10. Kapitel
Viel zu lange schon hatte die Wolkenburg keine Festlichkeit mehr erlebt. Genau genommen seit dem Weihnachtsfest vor zweieinhalb Jahren. In höchster Eile hatte die hagere Hilda Maren und die Mägde angetrieben, die Wolkenburg für den Empfang der Gäste, die dem frisch ernannten Ratsherrn zu gratulieren wünschten, in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Denn Hermans Ernennung war sehr plötzlich gekommen.
Als er am vergangenen Sonntag in das Versammlungshaus der Gaffel Wollenamt Vor Sankt Mattheis gekommen war, hatte es gegolten, zwei der vier Ratsherren, welche die Gaffel in den Rat entsenden durfte, zu ersetzen. Einmütig hatte man ihn zu einem der Ratsherren erkoren, welche für das kommende Jahr die Geschicke der Stadt zu lenken hatten.
Es gehörte zum Recht und zur Pflicht eines jeden Bürgers der Stadt, sei er nun Mitglied einer Handwerker- oder Kaufmannszunft oder nicht, einer der zweiundzwanzig Gaffeln beizutreten, jenen Vereinigungen, die ihren Namen von den bei gemeinsamen Essen verwendeten zweizinkigen Gabeln erhalten hatten.
So war zum einen sichergestellt, dass jedermann seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt leistete, denn die wurde, wenn Gefahr drohte, durch die Gaffeln organisiert. Zum anderen konnte jeder Bürger auf diese Weise Einfluss darauf nehmen, wer die Macht in Händen hielt, da die Gaffeln sechsunddreißig der insgesamt neunundvierzig Herren in den Rat entsandten.
Der Gaffel Wollenamt, der mächtigsten der zweiundzwanzig Gaffeln, gehörten Mitglieder verschiedener Zünfte an – der Weber, der Tuchscherer, der Blaufärber, der Seiler, der Garnmacher, der Weißgerber und natürlich der Seidmacherinnen.
Am gestrigen Johannistag war Herman, würdevoll gewandet in seinen neuen, in aller Eile gefertigten, schwarzen Mantel und den dazu passenden flachen, gleichfalls schwarzen Hut, zum Rathaus geschritten, wo sich die von den Gaffeln entsandten Ratsherren in der Ratskammer versammelten.
Nachdem die neuen Ratsherren – die andere Hälfte war bereits am ersten Weihnachtstag bestellt worden – ihren Eid abgelegt hatten, hatten sie aus der gesamten Bürgerschaft die Gebrechsherren gewählt, jene übrigen dreizehn Ratsherren, die nicht den Gaffeln entstammten und an denen es an der festgesetzten Anzahl von neunundvierzig gebrach. Mit diesen gemeinsam hatten sie dann Gerhard von dem Wasserfasse zum zweiten Bürgermeister neben Dietrich von Schiederich erkoren, denn auch von jenen wurde einer im Sommer und einer zu Neujahr gewählt.
Ein Hauch von Wehmut lag in Lisbeths Lächeln, als sie in der Rolle der Gastgeberin die nicht enden wollende Schar der Gratulanten begrüßte. Was würde sie darum geben, wenn ihr Vater diesen Tag noch hätte erleben dürfen. Oder wenn wenigstens Fygen hier wäre, um an ihrer Stelle die Gäste zu empfangen. Ihre Eltern wären so stolz auf Herman.
Doch es gab jemanden, der richtig stolz auf Herman war, stellte Lisbeth fest, als sie zu den Herren trat, die im Festsaal mit gefüllten Bechern auf das Wohl des frisch gekürten Ratsherrn anstießen. Neben Herman stand Alberto, dem die Freude deutlich in das dunkle Gesicht geschrieben stand.
»Aus Messina ist in diesem Jahr nicht viel Seide zu erwarten«, sagte Herman gerade. »Wir bekommen nur sieben Ballen, die den Gossenbrot in Augsburg gehören. Also werden wir uns mehr an Mailand und Genua halten müssen, fürchte ich.«
»Ja, ich hab schon gehört, dass diese Hunde von Luchesi alle Kokons aufgekauft haben«, stimmte sein Schwager Andreas Imhoff, mit einem kurzen Seitenblick auf Alberto, zu, was dieser mit einem breiten Grinsen quittierte. Die Sticheleien von Imhoff konnten ihm nichts anhaben – heute noch weniger als sonst.
»Da bekomme ich etwas mehr«, fuhr Andreas großspurig fort. »Ich kann ja schließlich in Antwerpen nicht mit Kleinkram aufwarten.«
»Eigentlich sollte es verboten werden«, mischte Lisbeth sich in das Gespräch der Männer.
»Was sollte verboten werden, Schwägerin?«, fragte Hans Her höflich.
»Die Seide aus Köln auszuführen.«
Imhoff schüttelte missbilligend den Kopf, doch die anderen Herren blickten Lisbeth interessiert an.
»Wenn die Seide einmal in der Stadt ist, dann könnte sie genauso gut von den kölnischen Seidmacherinnen verarbeitet werden. Viele von den kleinen Seidmacherinnen klagen, sie bekämen kaum Rohware, weil sie von den Importeuren gleich in die Hände der Verleger oder der großen Seidmacherinnen geht. Und Ihr führt sie auch noch aus. Wenn man das schlicht verbieten würde, hätten die kölnischen Seidmacherinnen vielleicht endlich genug zu weben. Zudem: Warum soll man die Seidenweber anderer Städte mit Rohware versorgen und so auch noch die eigene Konkurrenz großfüttern?«
»Da seid Ihr mit Eurem Vorschlag bei unserem neuen Ratsmitglied an der rechten Stelle«, sagte Hans Her und klopfte Herman gutmütig auf die Schulter.
»Ein solches Verbot mindert gewaltig die Ausfuhrakzise. Da wird der Stadtsäckel noch schmaler«, gab Mertyn, der bislang geschwiegen hatte, zu bedenken. »Ich weiß daher nicht, ob dein Vorschlag die Zustimmung des Rates finden wird.«
»Ah, da ist ja der neue Ratsherr!« Gesetzten Schrittes näherten sich Gerhard von Wesel und Johann Oldendorp der Gruppe um Herman.
