16.  Kapitel

Es war heiß auf der Frankfurter Straße. Wie matte Perlen, aufgezogen auf eine ausgeblichene Schnur, wälzten sich gemächlichen Schrittes die nicht enden wollenden Pferdefuhrwerke, Ochsengespanne und Maultierkarren des kölnischen Geleitzuges südostwärts. Der Staub, von Zugtieren und Rädern aufgewühlt, hing einer schmutzigen Fahne gleich über dem grau-goldenen Band des ausgefahrenen Weges. Er kroch unter Lisbeths Reisemantel, klebte ihr auf der schweißnassen Haut und knirschte ihr unangenehm zwischen den Zähnen.

Wenigstens ein Gutes hatte die Staubwolke, dachte Lisbeth ergeben: Sie milderte das gleißende Licht der Augustsonne, die erbarmungslos auf die Reisenden niederbrannte. Das waren eben die Unannehmlichkeiten der Reise, die es des Profits willen in Kauf zu nehmen galt. Denn nirgendwo – außer vielleicht in Antwerpen oder Bergen-op-Zoom – konnte man seine Waren so gewinnbringend veräußern wie in Frankfurt, das nicht nur aufgrund seiner Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Handelsstraßen, und überdies auf dem Wasserwege erreichbar, zum ersten Handelsplatz des Reiches avanciert war.

Freilich nur für die kurze Zeit der Fasten- und Herbstmesse. Während dieser Zeit schien Frankfurt den Kölnischen wenn schon nicht das Herz, dann doch zumindest der Geldsäckel der Welt zu sein. Denn hier trafen die niederdeutschen Kaufleute, hinter denen der Handel mit Russland, Skandinavien und England stand, auf ihre Oberdeutschen Kollegen, deren Handelsbeziehungen sich nach Schlesien, Polen, Ungarn, Frankreich, Italien und Spanien spannten.

Als freie Reichsstadt nur dem König untertan und daher nicht der Willkür sich abwechselnder Stadtherren ausgesetzt, betrieb Frankfurt eine kluge Handelspolitik: Es beharrte nicht auf einem Stapelrecht, hielt die Abgaben niedrig und gewährte den Gästen Handelsfreiheit. Sie konnten untereinander Handel treiben, ohne dass die Geschäfte über Frankfurter Mittelsmänner abgewickelt werden mussten, wie es in Köln geboten war.

Damit entging dem Frankfurter Stadtsäckel zwar ein hübsches Sümmchen Geldes, doch die Rechnung der Stadtväter ging auf: Zum einen füllte das Geleit als bezahlter Schutz die Kassen, und zum andern überstiegen der Gewinn und der Wohlstand, den die Messe ihren Händlern und der ganzen Stadt brachte, diesen kleinen Mangel bei weitem. Und so übte die Frankfurter Messe auf alle, die kauften und verkauften, eine unwiderstehliche Anziehung aus.

Eine neuerliche Staubwolke trieb Lisbeth Tränen in die Augen und ließ sie blinzeln. Der Wagen von Johann und Frieda Medman, der in der Kolonne direkt vor ihr rollte, war kaum zu erkennen. Dies war der vierte und letzte Reisetag, und sie hatte von Staub und Dreck, vom Rütteln und Schaukeln, von jedem Stoß, der sie erschütterte, wenn die Räder des Fuhrwerks wieder in eines der Schlaglöcher gerieten, gründlich die Nase voll. Wenngleich ihr Fuhrmann ein erfahrener Wagenlenker war, so gelang es ihm doch nicht immer, die Löcher in der ausgefahrenen Fahrrinne zu umgehen.

Der Zug geriet ins Stocken und blieb stehen. Bewaffnete Reiter preschten herbei. Für einen Moment erschrak Lisbeth, doch dann erkannte sie das hölzerne Kreuz am Wegrand, das die Geleitgrenze markierte.

Aus dem Staub tauchte Stephans Gesicht auf. Ihr Schwager zügelte sein Pferd und ließ es neben Lisbeths Wagen im Schritt gehen. »Wir haben es bald geschafft«, sagte er aufmunternd. »Es ist die letzte Geleitsgrenze, und das da« – er wies auf die Berittenen – »sind schon die Frankfurter Schutztruppen. Bis zur Stadt sind es nurmehr fünf Meilen.«

Der Zugführer reichte dem Anführer des Trupps sein Geleitschreiben, und es verstrich eine Weile, bis die Papiere geprüft und das Geleitgeld entrichtet worden war. Dann endlich schien alles geklärt. Die Landsknechte, die den Zug die letzte Etappe auf der Altstraße begleitet hatten, um sie vor Wegelagerern und Diebesbanden zu schützen, grüßten, wendeten ihre Pferde und ritten davon. Ihre Arbeit war getan.

Flankiert von seinen neuen Beschützern, setzte sich der Zug alsbald wieder in Bewegung, um nun noch das letzte Stück des Weges hinter sich zu bringen, und Lisbeth seufzte auf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein kühlendes Bad und ein anständiges Nachtmahl.

Stephan schien ihre Gedanken erraten zu haben. Mit einem jungenhaften Lächeln band er eine Feldflasche von seinem Sattel, entkorkte sie und reichte sie ihr. Dankbar nahm Lisbeth einen tiefen Schluck, und ein anerkennendes Lächeln breitete sich über ihre verstaubten Züge. Die Flasche enthielt nicht, wie sie erwartet hatte, dünnes Bier oder gewässerten Wein, sondern einen ausnehmend guten, vollmundigen Rotwein. Stephan hatte recht, dachte sie. Warum sollte man es sich nicht gutgehen lassen und die Annehmlichkeiten der Messe genießen? Die Anstrengungen hatte man ja auch zu ertragen.

Und die hatten beileibe nicht erst mit dem ersten Tag der Geleitwoche, jenen vier Tagen vor Messebeginn, an dem man die Heimatstadt verlassen hatte, begonnen. Denn wie stets waren der Abreise Wochen fieberhafter Betriebsamkeit vorangegangen.

