbringt …«
»Ach, Lisbeth.« Müde hob Mertyn die Hände. »Dafür ist doch gar keine Zeit. Ich reise bei Gott genug in der Gegend herum. Da muss ich nicht auch noch auf Pilgerfahrt gehen!«
Niedergeschlagen verließ Lisbeth das Kontor. Mertyn schien es längst nicht so zu bekümmern wie sie, dass sie keine Kinder hatten. Ihn füllte seine Arbeit zur Genüge aus. Er verspürte nicht diese Leere, die sie bisweilen fast körperlich schmerzte.
Wenn Mertyn die Speisen nicht essen wollte, die die alte Bela zur Steigerung seiner Manneskraft empfohlen hatte, was sollte sie sich dann noch einfallen lassen, um ihrem Gemahl im Schlafgemach zu mehr Eifer zu verhelfen?