Mertyn zog eine Miene, als schmerze ihn ein Zahn. Nicht, dass er seinem Schwager die Ratsherrenwürde missgönnte. Doch allzu gerecht fand er es nicht. Aber wenn man ein Lützenkirchen war, Seidenhändler wie der alte Peter, gleich, ob politisch ambitioniert oder nicht, so genoss man nun einmal ein anderes Ansehen als der Sohn eines Neubürgers, der er, Mertyn, war.
Lisbeth nutzte die Gelegenheit, die Gruppe um Herman zu verlassen. In der Tür des Saales waren weitere Besucher erschienen, und eben wollte Lisbeth auf sie zugehen, um sie zu begrüßen, als sie spürte, wie etwas zaghaft am Ärmel ihres Kleides zupfte.
»Duuuu – Tante Lisbeth?«
Lisbeth wandte sich um und blickte in die großen blauen Augen ihrer Nichte Sophie. »Ja, mein Schatz?«
Ernsthaft die Augenbrauen zusammengezogen, schaute die Achtjährige sie an. »Du bist aber eine richtige Seidenweberin, nicht wahr? Nicht so eine unechte wie Tante Fya?«
Lisbeth verkniff sich ein Lachen. »Tante Fya ist auch eine richtige Seidenweberin«, erklärte sie. »Aber sie arbeitet nicht mehr und hat auch keine Werkstatt.«
»Aber du hast eine richtige Werkstatt?« Schwungvoll legte Sophie den kleinen Kopf schief, dass ihre dicken Zöpfe wippten.
»Ja, die habe ich«, bestätigte Lisbeth.
Einen Moment lang kaute das Kind auf seiner Lippe und schien nachzudenken. Dann platzte es heraus: »Darf ich sie mir mal anschauen, die Werkstatt?«
»Aber natürlich! Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich besuchen kommst«, antwortete Lisbeth.
Sophie strahlte sie an.
»Dann komme ich dich besuchen, Tante Lisbeth!«, versprach sie und hüpfte fröhlich davon.
Als Lisbeth nur wenig später die nächsten Gratulanten zu Herman führte, hatte sich das Gespräch der Herren den praktischen Seiten seiner Ratsherrenschaft zugewandt.
»Du wirst sehen, so ein Amt ist ein gewaltiger Aufwand«, unkte Andreas Imhoff. »Es schadet ganz schön dem Geschäft, wenn du drei Mal in der Woche mit den Herren zu Rate sitzt!«
Musste ihr Schwager denn alles miesreden, dachte Lisbeth verärgert, bloß weil niemand auf die Idee käme, ihn zum Ratsherrn zu machen.
Doch Herman blieb gelassen. »Es ist ja nur für ein Jahr, und ich habe doch großartige Hilfe«, entgegnete er.
Lisbeth sah, wie Stephan, der im weiteren Kreis um Herman stand, ob des unverhofften Lobes, das ihm zuteilwurde, strahlte.
»Mein Freund Alberto hier wird sich um die Geschäfte kümmern, wenn ich mich für euer aller Wohl aufopfere«, witzelte Herman und legte dem Italiener die Hand auf die Schulter. »Und wenn nötig, findet sich ja auch jederzeit ein tüchtiger Kaufmannsgeselle.«
Stephans Miene versteinerte. Er presste die Lippen zusammen und stand für einen Moment reglos da, bevor er sich abwandte, um den Saal zu verlassen.
»Es ist eine schreckliche Sünde in der Stadt.« Der Pfarrer von Sankt Peter donnerte die Worte durch das Kirchenschiff, auf dass auch der Müdeste erwache.
Gespannt reckten die Gläubigen die Hälse. Hatte man etwas verpasst? Von schwerer Sünde hörte man immer wieder gern, es verbreitete doch ein gar angenehmes Gruseln – freilich nur, solange man nicht selbst betroffen war.
Der Pfarrer, der sich nun der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Schäflein gewiss war, senkte die Stimme auf normale Predigtlautstärke. »Seit langem schon treibt sich eine verderbte Gesellschaft auf dem Heumarkt herum«, fuhr er fort. »Verkriecht sich für ihre Unzucht in die Häuschen am Leinwandmarkt. Es ist, wie Paulus in seinem Brief an die Römer schreibt: Männer verschmähen den natürlichen Gebrauch der Frauen, erhitzen sich aneinander und treiben Schande – Mann mit Mann!«
Ein Raunen der Verwirrung strich durch das Gotteshaus, als man begriff, von welcher Sünde die Rede war: die stumme, die unsprechliche Sünde.
Der Pfarrer holte tief Luft, und die Gemeinde, an die Rhetorik ihres Hirten gewöhnt, hielt gespannt den Atem an. Man wusste, er prangerte nicht des Prangerns willen.
»Doch nicht nur dieses faule Gelichter ist mit dieser Sünde befleckt – nein –, bis ins hohe Haus des Rates gar hat sich die Sünde gekreucht!«
Das war unfassbar! Erschrocken, doch nicht ohne Neugier, blickte man um sich. Senkte einer verschämt das Haupt, um des Wortgewaltigen stechenden Blickes zu entgehen? Einer der honorigen Herren im schwarzen Tuch der Ratsherren gar?
»Du sollst nicht beim Knaben liegen wie beim Weibe, denn es ist ein Greuel! Wenn jemand beim Knaben schläft wie beim Weibe, haben sie einen Greuel getan und sollen beide des Todes sterben; ihr Blut sei auf ihnen.« Die Worte Gottes fluteten der Gemeinde in das Gewissen.
»Sie ziehen den Zorn des Allmächtigen auf sich. Ihrem lüsternen Treiben ist Aufruhr und Brand zu danken, wie er unlängst die Stadt gegeißelt …«
Als die Messe ihr Ende gefunden hatte, vermochten die Kirchgänger nur schwerlich ihre Mutmaßungen zurückzuhalten, wer denn nun wann und wo und vor allem mit wem und mit wem nicht gesündigt habe, bis sie das Gotteshaus verlassen hatten. Das war eine aufsehenerregende Predigt gewesen, dessen war man sich einig.