Beizeiten hatte Lisbeth Färber Quettinck daran erinnert, ihre gefärbten Tuche rechtzeitig zu liefern, und sie hatte die Lehrmädchen auf Trab gehalten, allerlei Besorgungen zu erledigen: Es fehlte an Schnur und an Leinwand.

Tagelang hatten die Lehrmädchen und Helferinnen daraufhin die farbigen Ballen in Leinen geschlagen, für den Transport zu Bündeln geschnürt und diese schließlich in gewachstes Tuch eingenäht, damit weder Regen noch Rheinwasser oder gar der Kot der Möwen sie beschmutzen würden.

Mathias, Mertyns Kaufmannsknecht, hatte die Packen auf einen Karren geladen und zum Rheinufer kutschiert, wo sie schließlich auf einen der Oberländer verladen wurden, jene hochbordigen Schiffe, deren geringer Tiefgang es ihnen ermöglichte, die flacheren Gewässer des Mittelrheins mit seiner schmalen Fahrrinne zu befahren – flussaufwärts freilich an Treidelstricken und mit der Kraft ihrer Ruder.

Wie die meisten Waren würden Lisbeths Seidenballen Frankfurt auf dem Wasserweg den Rhein hinauf über Mainz erreichen. Trotz der vielen Zollstellen war das weitaus günstiger als der teure Landtransport, wenn auch die Schiffer natürlich, wie in jedem Jahr vor der Messe, ihre Unentbehrlichkeit genutzt hatten, um ihre Frachtraten zu erhöhen. Entscheidend war, dass man in Mainz den Vorzug genoss, dass die für Frankfurt bestimmten Schiffe nach Visitation und Entrichtung der üblichen Stapelgebühren weiterfahren durften, ohne ihre Ware entladen zu müssen.

Doch auch wenn ein Großteil der Waren auf dem Wasser reisen würde, so blieb noch genügend, was auf die Karren der hessischen und Westerwälder Fuhrleute geladen wurde, vornehmlich kostbare Frachten wie Safran, Pfeffer und Muskat oder Gold- und Silberwerk, und hier und da fand sogar ein Fässchen mit barem Geld sein sicheres Versteck unter den hölzernen Planken.

Auch der ehrbare Rat der Stadt Köln war von der Betriebsamkeit nicht verschont geblieben. Um die Sicherheit ihrer Kaufleute auf der Hin- und Rückreise zu gewährleisten, hatten die Stadtväter zahllose Geleitsbitten an die Fürsten und Städte gerichtet, die auf der Rheinstrecke oder der Köln-Frankfurter Straße Geleitsrechte hatten: an die Rheinischen Kurfürsten, die Landgrafen von Hessen, die Grafen von Katzenellenbogen, Sayn und Wied, die Herren von Isenburg, das Mainzer Domkapitel, die Stadt Mainz, gelegentlich auch an die Städte Koblenz und Andernach und schließlich an die Stadtväter von Frankfurt. Vor der Abreise pflegte der Rat den Reisewilligen dann in einer Morgensprache von der Rathauslaube herab mitzuteilen, wie sicher das Geleit schließlich war, das zu erwarten stand.

In vergangenen Jahren hatte der Rat den Kaufleuten mehr als ein Mal schon die Reise verboten, weil einer oder mehrere der Geleitherren aus politischen oder aus finanziellen Gründen – etwa um höhere Zahlungen für das Geleit durchzusetzen – den Kölnischen die Durchreise verwehrt hatte. Doch in diesem Jahr hatte der Rat seine Händler ohne Bedenken ziehen lassen, und so waren es um die fünfzig Großhändler und wohlhabende Handwerker, die sich in Köln auf den Weg gemacht hatten, dazu ungezählte Krämer und Kleinhändler, die versuchen würden, in Frankfurt günstig einzukaufen, um die Waren später daheim gewinnbringend an ihre Kunden abzusetzen.

Die Fernkaufleute hatten ihre mit Salz, Heringen, Käse und englischem Tuch gefüllten Kästen, Ballen und Packen – nicht zu vergessen die Wein- und Bierfässer, die sie zu ihrem eigenen Verbrauch mitführten – auf ein, zwei oder gar drei Schiffe verteilt und waren mit Weib und Knechten auf die Reise gegangen.

Die Handwerker hatten ihre Erzeugnisse, all die Wolltücher, Bettlaken, Häute, Waffen, Zinnschüsseln, Hauben und Ransen, Stiefel und Hosen verpackt und sie auf Karren oder auf die Oberländer geschafft.

Sogar Packer und Makler hatten ihr Bündel geschnürt, um ihren Mitbürgern – mit Genehmigung der Stadt Frankfurt – die gewohnten Dienste zu leisten, und selbst der eine oder andere Bestatter reiste mit, für den Fall, dass ein Kölnischer in der Fremde unerwartet vor seinen Schöpfer treten würde.

Die Kölnischen stellten die größte Gruppe, die nach Frankfurt reiste, dichtauf gefolgt von den Nürnbergern und den Augsburgern. Doch auch aus Speyer, Worms, Mainz, Ravensburg und aus Lübeck strebten Händler und Handwerker, Höker und Bauern der Stadt am Main zu, die verheißungsvoll mit guten Geschäften lockte.

Je näher sie der Stadt kamen, umso dichter wurde der Verkehr auf den Straßen, umso schleppender ging es voran. Zumal so manch einer lebende Waren mit sich führte und sich daher Pferde und Rinder zwischen den Karren drängten.

Alle wollten beizeiten vor Ort sein, wenn acht Tage nach Egidi, zu Beginn des Septembers, die Herbstmesse ihren Anfang nahm, und so wurden die Tore der Stadt zu Nadelöhren, denn ein jeder wollte sie passieren, bevor man sie für die Nacht schloss. Es wurde gedrängelt und geschubst. Ungeduld ergriff die Fuhrleute. Laut ließen sie die Peitschen über die müden Rücken der Zugtiere knallen. Ihr Gebrüll mischte sich mit dem der Tiere und schmerzte Lisbeth in den Ohren.