Doch auch der Pfarrer von Sankt Peter war zufrieden. Ganz gehörig hatte er die Gemeinde aufgerüttelt. Raschen Schrittes eilte er in das niedrige Sakristeihaus, das der Nordseite der Kirche angebaut war.
Vielleicht sollte man in Erwägung ziehen, alle Häuschen am Leinwandmarkt einfach abzubrennen, um das Laster zu vertreiben, sinnierte er. Beinahe wohlgestimmt genehmigte er sich einen Schluck roten Messweines gegen die Herbstkälte, die in seine gichtischen Knochen biss, als er das Geräusch schwerer Schritte vernahm. Der Pfarrer wähnte den Sakristan hinter sich und gönnte sich einen letzten Schluck, bevor er den Krug verkorkte und mit einem Kreiderest augenfällig darauf eine Markierung anbrachte. Quod licet Iovi …, dachte er – was dem Jupiter erlaubt ist.
»Eine schöne Predigt, Hochwürden!«
Das war nicht das kieksende Falsett des Küsters! Erschreckt fuhr der Pfarrer herum. Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann mit Stiernacken. Der stattliche Besucher war in einen schwarz-roten Umhang gehüllt, und der Pfarrer benötigte einen Moment, um in dem Hünen Bürgermeister van Berchem zu erkennen.
»Wie meint Ihr?«, fragte er verdutzt und faltete in gewohnter Pose die Hände vor dem Bauch, um die seinem Amt angemessene Würde zurückzuerlangen.
Van Berchem war kein Mann, der große Vorreden bemühte. »Ich nehme an, Ihr hattet einen Anlass für den Gegenstand Eurer Predigt?«
»Ja, leider!« Der Pfarrer seufzte. »Ich habe sichere Kenntnis erhalten, dass die stumme Sünde in der Stadt umgeht.«
»Ich irre nicht, wenn ich davon ausgehe, dass Ihr diese Kenntnis in der heiligen Beichte erhieltet?«, fragte van Berchem.
»Da irrt Ihr ganz und gar nicht.«
»Weshalb Ihr nicht geneigt seid, jene Personen namhaft zu machen?«
»Auch darin geht Ihr recht.« Was ihm bei der Beichte zugewispert worden war, so grauenvoll es auch sein mochte, unterlag selbstverständlich dem Beichtgeheimnis.
Der Bürgermeister nickte bedächtig, als wäre er nicht unzufrieden mit der Antwort des Geistlichen. Einen Moment schien er zu überlegen. »Wenn ich mich recht entsinne, so nanntet Ihr die stumme Sünde als Grund für die Unruhen im Volke?«
Der Pfarrer nickte. »Ganz recht.«
»Der Unterschied zwischen Grund und Anlass ist Euch geläufig?«
»Sicher.« Der Pfarrer erlaubte sich ein feines Lächeln, entschlossen, die Worte des Bürgermeisters nicht als Kränkung zu verstehen. Zu viele seiner Amtskollegen waren kaum des Lesens mächtig, von rhetorischer Feinheit ganz zu schweigen.
Van Berchem fasste sein Gegenüber scharf ins Auge. »Nun, es würde mich nicht erfreuen, wenn es diesmal umgekehrt käme – dass die Sünde Anlass gibt für Unruhen, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Der Pfarrer verstand ganz genau. In Zeiten wie dieser genügte ein kleiner Funken, um die Bürgerschaft in Aufruhr zu versetzen und sich gegen die Obrigkeit zu erheben. Der offenkundig gemachte Sündenfall eines Ratsmitgliedes konnte sehr wohl zu genau solch einem Funken werden.
»Vielleicht belasst Ihr es also bei dieser einen Ermahnung?«
Der Pfarrer zögerte. Keinesfalls wollte er sich angesichts des Jüngsten Gerichtes vor dem Herrgott dafür rechtfertigen müssen, leichtfertig einen Aufruhr ausgelöst zu haben, der Unglück und viele Tote über die Stadt brachte.
Abermals entfuhr dem Pfarrer ein tiefer Seufzer. Amt und Jahre hatten ihn verständig genug werden lassen, um einzusehen, dass seine Worte, so eindrücklich sie auch sein mochten, die Verderbten ohnehin nicht von ihrem Vergehen gegen die Natur abbringen würden. Doch die Neugier ihrer Mitmenschen war nicht zu unterschätzen, und so würden sie sich künftig bei ihrem schändlichen Tun weit größerer Vorsicht befleißigen müssen. Seiner Pflicht war damit Genüge getan, entschied er und nickte seine Zustimmung.
»Natürlich wird sich der Rat erkenntlich zeigen. Für Eure Verdienste um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der Stadt werde ich Euch aus den Kellern des Rathauses einen guten Tropfen verehren«, sagte van Berchem und wandte sich gerade zum Gehen, als der Küster in die Sakristei trat.
Respektvoll geleitete der Pfarrer den gnädigen Herrn zum Portal, derweil in der Sakristei der Küster die Kreide vom Krug mit dem Messwein wischte.
Bevor der Bürgermeister das Gotteshaus verließ, drehte er sich noch einmal zum Pfarrer um. »Nur weil es mich interessiert: Wieso nennt man es eigentlich die unsprechliche, die stumme Sünde?«
»Die Bezeichnung rührt daher, dass keiner, nicht einmal der Teufel, es je gewagt hätte, dieser Sünde einen Namen zu geben.«
In der Sakristei entkorkte der Küster den Krug und nahm einen Schluck, der dem des Pfarrers nicht nachstand. Dann holte er die Kreide aus dem Eck und brachte eine neue Markierung auf dem Krug an, gut einen Fingerbreit unterhalb der des Pfarrers. … etiam licet bovi – das ist auch dem Ochsen erlaubt.
»Das ist alles?«, fragte Lisbeth und blickte irritiert auf die vier Ballen Seidenstoff, die Ida Rummels aus dem Wachstuch wickelte und ihr zur Begutachtung vorlegte. Die Beschaffenheit des Stoffes brauchte sie nicht zu überprüfen, sie wusste, die wäre so gut wie gewohnt, doch Lisbeth meinte, sich zu erinnern, Ida weit mehr Rohseide gegeben zu haben. Für sechs Ballen hätte es alle Male reichen müssen.
Ida nickte beschämt. »Ich hab ja noch gut ein Drittel der Rohseide von Euch. Nicht, dass Ihr denkt, ich wolle Euch darum betrügen …« Sie hielt inne und blickte sichtlich beschämt zu Boden.
»Was ist geschehen«, fragte Lisbeth sanft. Ida war eine der Seidmacherinnen, die für sie im Verlag arbeitete. Bis dato hatte sie stets zügig und zuverlässig ihre Arbeit abgeliefert.
»Ich habe nur noch zwei Webstühle«, sagte sie leise.
»Was ist mit dem dritten?«
»Er ist alt, und ich hab ihn schon mehrmals ausbessern lassen. Aber jetzt ist er ganz hinüber.« Und nach einer Pause fuhr sie kaum hörbar fort: »Einen neuen kann ich mir einfach nicht leisten.«
»Daran soll es nun wirklich nicht scheitern«, entschied Lisbeth. Ich habe noch einen Webstuhl, der nicht mehr in Gebrauch ist. Es ist zwar nicht der neueste, und der Kettbaum muss ausgebessert werden, doch das ist das Geringste. Ich lasse ihn dir in ein paar Tagen hinüberbringen.«
Ida starrte sie mit großen Augen an. Dann ergriff sie Lisbeths Hand, beugte sich darüber und führte sie an ihre Lippen. »Danke Euch. Vielmals Dank. Der Herrgott wird es Euch vergelten«, stammelte sie.
Verlegen entzog Lisbeth ihr die Hand. Dafür hatte sie keinen Dank verdient. Es war das mindeste, was sie für die Seidmacherin tun konnte.
Kaum hatte Ida die Werkstatt verlassen, als Rita, ohne anzuklopfen, eintrat. Sie war so lange hier tagtäglich als Lehrmädchen ein und aus gegangen, dass sie einfach nicht daran dachte. Doch vor ein paar Wochen war Ritas Lehrzeit zu Ende gegangen. Sie hatte das Haus Zur Roten Tür verlassen und den Melchior von Kerpen geheiratet.
»Frau Ime Hofe«, sprach sie ihre einstige Lehrherrin direkt an. »Ich weiß mir keinen Rat, als Euch um Hilfe zu bitten. Gerne würde ich als Seidmacherin selbständig arbeiten. An den drei Gulden, die es kostet, soll es nicht fehlen. Doch man lässt mich einfach nicht.«
»Wer lässt dich nicht?«
»Die Berchem-Schwestern. Drei Mal schon war ich bei ihnen, doch sie lassen mich einfach nicht vor. Sie seien nicht zu sprechen, zu beschäftigt, leider momentan unpässlich, gerade außer Haus. Es ist zum Auswachsen!« Hilflos hob Rita die Hände. »Vielleicht könnt Ihr Euch für mich verwenden?«
»Und ob ich das tun werde!«, erwiderte Lisbeth.
»Lisbeth Ime Hofe, meine Liebe, was führt Euch zu uns? Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, zu hören, dass Euer Bruder nun einen Sitz im Rat innehat.« Brigitta van Berchem erging sich förmlich in Höflichkeit und nötigte Lisbeth auf die gepolsterte Bank in der Stube des Hauses Xanten.
»Nichts von Bedeutung«, erwiderte Lisbeth die Freundlichkeit. »Eine Formalie, sicherlich. Eines meiner Lehrmädchen, Rita von Kerpen, möchte zum Amt zugelassen werden.«
»Zum Amt zugelassen. Ah ja.« Brigitta neigte den Kopf in höflichem Interesse, doch Lisbeth vermeinte auch eine Spur Wachsamkeit in ihrer Miene zu erkennen.
»Rita von Kerpen.« Brigitta runzelte die Stirn, als forsche sie umständlich in ihrem Gedächtnis. »Ist sie denn überhaupt als Lehrmädchen eingetragen?«
»Ich bin mir sicher, vor drei Jahren, als Rita zu mir kam, für sie die Einschreibegebühr entrichtet zu haben.«
»Wie seltsam, ich kann mich gar nicht entsinnen …«
Du falsches Biest, dachte Lisbeth. Du entsinnst dich sehr wohl an Rita. Warum sonst weigerst du dich, sie zu empfangen? Doch höflich sagte sie: »Wir können es einfach im Zunftbuch nachschlagen. Das sollte Euch keine allzu großen Umstände bereiten.«
»Ähem. An das Zunftbuch komme ich gerade nicht heran. Es stehen schwere Kisten vor dem Zunftschrein …«
Erstaunt hob Lisbeth die Augenbrauen. Sehr genau entsann sie sich der schweren, mit Schlössern gesicherten Truhe, die im Kontor ihres Vaters gestanden hatte, wenn er oder Fygen Amtsmeister gewesen waren. Sie war stets gut verschlossen, doch jederzeit für die Zusammenkünfte des Seidamtes verfügbar gewesen. Mit der Wahl eines neuen Vorstandes war der Schrein dann in dessen Haushalt verbracht worden.
»… aber es ist auch nicht von Bedeutung.« Brigitta schien selbst gemerkt zu haben, wie dürftig ihre Ausrede war, und änderte ihre Taktik. Vertrauensvoll beugte sie sich zu Lisbeth vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Warum seid Ihr so erpicht darauf, dass sie zugelassen wird? Denkt doch einmal nach, mein Kind.« In ihre dunklen Augen schlich sich ein listiges Funkeln, das Lisbeth an einen Raubvogel gemahnte. »Natürlich will jede Seidmacherin werden. Doch je mehr Seidmacherinnen es gibt, desto weniger bleibt für uns zu verdienen. Wir müssen schön aufpassen. Wenn wir jede zum Amt zulassen, dann werden es mehr und mehr Seidmacherinnen, die uns letztlich um unser Brot bringen …«
Wer brachte hier wen ums Brot, dachte Lisbeth erbost, doch sie zwang sich zu Ruhe. »Jahr für Jahr hören Hauptseidmacherinnen auf, ihr Gewerbe auszuüben. Sie setzen sich zur Ruhe, unterstützen ihre Männer in deren Geschäften, ziehen Kinder groß, werden krank oder sterben. Da ist es doch nur gut und richtig, wenn junge Seidmacherinnen nachwachsen.«
Brigitta schüttelte knapp den Kopf. »Es gibt bereits jetzt mehr als genügend von uns«, sagte sie eindringlich.