Endlich, als die Sonne bereits lange Schatten warf, passierte auch ihr Pferdefuhrwerk das Tor und rollte in die Stadt hinein. Trotz aller Müdigkeit verspürte Lisbeth das erwartungsvolle Prickeln, das sie stets in diesem Moment ergriff, eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Anspannung. Ob all ihre Seidwaren sicher nach Frankfurt gelangt waren? Und ob es ihr auch in diesem Jahr gelingen würde, gute Preise dafür zu erzielen? Nun, man würde es abwarten müssen. Zunächst einmal – Gott sei es gedankt – war die Reise ohne böse Zwischenfälle verlaufen.

 

Ausgeschlafen und voller Tatendrang erwachte Lisbeth am Morgen in ihrer Kammer im Steinernen Haus, der Herberge, in die sich die kölnische Kaufmannschaft stets zu Messezeiten einzumieten pflegte. Die Erschöpfung von der Reise hatte sie nach einem kurzen Nachtmahl rasch in die Federn sinken und in tiefen traumlosen Schlaf fallen lassen, obwohl es für sie ungewohnt gewesen war, ohne Mertyn in der Herberge zu nächtigen. Angesichts der Wichtigkeit der anstehenden Entscheidungen des Rates hatte ihr Gemahl es in diesem Jahr vorgezogen, in Köln zu bleiben. Er würde statt nach Frankfurt später im September zum Bamasmarkt nach Antwerpen reisen.

Nachdem Lisbeth sich mit einem reichhaltigen Morgenmahl für den Tag gewappnet hatte, trat sie in den Hof des Steinernen Hauses, wo Mertyns Knecht Mathias mit den anderen Reiseknechten beisammensaß und sie sich die Zeit mit Würfeln vertrieben, bis die Herrschaften ihrer bedurften.

Mathias war ein kräftiger Kerl mit hellem Blondschopf und gutmütig blickenden Augen. Er hatte Lisbeths Waren zu Schiff begleitet und war gleichfalls am vergangenen Tag angekommen. Ein paar Mal war er schon mit Mertyn und Lisbeth nach Frankfurt und Antwerpen gereist, und obwohl noch jung an Jahren, war er erfahren genug, auch ohne Lisbeths Anweisungen zu wissen, welche Aufgaben und Pflichten seiner in Frankfurt harrten. Und so hatte er in weiser Voraussicht einen der jungen Burschen zu seiner Hilfe angeworben, die sich wie jeden Morgen vor den Türen der Herbergen drängten, in der Hoffnung, sich für ein paar Stunden oder Tage verdingen zu können.

Gemeinsam mit Mathias und Thomas, wie der junge Bursche hieß, stieg Lisbeth in den Keller des Steinernen Hauses hinab, wo Mathias im vergangenen Frühjahr nach Ende der Fastenmesse das Bauholz für ihren Stand eingelagert hatte. Kurz überprüfte der Knecht die Bretter und Holme. Das Holz war trocken geblieben, und alles schien so beisammen zu sein, wie er es im Frühjahr hinterlassen hatte. Anstellig luden er und Thomas sich das Bauholz auf die Schultern, schleppten es die schmale Kellerstiege hinauf, verluden es auf einen Handkarren und schickten sich an, es in die Römerhallen zu schaffen.

Auch Lisbeth machte sich auf den Weg. Als sie auf die Gasse trat, schlug ihr der Lärm von Hämmern und Sägen entgegen. Harziger Duft von frisch geschlagenem Holz erfüllte die Luft. Auf dem Rossmarkt zäunte man Pferche ab für Kühe und Pferde. Und nicht nur in der Neuen Kräme, wo man Geschirr, Gläser und Haushaltwaren anbieten würde, und auf den gewohnten Handelsplätzen, dem Römerberg zwischen Dom und Rathaus, dem Liebfrauenberg, dem Heumarkt und am Mainufer waren Handwerker und Händler zugange, Buden und Stände zu errichten, sondern mittlerweile auch in den Gassen rund um den Römer. Die Messe wurde von Jahr zu Jahr größer, schien es Lisbeth.

Städtische Bedienstete wiesen den Händlern ihre Plätze an und achteten lautstark darauf, dass jeder seinen Stand auf der ihm zugewiesenen Stelle errichtete, und nicht zwei Schritt rechts oder links davon. Streng riefen sie ihre Befehle und disputierten mit wachsendem Unmut mit so manch einem, der sich ungerecht behandelt fühlte und sich einen Stand wünschte, der weiter vorn oder hinten, näher zum Dom oder weiter von diesem entfernt war.

Man sputete sich, denn die Geleitwoche ging ihrem Ende zu. Morgen bereits begann die Geschäftswoche. Bis morgen mussten die Stände stehen und all die Waren ausgepackt und zum Verkauf gerichtet sein, ansprechend und wohlgeordnet, damit sie in den Augen der Käufer Begehrlichkeit weckten. Morgen würde hier ein Betrieb ganz anderer Art herrschen. Scharen von Käufern würden sich zwischen den Ständen drängen und die Waren begutachten, prüfen, verwerfen, feilschen und kaufen.

Auch kölnische Handwerker böten stolz die Erzeugnisse ihres Fleißes an, doch nicht minder wichtig wäre es für sie, sich hier mit den Rohmaterialien einzudecken, die sie für die kommenden Monate benötigten, um ihre Gewerke auszuüben: die Kerzenzieher mit Wachs und Talg, die Hutmacher mit böhmischer Hutwolle, die Weber mit Garn, Wolle und Flachs.

Die Färber erstünden Färberdistel und Krapp aus Speyer oder Worms und natürlich thüringischen Waid, da ihnen beileibe nicht ausreichte, was davon am Niederrhein wuchs. Die Kürschner kauften Buntwerk aus dem Osten, vornehmlich von den Nürnbergern, die Pulvermacher Salpeter, die Riemenschneider, Schuster und Sattler ihr Leder, die Drucker und Verleger packenweise gutes Druck- und Schreibpapier.

Die kölnischen Fernhändler reisten an mit Zinn aus Böhmen und Sachsen, mit Ochsenhäuten aus Ungarn, Stahl aus dem Siegerland und Kupfer von Leipziger Firmen. Im Gegenzug würden sie Frankfurter Bord erstehen, das begehrte Bauholz vom Oberen Main, dazu Samen, Getreide und Wein aus Franken und aus der nahen Rhein- und Nahegegend, italienische Rohseide, Reis und andere Erzeugnisse, die ihre Oberdeutschen Kollegen aus den Ländern am Mittelmeer herbeibrachten.

Fast ausschließlich fremde Handwerker und Kaufleute würden ihre Waren feilbieten. Dass die in Frankfurt ansässigen Händler selbst nicht so unternehmungslustig waren, in die Welt zu reisen, um Handel zu treiben, dass ihre Handwerker an Fertigkeiten und Raffinesse ihren kölnischen und Nürnberger Kollegen nachstanden – wer konnte es ihnen verübeln? Die Welt kam doch zu ihnen, um direkt vor ihrer Tür mit den erlesensten Waren, die man sich nur vorstellen konnte, Handel zu treiben: mit Brabanter Tuch und Spitzen, mit venezianischen Glaswaren, mit Rosenkränzen aus Tirol, mit Heringen aus Lübeck, mit Pferden, Bauholz und Juwelen, mit orientalischen Gewürzen und nicht zuletzt mit Büchern – auch mit solchen, die anderen Ortes der Zensur unterlagen.

Doch von all diesen Kostbarkeiten war zu dieser frühen Morgenstunde noch wenig zu sehen. Sie befanden sich noch verladen auf Karren und Fuhrwerken auf den Straßen und Gassen oder ruhten in den Lagerhäusern am Mainufer oder in den von Frankfurter Wirten gemieteten Kellern und Gewölben.

Behende wich Lisbeth den Karren und Trägern aus, die mit Bauhölzern jeder Länge und Breite beladen waren. Vorbei an Bretterstapeln und über Haufen aus Sägespänen hinweg erreichte sie schließlich den Römer, Frankfurts Rathaus und gute Stube. Erhaben blickten die Treppengiebel auf das Getriebe am Fuß ihrer Fassade hinab, und es mochte scheinen, dass sie es mit Wohlwollen betrachteten, denn jeder abgeschlossene Handel, jedes erfolgreiche Geschäft diente dazu, Ruhm und Einfluss der Stadt zu mehren.

Vor gut einem Jahrhundert hatte man die beiden Häuser Zum Römer und Goldener Schwan zum neuen Rathaus umgebaut, weil das alte Rathaus am Dom den Anforderungen der stetig wachsenden Bürgerschaft nicht mehr genügt hatte, und das Gewölbe, das sich über das gesamte Erdgeschoss erstreckte, barg den wohl begehrtesten Verkaufsplatz überhaupt: die Römerhalle.

Die Stände entlang der Säulen unter den Kreuzrippen waren den Händlern ganz besonders edler Waren vorbehalten – hier handelte man mit Juwelen, Seide und Brokat. Der Fuß Standplatz wurde hier zu einem Schilling vermietet, was beileibe ein hoher Preis war, doch der Einsatz lohnte sich. Denn die Kunden, die nach Erlesenem suchten, fanden ihren Weg hierher. Und hier, nicht weit vom Eingang entfernt, hatte auch Lisbeth ihren angestammten Platz, um den sie so manch eine Seidmacherin beneidete. Zusammen mit der Weberei hatte sie ihn von ihrer Mutter übernommen.

Als Lisbeth an ihren Platz trat, hatten Mathias und Thomas bereits die Pfosten zu Tischgestellen verschraubt und Bretter darübergelegt. Nun machten sie sich auf den Weg zum Hafen, um die Seidenballen zu holen, die immer noch an Bord des Oberländers darauf warteten, entladen zu werden.

»Guten Morgen«, begrüßte Lisbeth Katharina Loubach, die am Stand nebenan bereits damit beschäftigt war, die letzten Ballen zu arrangieren. Sie mochte Katharina. Trotzdem gab es ihr einen Stich, die junge Seidmacherin am Stand neben sich zu sehen. Der Standplatz hatte einst ihrer Schwiegermutter gehört, und als Katryn Lisbeth ihren Betrieb übergeben hatte, hatte diese den Platz an Clairgin weitergereicht. Doch wie die anderen kleineren Seidmacherinnen reiste Clairgin seit ein paar Jahren nicht mehr zur Frankfurter Messe. Sie hätte sich weder die Kosten für die Reise noch die Standgebühren leisten können, und überdies: Was hätte sie hier auch anbieten sollen, bei den geringen Mengen, die sie und ihre Töchter webten? Und so hatte Clairgin den Standplatz wiederum an Katharina weitergegeben.

»Bist du schon wieder oder immer noch hier?«, flachste Lisbeth, um ihre Gefühle zu überspielen.

»Ja, wenn man so lange in den Federn liegt wie du, dann braucht man natürlich bis in den Abend für den Aufbau«, gab Katharina lachend zurück. Sie schlug die Ecken der oberen Stoffe einladend um, so dass sich den Käufern die glänzende rechte Seite darbot. »Nein, im Ernst. Unser Knecht war gestern mit den Waren so zeitig hier, dass er schon alles vorbereitet hatte. Und ich habe auch nichts dagegen, mich heute Nachmittag ein wenig auszuruhen, bevor es losgeht.«

Lisbeth entfaltete ein stabiles Laken aus festem Barchent und breitete es über die Tische. Die Bretter waren zwar alle glatt gehobelt, aber sie wollte sichergehen, dass sich nicht ein einziger Splint in den feinen Geweben verfing und womöglich Fäden zog oder Löcher hineinriss.

»Ach, nun gehabt Euch nicht so wegen der paar Fuß!«, tönte die schnarrende Stimme von Brigitta van Berchem herüber. Lässig lehnte die Seidmacherin ein paar Schritte entfernt an ihrem Stand.

Ihr gegenüber hatte sich Mechthild van der Sar aufgebaut und stemmte die Hände in die Hüften. »Wegen der paar Fuß, wie Ihr es nennt, passt mein Stand nicht hierher!«

Lisbeth und Katharina wechselten einen beredten Blick.

»Dann macht ihn halt etwas kleiner. Auf das Stückchen kommt es doch wohl nicht an«, empfahl Brigitta ungerührt.