Doch Lisbeth ließ sich nicht beirren. »Kölnische Seide wird in der ganzen Welt begehrt. Ich bin sicher, es ist genug Arbeit da für mehr als noch ein zusätzliches Dutzend Seidmacherinnen.«
»Lasst Euch versichert sein, Frau Ime Hofe …« Brigitta zog ihren Kopf zurück und richtete sich kerzengerade auf. Ihr Tonfall nahm deutlich an Schärfe zu. »Ich weiß sehr genau, was dem Wohl der Zunft dient.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und senkte ihren Raubvogelblick tief in Lisbeths Augen. »Ihr macht sicher einen großen Fehler, wenn Ihr versuchen solltet, meinen Plänen zuwiderzuhandeln.«
Unverrichteter Dinge verließ Lisbeth Haus Xanten. Doch so einfach würde sie sich nicht geschlagen geben. Brigitta mochte gute Beziehungen haben, doch ganz ohne Einfluss war sie selbst schließlich auch nicht.
»Einen Ballen feinen englischen Wolltuches gesendet an die Jungfer Laminit zu Augsburg, zu Lasten der Kompanie Fugger und Gebrüder«, fakturierte Herman, doch als Lisbeth außer Atem in sein Kontor trat, ließ er die Feder sinken. »Na, was wollen die Seidmacherinnen denn heute schon wieder von mir?«, fragte er schmunzelnd.
Gestern erst, um die Zeit der Non, war Lisbeth vom Bamasmarkt in Antwerpen zurückgekehrt und hatte es kaum erwarten können, in die Wolkenburg zu eilen. Vier Wochen voller goldenen Herbstwetters hatten die Geschäfte noch besser geraten lassen als gewohnt, und das schöne Wetter war ihr bis an den Rhein gefolgt.
»Los, sag schon, hat der Rat entschieden?«, drängte sie. Denn nicht nur die Mühlen Gottes mahlen bekanntlich langsam. Auch jene des Rates der Stadt Köln befleißigten sich zuweilen keiner größeren Schnelligkeit. Und so hatte erneut das Laub von den Bäumen fallen müssen, bevor sich die gnädigen Herren endlich mit den Fragen befassten, die Lisbeth so sehr unter den Nägeln brannten.
»Lass mich überlegen, es ist so viel beraten worden«, antwortete Herman gedehnt, wohl wissend, welchen Entscheidungen seine Schwester entgegenfieberte.
»Nun komm schon. Du weißt genau, was ich meine.«
Herman lachte gutmütig. »Zunächst wird es dich überraschen, zu hören, dass wir verfügt haben, dass den Klöstern und Konventen nunmehr überhaupt kein Seidengut mehr zur Verarbeitung gegeben werden darf.«
Lisbeth nickte. Das kam in der Tat überraschend, aber es war nur gerecht. Viele der Konvente wurden mit Spenden bedacht und bedurften des Einkommens nicht, das sie den zünftigen Seidspinnerinnen fortnahmen. Leid tat es Lisbeth für die Beginen, die sich künftig nach neuen Einnahmequellen umschauen müssten, was sich sicherlich nicht einfach gestalten würde. Doch im Grunde war die Entscheidung des Rates richtig, und sie selbst würde sich daran halten. Zugleich beschloss sie, den Frauen im Annenkonvent jährlich einen kleinen Beitrag zukommen zu lassen, so wie Fygen es immer gehalten hatte.
»Die Entscheidung über die Ausfuhr von Rohseide ist leider auf unbestimmte Zeit vertagt worden«, fuhr Herman fort, als er sich wieder Lisbeths Aufmerksamkeit versichert hatte. »Von Rheidt und van Berchem konnten die Ratsherren davon überzeugen, dass zu viele Bürger, die von einer solchen Entscheidung betroffen wären, just in Antwerpen weilten.«
Enttäuscht presste Lisbeth die Lippen aufeinander. Diejenigen, welche von der Entscheidung wirklich betroffen waren, jene, denen das Verbot vielleicht die Existenz gerettet hätte, waren kaum in Antwerpen gewesen. Sie hatten nicht genug Seide weben können, um damit zur Messe zu fahren. Denjenigen, die wegen des Bamasmarkts verhindert gewesen wären, hätte ein solches Verbot lediglich den Profit gekürzt.
»Doch nun das Beste zum Schluss.« Ihr Bruder riss Lisbeth abermals aus ihren Gedanken. »Rita von Kerpen ist per Ratsbeschluss zum Seidamt zugelassen worden.«
»Wie wundervoll!«, jubelte Lisbeth. Sie sprang auf und fiel Herman um den Hals.
»Ich konnte meine Kollegen davon überzeugen, dass jede Seidmacherin mit dem Verkauf ihrer Erzeugnisse die Einkünfte der Stadt mehrt und wir uns keinen Albus entgehen lassen sollten, so leer, wie der Stadtsäckel ist«, berichtete Herman nicht ohne Stolz. Und so hatte man Lisbeths ehemaliges Lehrmädchen zwar unter Zahlung der drei üblichen Gulden, jedoch ohne weitere Formalien zum Seidamt zugelassen.
Überglücklich kehrte Lisbeth in ihre Werkstatt zurück. Dass man Rita gestattet hatte, ihr Gewerk auszuüben, bedeutete, dass es nicht aussichtslos war, um Gerechtigkeit im Seidamt zu kämpfen. Bewies es doch, dass Brigittas Macht nicht grenzenlos war!
Mit Wohlwollen betrachtete Lisbeth die Tuche, die ihre Weberinnen während ihrer Abwesenheit gefertigt hatten. Sie konnte keinen Fehl daran finden, und auch in der Anzahl waren es kaum weniger, als wäre die Meisterin zugegen gewesen. Es schien, als setze Stina Lommerzheim mittlerweile alles daran, Lisbeths Vertrauen in sie zu rechtfertigen. Gerade wollte sie den Frauen ein großes Lob für ihren Fleiß aussprechen, als Stina willkürlich davonstob.