»Doch, es kommt genau darauf an. So kann ich nämlich den letzten Tisch nicht stellen!«, beharrte Mechthild. Ihre Stimme gewann an Höhe und Lautstärke, und die Umstehenden unterbrachen nur zu willig ihre Arbeit, um dem Gezänk zu lauschen.

Von den Zankenden unbemerkt, war Dres van der Sar davongeeilt und kehrte nun zurück, energischen Schrittes gefolgt von einem städtischen Bediensteten. Ohne sich in den Disput der Frauen hineinziehen zu lassen, legte dieser die Messlatte an. Seiner Miene war unschwer anzusehen, dass das Gekeife der Weiber an seinen Nerven zerrte.

Mit flinker Hand, die bewies, dass er kein Neuling in seinem Amt war, vermaß er Brigittas Stand. Dann richtete er sich auf und wies auf einen Punkt, der mittig unter Brigittas letztem Tisch lag. »Da ist Euer Platz zu Ende«, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Verkleinert den Stand!«

»Ihr wisst wohl nicht, mit wem Ihr redet?«, fuhr Brigitta auf.

»Mit einem Weib, das gleich den Handel verboten bekommt, wenn es nicht meinen Anweisungen Folge leistet«, gab der Städtische ruhig zurück.

Ärgerlich biss Brigitta die Zähne zusammen. Einen Moment lang erwog sie, diesem herablassenden Wicht gehörig den Kopf zu waschen. Doch sie fürchtete, dass der Name van Berchem hier in Frankfurt nicht den Klang besaß, den er in Köln hatte, und bevor sie riskierte, dass man ihr tatsächlich den Handel verbot … Widerwillig gab sie ihrem Knecht ein Zeichen, den Stand zu verkleinern.

Mechthild bedachte Brigitta mit einem triumphierenden Lächeln und fuhr darin fort, ihren Stand zu bestücken. Erneut wechselten Lisbeth und Katharina einen Blick. Sie wussten, Mechthild hatte sich damit keinen Gefallen getan.

In dem Moment erschienen Mathias und Thomas mit den ersten Packen, die Lisbeths Seidenballen enthielten. Auf einem Handkarren hatten sie diese den Weg vom Leonhardstor, wo die Schiffe anlandeten, heraufgebracht und luden sie nun vor den Verkaufstischen ab.

Lisbeth nahm ein scharfes Messer zur Hand und öffnete vorsichtig die Nähte der Einschlagtücher. Sie entnahm dem ersten Packen den obersten Ballen, prüfte ihn gewissenhaft von allen Seiten, und als sie keinen Fehl daran finden konnte, legte sie ihn auf den Verkaufstisch. Packen für Packen nahm sie sich vor, prüfte, sortierte und stapelte die Ballen nach Farbe und Webart gesondert auf die Verkaufstische: leichten Sindel für Fahnen und Dekorationen, dünnen Taft für Futter, schweren Taft und gewichtigen Sammet für Kleider.

Als Lisbeth schließlich auch den letzten Packen der zweiten Fuhre, die ihre Helfer ihr gebracht hatten, überprüft und sortiert hatte, zeigte sich, wie gut sie daran getan hatte, die Ballen sorgfältig einschlagen zu lassen. Nicht ein einziger Ballen hatte Schaden genommen, weder durch Feuchtigkeit noch durch Staub.

Zufrieden trat Lisbeth einen Schritt von ihrem Stand zurück und betrachtete die Stapel, die nachtblau, smaragd und grün, die zimtfarben, dottergelb, rosa und purpur leuchteten – ein Anblick, der sie mit Freude und Stolz erfüllte. Lisbeth hob den Blick und ließ ihn durch die Römerhalle schweifen. Der farbige Anblick wiederholte sich auf den benachbarten Ständen und vereinigte sich zu einer einzigartigen Komposition aus Farben, wie sie auf der schönsten Blumenwiese nicht zu finden wäre.

Die grandiose Farbenpracht erinnerte Lisbeth an ihre Nichte. Sophie liebte Farben so sehr, dass dies hier geradezu ein Geschenk für sie wäre. Vielleicht würde Agnes ihr ja gestatten, ihre Tochter im nächsten Jahr mit auf die Reise zu nehmen? Für Sophie wäre es eine lehrreiche Erfahrung, und Lisbeth würde es nicht schaden, wenn ihr jemand am Stand zur Hand ginge.

Für einen kurzen Moment genoss Lisbeth den Anblick, dann griff sie nach einem leinenen Laken und breitete es über die farbige Pracht. Bis morgen früh würde der graue Lappen die Stoffe vor Staub und Licht schützen. Sorgfältig zog sie noch einmal die Ecken glatt, dann verließ sie ihren Stand. Sie brauchte sich nicht zu sorgen, dass jemand sich an ihrem Eigentum vergreifen würde. Mathias würde hier unter dem Stand sein Nachtlager aufschlagen und ihre Waren nicht aus den Augen lassen.

 

»Ich weiß nicht, ob ich ihn nehmen soll. Es gibt ja keine reiche Auswahl mehr«, mäkelte die Dame. Sie hielt das Ende eines smaragdgrünen Tafts in den Händen und zog skeptisch die Brauen hoch.

»Nun, wenn Ihr den Ballen nicht nehmt, so kauft ihn morgen ein anderer«, beschied Lisbeth der unentschlossenen Kundin. Bereits seit einer geschlagenen Stunde schlich die Frau um ihren Stand herum, befühlte die Seiden, ließ sich beinahe jeden Ballen ein Stück weit abwickeln. Doch zum Kauf mochte sie sich nicht entschließen.

Die Halle hatte sich geleert, und nur noch vereinzelt standen Käufer und Verkäufer im Gespräch. Verstohlen legte Lisbeth die Hand an den schmerzenden Rücken. Es machte einen gewaltigen Unterschied, ob man in der Werkstatt hin und her eilte, mal am Webstuhl saß, sich bewegte, oder ob man stundenlang auf der Stelle hinter der Verkaufstheke stand und Kunden bediente.

Obschon Lisbeth es genossen hatte, mit den Käufern zu verhandeln, denn nicht wenige davon kannte sie bereits aus den vorausgegangenen Jahren. Sie schätzten Lisbeths Stoffe und kamen eigens an ihren Stand. So mancher begrüßte Lisbeth inzwischen wie eine alte Bekannte. Man wechselte das ein oder andere freundschaftliche Wort und erkundigte sich nach der Familie.

Doch diese hier würde sicher nicht zu ihrer Stammkundin werden, dachte Lisbeth, als die Frau ein neuerliches »Ich weiß nicht recht …« von sich gab. Wenn das ein unbeholfener Versuch sein sollte, den Preis zu drücken, so würde sie sicher nicht darauf eingehen. Entschlossen griff sie nach dem Laken und begann die wenigen noch verbliebenen Ballen abzudecken. Sie glaubte nicht, dass die Frau tatsächlich etwas erwerben würde. Und wenn sie wirklich Seide erstehen wollte, so würde sie morgen wiederkommen.

Konsterniert blickte die Kundin sie an, doch Lisbeth reagierte nicht darauf. Die Geschäftswoche ging ihrem Ende zu. Sie war anstrengend gewesen, aber erfolgreich, und das schöne Wetter hatte die Geschäfte begünstigt. Die wenigen noch verbliebenen Ballen würden morgen auch noch ihre Käufer finden. Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, sie heute unter Preis zu verkaufen.

Freundlich, doch bestimmt nahm sie der Frau den grünen Stoff aus den Händen, wickelte ihn sorgfältig auf und breitete auch über die letzten Ballen das Laken.

»Ja, wenn Ihr es nicht nötig habt …«, schnappte die Kundin.

Lisbeth überhörte die Unhöflichkeit. »Einen schönen Abend«, wünschte sie der Dame abschließend, verabschiedete sich mit einem Nicken von Mathias und strebte dem Tor der Römerhallen zu. Eine sauertöpfische Kundin vermochte es nicht, ihre gute Laune zu trüben. Sie wusste um die Qualität und den Wert ihrer Stoffe, das hatten ihr die guten Verkäufe der vergangenen Tage bewiesen.

Beschwingt trat Lisbeth auf den Römerplatz hinaus. Die Hitze des Tages war einer wunderbar lauen Abendluft gewichen. Lisbeth beschleunigte ihren Schritt und querte den Platz. Auch hier waren die letzten Händler eben dabei, ihre Stände für die Nacht zu sichern.

Der Wirt des Lämmchens hatte Stühle und Bänke vor die Tür geschafft, und der Hof füllte sich zusehends mit Hungrigen und Durstigen. Hier bei Jörg Blum hatten die Ravensburger für die Zeit der Messe ihr Quartier bezogen, so wie die kölnischen Kaufleute im Steinernen Haus und die Nürnberger im Großen Nürnberger Hof gleich nebenan, freilich mit dem Unterschied, dass Letzterer nicht gemietet war, sondern der Kaufmannschaft der Oberdeutschen gehörte.

Blum war bei den auswärtigen Kaufleuten für seine schmackhafte Rindswurst berühmt und für die deftigen Rippchen mit Kraut, und so fanden sich des Abends nach getaner Arbeit unter der ausladenden Krone der alten Linde in seinem Hof nicht nur Ravensburger, sondern auch kölnische, Nürnberger und Augsburger Gäste ein.

An diesem Abend herrschte eine gehobene Stimmung im Hof des Lämmchens, und die Schankmädchen schleppten Krug um Krug des erfrischenden Apfelweins heraus. Man freute sich der erfolgreichen Geschäfte, denn wenn die Geschäftswoche auch noch nicht ganz vorüber war, so war bereit jetzt erkennbar, dass diese Messe ein Erfolg werden würde. Wenn dazu in der folgenden Zahlwoche noch die Gläubiger ihren Verpflichtungen nachkämen, die sie im vergangenen Jahr eingegangen waren, wäre das Kaufmannsglück vollkommen.

Lisbeth bahnte sich einen Weg zwischen den Bänken hindurch und setzte sich zu Stephan, der mit ihrem Schwager Andreas Imhoff und dessen Nürnberger Vettern beisammensaß. Ein junger, blondlockiger Bursche, fast ein Kind noch, war dabei, dessen Gesicht sich bis über die Ohren rot gefärbt hatte. Denn sein Vater hob gerade an, eine Geschichte zum Besten zu geben, die ihm ganz und gar nicht behagte.

»Kennt ihr den Brauch des Seligenstädter Geleits?«, fragte der Vater lachend seine Vettern. Andreas und die anderen schüttelten verneinend die Köpfe, nur auf Stephans Miene schlich sich ein wissendes Lächeln, und er zwinkerte Lisbeth schalkhaft zu. Er schien zu ahnen, was es mit diesem Brauch auf sich hatte.

»Auf unserer Reise von Nürnberg hierher wechselt in Seligenstadt zum letzten Mal die Geleitstruppe.« Andreas’ Vetter machte eine Pause und vergewisserte sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer.

Diese nickten zustimmend, und er fuhr fort: »Wer von uns zum ersten Mal diese Reise antritt, hat bei dieser Gelegenheit unter Beweis zu stellen, dass er ein wahrer Mann ist und würdig, in die Nürnberger Kaufmannschaft aufgenommen zu werden.«

»Und worin besteht die Probe?«, wollte Andreas wissen.

Der Jüngling erhob sich von seiner Bank und wollte sich davonstehlen, bevor der Vater mit seiner Geschichte zu Ende kam. Wegen dieser Sache hatte er bereits genügend Hohn und Spott erdulden müssen. Doch sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn auf seinen Sitz nieder. »Darin, den hölzernen Geleitslöffel in einem Zug auszutrinken«, erklärte er glucksend.

»Und wie viel fasst der Löffel?« Andreas stellte die Frage, auf die sein Vetter gewartet hatte.

»Zwei Seidel. Wein – nicht Bier!«

»Oh! Ein anständiges Maß, will ich meinen!« Andreas lachte. »Und hat er es geschafft?«

Der Junge versuchte, sich so klein zu machen wie eben möglich. Beinahe rutschte er unter den Tisch. Lisbeth, die ahnte, was nun käme, verspürte echtes Mitleid mit dem armen Kerl.