»Was haben wir denn hier für eine kleine Kröte?«, rief sie und zog hinter einem der Regale ein kleines Mädchen hervor. Ertappt zog das Kind den Kopf zwischen die Schultern, doch Stina packte es beim Genick und schob es in den Kreis der staunenden Frauen.
»Sophie!«, stellte Lisbeth überrascht fest. »Was machst du denn hinter dem Regal?«
»Ich wollte mir deine Werkstatt anschauen, Tante Lisbeth. Du hast es doch erlaubt.«
»Ja, aber wieso versteckst du dich dann?«
Immer noch hielt Stina Sophie beim Genick gepackt.
»Du kannst sie loslassen. Es ist meine Nichte«, wies Lisbeth ihre Weberin an.
Betreten schaute Sophie ihre Tante an. Die Unschuld in ihrem Blick ließ Lisbeth misstrauisch werden. »Deine Mutter weiß nicht, dass du hier bist, nicht wahr?«, argwöhnte sie.
Das Kind presste die Lippen zusammen. Dann schüttelte es den Kopf, dass die dunklen Zöpfe flogen. »Sie ist bei Tante Fya. Aber du verrätst mich nicht, Tante Lisbeth? Vater wäre bestimmt böse, wenn er es wüsste.«
Gegen ihren Willen musste Lisbeth schmunzeln. Natürlich sähe kein Vater es gern, wenn seine Tochter von zu Hause ausbüxen würde. Dieses Kind hier schien in seiner Wildheit eher ihrer Großmutter Fygen nachzuschlagen als ihrer ruhigen, tugendhaften Mutter Agnes.
»Nun, da du jetzt schon einmal da bist, kannst du dir auch alles anschauen«, sagte sie mit einem Zwinkern. Es würde Sophie nicht schaden, etwas anderes als ihr behütetes Zuhause kennenzulernen. Lisbeth rief ihr jüngstes Lehrmädchen zu sich. »Regina wird dir alles zeigen«, erklärte sie Sophie. »Frag sie ruhig, wenn du etwas wissen willst.«
Ein Strahlen erhellte das kleine Gesichtchen, und eifrig ergriff Sophie die ausgestreckte Hand des Lehrmädchens, das sie mit sich fortzog.
»Und wie hat es dir gefallen?«, wollte Lisbeth wissen, als Regina Sophie nach einer Weile zu ihr ins Kontor brachte, wo sie damit begonnen hatte, die Verkäufe vom Bamasmarkt zu buchen – in der neuen Weise, Soll an Haben, wie sie es von Herman gelernt hatte.
»Ganz gut.«
»Nur ganz gut?«, fragte Lisbeth mit gespielter Enttäuschung.
»Jaaaa.« Das Kind überlegte kurz. »Die Seide ist sehr schön. Und die Garne und die Webstühle. Aber es ist alles nur weiß! Ich dachte, die Seide ist ganz bunt!«
Lisbeth sah die ehrliche Enttäuschung in den Augen ihrer Nichte. Kurzentschlossen legte sie die Feder auf das Journal und erhob sich. Sie wollte Meister Quettinck ohnehin in den nächsten Tagen aufsuchen. Doch das konnte sie genauso gut jetzt erledigen, und Sophie würde sie dann auf dem Rückweg bei ihrer Schwester abliefern.
»Weißt du was?«, fragte Lisbeth ihre Nichte. »Ich werde dir bunte Seide zeigen. Würde dir das gefallen?«
Sophie nickte, die Unterlippe erwartungsvoll zwischen die Zähne geklemmt.
Nur eine kurze Weile später bog der Fuhrknecht im Pfarrbezirk Sankt Peter in die Gasse Onder Blauverfer ein und brachte den leichten Wagen vor dem Haus von Färber Quettinck zum Stehen.
Der Färber empfing sie herzlich, führte sie in die Stube und bot seiner Kundin wärmenden Würzwein an, den Lisbeth gern annahm. Mit einem Lächeln bemerkte sie die Ungeduld, mit der Sophie auf der Bank hin und her rutschte. »Meine Nichte würde sehr gerne Eure Werkstatt sehen, Meister Quettinck.«
»Nichts lieber als das!« Der Färber freute sich über die Neugier des Kindes. »Godert!«, rief er durch die Tür in den Hof hinaus.
Sogleich kam ein schlanker Junge mit wuscheligem Blondhaar aus dem Werkstattgebäude am Ende des Hofes und trat in die Stube. Trotz seines jugendlichen Alters – er mochte zwölf oder dreizehn Jahre zählen – hatte er an Armen und Schultern bereits ansehnliche Muskeln. »Ihr habt gerufen, Meister?«
Quettinck nickte. »Godert, dies ist Sophie, die Nichte von Frau Ime Hofe. Ich wünsche, dass du ihr die Werkstatt zeigst.«
»Sehr gern.« Wenn der Bursche überrascht war über die Anweisung seines Lehrherrn, so ließ er es sich nicht anmerken. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er und führte das Mädchen auf den Hof hinaus.
Ein scharfer Geruch umfing Sophie, wurde beißender, je näher sie dem aus hölzernen Wänden gefügten Werkstattgebäude kamen, und als sie schließlich eintraten, hielt das Mädchen sich entsetzt die Nase zu. Es stank zum Davonlaufen.
Godert grinste und wies auf einen großen Bottich, von dem der Gestank auszugehen schien. »Da ist ausgefaulter Urin drin.«
»Was ist da drin?«, fragte Sophie und blickte neugierig in den Bottich, der bis über die Hälfte mit einer klaren, dunklen Flüssigkeit gefüllt war.
»Verfaulter Urin. Pipi. Der Inhalt von Nachtgeschirren!«
Sophie verzog angewidert das Gesicht, ließ jedoch in ihrer Neugier nicht nach. »Sag bloß, ihr macht gelbe Farbe mit Pipi?«
Godert lachte. »Der Stoff soll später gelb werden, das ist schon richtig. Aber nicht so, wie du denkst, sondern mit Wau. Reseda. Die gelben Blumen kennst du doch?«
Sophie nickte gespannt.
»Damit der Farbstoff später auf der Seide haftet, muss der Stoff erst gebeizt, also mit einem Beizmittel gekocht werden. Und dafür nehmen wir Urin, der ist umsonst zu haben«, erklärte Godert und zog eine Grimasse. Er fand es gar nicht lustig, jedes Mal, wenn ihnen die Beize ausging, am frühen Morgen mit einem Eimer von Haus zu Haus zu gehen und die kleinen Geschäfte, welche die Menschen in der Nacht verrichtet hatten, zu erbetteln. Doch diese Aufgabe fiel nun einmal dem jüngsten Lehrbuben zu. Mit etwas Glück würde er sie im nächsten Jahr an einen neuen Lehrjungen weitergeben dürfen.
Sophie kicherte leise und blickte sich um. An den Wänden reihten sich Fässer neben Körben, die Färbemittel enthalten mochten, stapelten sich große und kleine Kessel, Pfannen mit langen Stielen und Schöpfkellen hingen an Haken von der Decke herab, lange Stecken lehnten an der Wand, und es stand so manches Gerät herum, von dessen Nützlichkeit Sophie sich keine Vorstellung machen konnte. Doch am augenfälligsten waren die drei anderen großen Holzbottiche, die auf dem gestampften Boden standen.
In dem einen bewegte ein Geselle mit kräftigen Armen und breitem Kreuz mit einem langen Stecken Tuch hin und her. Zum Schutz gegen die Farbmittel hatte er, wie auch die anderen Gesellen und Lehrburschen, eine lederne Schürze vor seine Kleidung gebunden.
»Die Bottiche sind aber groß«, sagte Sophie staunend.
»Müssen sie sein, wenn ganze Stoffballen darin gefärbt werden sollen. Und Seide wird nur im Stück gefärbt«, erklärte Godert, geschmeichelt von dem Interesse des Mädchens. »Das sind bis zu vierzig Ellen!«
Ein älterer Lehrbursche trat herbei und löste den Gesellen mit dem Stecken ab.
»Die Seide muss immer in Bewegung bleiben, damit sie gleichmäßig durchgefärbt wird«, setzte Godert seine Erklärungen fort. »Und das da« – er wies auf einen anderen Einrichtungsgegenstand an der seitlichen Werkstattwand – »ist der Stochofen.«
Sophie betrachtete den Ofen näher. Er war rund gemauert, mit einer Öffnung für die Feuerung, in die Holz geschoben wurde, wie bei anderen Öfen auch. Doch der obere Teil bestand aus einer abgerundeten Höhlung, in die ein großer Kessel eingefügt war.
Stimmen drangen durch die dünne Bretterwand. Undeutlich zunächst, doch als Sophie an den Stochofen herantrat, um ihn sich aus der Nähe zu betrachten, war aus der Nachbarwerkstatt, die sich an die Quettincksche anlehnte, deutlich eine tiefe, schnarrende Frauenstimme zu vernehmen: »… Und ob du es tun wirst!« Die Stimme klang keineswegs freundlich. »Du bist ein Nichts! Ein Niemand! Schau dich um. Siehst du hier irgendetwas in der Werkstatt, das nicht mir gehörte?« Die Stimme wurde leiser, bedrohlich jetzt, doch immer noch vernehmbar. »Ein Wort von mir genügt, und du bist erledigt!«
Unsicher blickte Sophie Godert an.
»Scher dich nicht drum«, sagte der Lehrjunge leichthin und machte eine wegwerfende Geste. »Da drüben ist manchmal der Teufel los.«
»Hach! Aber das ist ja unlauter! Das kann ich nicht. In den Geboten heißt es: Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen …«, erklang nun beinahe flehentlich eine Männerstimme aus der nachbarlichen Werkstatt. Hoch und fistelnd zwar, doch erkennbar die Stimme eines Mannes.
»Warum spricht er so komisch?«, wollte Sophie wissen.
Doch bevor Godert antworten konnte, drang wieder die barsche Frauenstimme durch die Bretter der Wand: »Komm du mir gerade mit den Geboten. Ich weiß genau, dass du gegen mehr als ein Gebot verstößt.«
»Und wie soll ich das anstellen?« Der Mann hatte offensichtlich resigniert.
»Sag, was ist mit ihm? Wieso redet er so komisch«, drängte Sophie.
»Er ist verrückt!«, erklärte Godert.
Noch einmal vernahmen sie die Stimme der Frau: »Wozu hast du einen Kopf zwischen den Ohren? Denk nach. Dir wird schon etwas einfallen.«
Dann hörten sie, wie nebenan mit lautem Knall die Werkstatttür zuschlug. »O Gott, o Gott, o Gottchen …«, wehklagte der Mann, dann verlor sich die Stimme in der Tiefe des Raumes.
Godert fasste Sophie bei der Hand und zog sie mit sich aus der Werkstatt. »Komm, jetzt zeige ich dir noch, wo wir die Stoffe trocknen.«
Als sie auf den Hof hinaustraten, hatte sich der Himmel verdunkelt. Bleifarbene Wolken waren aufgezogen, und wie goldene Nadeln stachen die letzten Sonnenstrahlen durch sie hindurch.
Gerade als Sophie und Godert die außen am Haus angebrachte hölzerne Treppe erreichten, die zum großen Dachboden hinaufführte, erschien Lisbeth in der Tür. »Sophie«, rief sie. »Es wird Zeit, dass wir gehen.«
Enttäuscht ließ Sophie Goderts Hand los.
»Kommst du wieder?«, fragte der Lehrjunge leise und spürte, wie ihm das Blut in die Ohren stieg.
»Natürlich!«, antwortete Sophie und schenkte ihm ein Lächeln, das die Röte aus seinen Ohren tiefer rutschen und sich über sein ganzes Gesicht ausbreiten ließ. Dann eilte sie zu ihrer Tante.
Als Lisbeth und Sophie sich anschickten, in den Wagen zu steigen, öffnete sich die Tür des Nachbarhauses. Ein schmalbrüstiger Mann mit langen erdfarbenen Locken trat hervor.