»Nein, hat er nicht«, erklärte sein Vater mit gespielter Verzweiflung. »Gerade einmal halb ausgesoffen hat er ihn. Das kann mein Gaul besser! Hat mich ein hübsches Sümmchen gekostet, die ganze Kaufmannschaft als Entschädigung dafür bei der Rast freizuhalten. Denn der Bengel hat ja kein eigenes Geld.« Er schlug seinem Sohn auf die Schulter und lachte dröhnend. »Doch dafür habe ich ihn in der letzten Woche ordentlich schuften lassen.« Seine letzten Worte gingen im Gelächter der Zuhörerschaft unter.

Die Heiterkeit wich freudiger Erwartung, als zwei Schankmädchen dampfende Platten mit gekochtem Rindfleisch auf den Tisch stellten. Fingerdicke, saftige Scheiben waren es, übergossen von sämiger Sauce, die grün war von all den frischen Kräutern, die man hineingerührt hatte. Hungrig band Lisbeth sich Löffel und Messer vom Gürtel und aß.

So sehr waren sie mit ihrer Mahlzeit beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wie sich die Stimmung im Hof des Lämmchens plötzlich veränderte. Die Ausgelassenheit war einer gespannten Aufregung gewichen.

Einige Kaufleute hatten sich von ihren Bänken erhoben, standen zu zweien oder dreien beisammen und sprachen erregt miteinander, die Gesichter sorgenvoll gefurcht. Andere waren von draußen in den Hof getreten, hatten sich zu ihren Kollegen gesellt, auch sie in ungewohnter Aufregung.

Erst als ihr Schwager Hans zu ihnen an den Tisch trat, nahmen die Speisenden die Veränderung um sich her wahr. Etwas Außerordentliches musste geschehen sein.

Hans Her hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Habt ihr es schon gehört?«, fragte er.

»Was gehört?«, wollte Stephan wissen.

»Was Mertyn in Köln so treibt«, erlaubte Hans sich einen bitteren Scherz.

Lisbeth sog erschreckt die Luft ein, doch sogleich wurde Hans’ Miene ernst, und er erklärte: »Eben kam ein Fuggerscher Reiter mit einer Nachricht aus Köln. Der Rat der Stadt will uns aus Köln vergraulen!«

»Wen will er vergraulen?«, fragte Lisbeth entsetzt.

»Die großen Handelsgesellschaften!«

Verständnislos richteten die Augen aller sich auf den altgedienten Vertreter der Ravensburger in Antwerpen. Hans jedoch ließ sich zunächst schwer auf die Bank fallen und nahm einen großen Schluck aus seinem Becher, bevor er zu berichten begann: »Der Rat der Stadt Köln hat ein Gebot an alle auswärtigen Faktoren der großen Gesellschaften erlassen, dass sie das Bürgerrecht erwerben und sich in die Gaffeln einschreiben lassen müssen. Unter Eide sollen sie nur eigenes Gut verkaufen und keines, das fremden Gesellschaften gehört.«

»Vermaledeiter Mist!«, fluchte Stephan. »Wenn das wahr wäre, bedeutete es das Ende für den Handel der Oberdeutschen in Köln.«

Hans presste die Lippen zusammen und nickte. »Nur dreimal zwei Wochen im Jahr dürfen sich fremde Faktoren künftig in der Stadt aufhalten. Bei Verlust ihres Bürgerrechtes wird den Bürgern verboten, einer Übertretung dieser Gebote Vorschub zu leisten«, fuhr er fort.

»Aber warum das? Die Faktoren sind doch alle angesehene Herrschaften, die tun doch niemandem etwas«, warf Lisbeth ein.

»Es geht weniger darum, was sie tun, als was sie unterlassen«, entgegnete Stephan sarkastisch. »Ich kann mir nur zu gut denken, was der Grund dafür ist.«

Hans nickte abermals und legte die Fingerspitzen bedächtig aneinander.

»Und was?«, fragte der junge Neffe aus Nürnberg mit heller Stimme, froh, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit endlich anderen Dingen zuwandte.

»Den Kölnischen ist es lang schon ein Dorn im Auge, dass unsere Faktoren in Köln untereinander Handel treiben«, erklärte sein Vater, selbst Teilhaber der Nürnberger Gesellschaft Hans Imhoff und Gebrüder.

»Wenn sie etwas dagegen haben, warum verbieten sie es dann nicht einfach?«, wollte der Junge wissen. »Dafür müssen sie die Faktoren doch nicht der Stadt verweisen.«

Stephan lachte trocken. »Es ist verboten! Aber die hohen Herren des Rates können kaum etwas dagegen unternehmen, wenn sich ein Augsburger und ein Nürnberger bei einem Glas Wein zusammensetzen und ein Geschäft abschließen.«

Die Herren lachten, doch Hans Her hatte ein Einsehen mit dem Knaben. »Am besten, ich gebe dir ein Beispiel: Der Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft in Köln …«, hob er an.

»Stephan Ime Hofe?«, unterbrach ihn der Junge.

»Frau Lützenkirchen«, stellte sein Vater richtig. »Ime Hofe führt ihr die Geschäfte.«

Lisbeth sah das feine Zucken um Stephans Mundwinkel, doch Hans schien es nicht bemerkt zu haben. »Stell dir also vor, der Faktor der Ravensburger in Köln hat Wolltuch in England gekauft«, fuhr er fort. »Und der Faktor der Welser in Köln erwartet eine Lieferung Rohseide aus Venedig. Wenn nun der Ravensburger dem Welser die Wolle und der Welser dem Ravensburger die Seide verkaufen will, müsste eigentlich Folgendes geschehen: Der Ravensburger müsste seine Wolle an einen kölnischen Kaufmann verkaufen. Davon erhält die Stadt eine Akzise. Dann müsste der kölnische Kaufmann die Wolle dem Faktor der Welser verkaufen. Wieder erhält die Stadt ihren Anteil. Und genauso ist mit der venezianischen Seide zu verfahren. Alles in allem verdient die Stadt Köln an diesem einzigen Handel vier Mal.