Der Statur und dem Erscheinen nach hätte man ihn eher für einen Musikanten gehalten denn für einen Färber, denn anders als den meisten seiner Zunft fehlten ihm die kräftigen Muskeln, welche die jahrelange schwere Arbeit wachsen ließ.
Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, legte den rechten Arm über seinen Leib und stützte den linken Ellbogen darauf. Das spitze Gesicht in die seltsam abgewinkelte Hand geschmiegt, dabei den kleinen Finger affektiert gespreizt, blickte er Lisbeth und Sophie unverwandt nach, bis der Wagen außer Sicht geriet.
»Was ist mit dem Mann?«, fragte Sophie. »Er ist mir unheimlich. Godert sagt, er ist verrückt!«
»Das ist nur Seger Sydverwer.« Lisbeth lächelte gequält. »Er ist in der Tat ein wenig seltsam. Aber das muss dich nicht beunruhigen.«
Als Lisbeth Sophie wenig später im Haus Zum Kleinen Ochsen ablieferte, hatte sich der Himmel gänzlich verdüstert. Einer Drohung gleich lasteten die Wolken über der Stadt.
Andreas Imhoff zeigte sich ganz und gar nicht erfreut über das Ausbleiben seiner Tochter. »Ich billige so etwas nicht«, beschied er Lisbeth. »Eine wohlerzogene Tochter aus gutem Haus gehört nicht in eine Werkstatt.«
»Was ist denn schon dabei? Sie hat nur ihre Tante besucht«, versuchte Lisbeth ihren Schwager zu beschwichtigen. Sie hätte daran denken müssen, dass Sophies Vater die Eskapaden seiner Tochter missbilligen würde, aber sie hatte sich so über das Interesse ihrer Nichte an der Seidenweberei gefreut, dass sie es dem Kind hatte durchgehen lassen. Von ihrem Ausflug in die Färberei, der gänzlich ihre Idee gewesen war, gar nicht zu reden. Den verschwieg sie Andreas wohlweislich.
»Nun, mir hat es nicht geschadet, ein paar Jahre in der Werkstatt meiner Mutter zu verbringen«, warf Agnes ein. »Und meinen Schwestern auch nicht.«
»Deine Mutter …«, schnaubte Andreas, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er ging nicht so weit, den Satz zu vollenden, doch sowohl Lisbeth als auch Agnes wussten, dass Andreas das Betragen seiner Schwiegermutter ohnedies für unsäglich hielt.
Sophie blinzelte Lisbeth verschmitzt zu. Für heute war sie davongekommen.
Wenn sie selbst eine Tochter hätte, so hätte sie nichts dagegen, wenn diese Sophie ähneln würde, dachte Lisbeth auf dem Heimweg und konnte sich eines Anfluges von Wehmut nicht erwehren. Auch wenn das Kind nicht immer so fügsam war, wie Eltern es sich gemeinhin wünschten.
Zurück in ihrer Werkstatt, erwartete Lisbeth abermals eine Besucherin. Eine, die sich schon aufgrund ihres Umfanges nicht hinter einem Regal verstecken konnte, auch wenn Grete Elner längst nicht mehr die Leibesfülle von einst besaß.
»Was kann ich für Euch tun?«, fragte Lisbeth erschöpft. Nach den anstrengenden Messetagen hatte sie sich eigentlich einen ruhigeren ersten Arbeitstag gewünscht. Zudem verursachte das aufziehende Wetter einen unangenehmen Druck hinter ihrer Stirn.
»Habt Ihr Arbeit für mich?«, fragte Grete direkt. Mit Höflichkeiten hatte sie sich noch nie aufgehalten.
»Ihr arbeitet nicht mehr für Frau van Berchem?«
»Nein«, presste Grete hervor, »nicht mehr.« Sie beließ es dabei, gab keine Erklärung.
Doch Lisbeth wollte auch gar keine Rechtfertigung hören. Zumal sie sich den wahren Grund ohne Schwierigkeiten vorstellen konnte. Grete Elner war noch nie für ihren Fleiß und die besondere Qualität ihrer Erzeugnisse berühmt gewesen. Es musste wirklich schlecht um Grete stehen, dass sie sich so weit erniedrigte, die Tochter ihrer langjährigen Feindin um Arbeit zu bitten.
Müde schüttelte Lisbeth den Kopf. Es war schlimm genug, dass sie den Frauen, die bereits für sie im Verlag arbeiteten, nicht die Arbeit aufkündigen konnte. Doch sie würde sicher keine neue beschäftigen, schon gar nicht Grete Elner.
»Nein«, sagte sie müde, »ich benötige keine weitere Hilfe.«
Die wuchtige Frau vor ihr richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, nun mehr fordernd denn bittend, überragte sie Lisbeth um mehr als eine Haupteslänge. »Auch wenn Eure Mutter und ich nicht die besten Freundinnen sind, so sind wir doch verwandt.« Gretes Worte gerieten anklagend, im Tonfall beinahe unverschämt.
So wirst du es nicht leicht haben, neue Arbeit zu finden, dachte Lisbeth. »Nein«, wiederholte sie fest, »es tut mir leid.«
»Wie konnte ich auch bei einer Ime Hofe auf Mitgefühl hoffen!«, zischte Grete. Ihr teigiges Gesicht verzog sich zur höhnischen Grimasse. Sie trat näher an Lisbeth heran und reckte drohend das Kinn vor. »Ihr vergesst, dass Ihr Eure großartige Weberei einzig und allein mir zu verdanken habt!« Gretes Worte zielten nicht darauf, Lisbeth umzustimmen, vielmehr schwang darin eine offene Drohung.
Lisbeth verschlug es ob dieser Unverschämtheit beinahe die Sprache. Aus purer Niedertracht hatte Grete dafür gesorgt, dass Fygen nicht länger ihre Seidenweberei betreiben durfte, und nun entblödete sie sich nicht, sich damit auch noch vor deren Tochter zu brüsten und ihr zu drohen. »Raus!«, herrschte Lisbeth sie an.
Verächtlich spuckte Grete auf den Boden und stapfte aus der Werkstatt.