Was aber geschieht nun wirklich zwischen dem Welser und dem Ravensburger Faktor?« Fragend blickte Hans den Knaben an, doch der blieb ihm die Antwort schuldig. »Ganz einfach«, gab er schließlich selbst die Antwort. »Die beiden handeln die Preise für die Waren aus, verrechnen die Summen miteinander und stellen fest, dass der eine noch etwas vom andern zu bekommen hat, weil die Seide vielleicht wertvoller ist als die Wolle. Die Differenz gleichen die Zentralen in Augsburg und Ravensburg direkt miteinander aus. In Köln aber fließt kein Geld, die Stadt erhält nicht einen Heller. Und das gefällt den Stadtvätern ganz und gar nicht.«

Verstehen breitete sich über das Gesicht des Jungen. »Der Rat lässt den fremden Faktoren zwar die Wahl, das kölnische Bürgerrecht zu erwerben, aber dann dürfen sie, wie die anderen kölnischen Kaufleute auch, nur noch mit eigenen Waren handeln und nicht mehr mit denen der Gesellschaften. Sie dürfen nicht mehr als Faktoren fungieren, ist das richtig?«

»Ganz richtig, mein Junge!« Sein Vater zauste ihm wohlwollend den Blondschopf. »Bist doch ein heller Kopf. Nur das mit dem Saufen müssen wir noch üben.«

»Das können die Kölnischen mit uns doch nicht machen! Was glauben sie, mit wem sie es zu tun haben?«, entrüstete sich Andreas. Vielleicht hatte auch er erst der Erläuterungen seines Schwagers bedurft, um zu verstehen, welche Folgen der Erlass des Kölner Rates auch für seine eigenen Geschäfte hätte, dachte Lisbeth nicht ohne Bosheit.

»Du siehst doch, dass wir es können«, widersprach Stephan Andreas barsch. Für ihn selbst war diese Entwicklung wenig erfreulich, denn sie stellte seine Arbeit als Angestellter einer Faktorei unmittelbar aufs Spiel. Doch er konnte es ganz und gar nicht leiden, wenn der arrogante Imhoff seine Heimatstadt geringschätzte, und so ließ er seinen Groll gegen die Stadtväter an seinem Schwager aus.

Andreas maß ihn mit einem hochmütigen Blick. »Bezeichnend ist, dass die Fugger es wieder einmal zuerst gewusst haben, noch vor eurer eigenen Kaufmannschaft«, stichelte er.

»Die Fugger, ja. Aber nicht du. Du musstest es von einem Ravensburger erfahren«, gab Stephan mit gleicher Münze heraus.

»Wir Oberdeutschen brauchen euer rückständiges Köln nicht. Dann gehen wir eben mit unseren Geschäften nach Antwerpen! Das ist ohnehin der bessere Handelsplatz. Dann bekommt ihr gar keine Akzise mehr von den Oberdeutschen Gesellschaften. Und dann werdet ihr schön dumm schauen!«, parierte Andreas.

»Und du glaubst, das hätte der Rat nicht bedacht? So dumm sind unsere Stadtväter auch nicht! Der Stadtsäckel wird an Akzisezahlungen nichts verlieren, was ihm nicht auch jetzt schon entgeht.«

»Aber wenn es ohnehin nichts ändert, dann ist es doch gleich, ob man den Handel der fremden Faktoren erlaubt oder verbietet«, warf Lisbeth ein. »Warum macht man es dann?«

»Die Oberdeutschen bringen ihre Waren nicht alle aus der Stadt hinaus. Sie bieten sie auch in Köln an, und diese Geschäfte entgehen den kölnischen Händlern. Mit dieser Maßnahme wird dafür gesorgt, dass der Handel in Köln in der Hand der kölnischen Kaufleute bleibt«, erklärte Stephan. Mit einem triumphierenden Seitenblick auf Andreas fügte er hinzu: »Und eure Zölle werdet ihr weiterhin zahlen müssen, denn mit euren Waren könnt ihr Köln kaum umgehen. Die wichtigsten Handelsstraßen von Nord nach Süd und aus dem Westen kommend laufen dort zusammen.«

»Ich denke, ihr stimmt mir zu, wenn ich sage, dass es von unseren Stadtvätern bedauerlich kurzsichtig gedacht ist«, versuchte Hans Her seine Schwäger zu besänftigen. »Sie übersehen, dass diese Maßnahme nicht dazu dient, Kölns Position als bedeutende Handelsstadt zu festigen. Im Gegenteil. Doch ich hoffe, dass in der Angelegenheit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.«

»Du bist fein raus! Du hast ja ohnehin deine Geschäfte in Antwerpen und bist kölnischer Bürger obendrein«, wandte sich Andreas nun gegen Hans.

Doch dieser ließ sich nicht reizen. »Du bist auch schon lange in Köln. Niemand hindert dich daran, gleichfalls das kölnische Bürgerrecht zu erwerben«, gab er ruhig zurück.

»Ich entstamme einer Nürnberger Patrizierfamilie!« Entrüstet schnaubend stieß Andreas die Luft aus. Er erhob sich und verließ grußlos den Tisch.

»Was für ein Pinsel!«, brummte Stephan hinter ihm her. »Aber von dem lassen wir uns nicht den Abend verderben. Wenn es uns schon künftig die Geschäfte verhagelt, dann sollten wir uns heute unserer Erfolge freuen und feiern, solange es dafür einen Grund gibt. Ich hole uns jetzt etwas Anständiges zu trinken, anstelle dieses dünnen Apfelgebräus.« Entschlossen ergriff er den Krug, schüttete den restlichen noch darin verbliebenen Apfelwein unter den Tisch und erhob sich.

Als Vertreter der kölnischen Faktorei der Ravensburger hatte er, obschon er im Steinernen Haus logierte, hier im Keller des Lämmchens einen Verschlag, in dem er die Waren der Gesellschaft, die für Köln bestimmt waren, einlagerte. Und in diesem befand sich auch ein Fässchen schweren roten Weines, den er für seinen eigenen Bedarf mit nach Frankfurt gebracht hatte.

Als er mit dem gefüllten Krug wiederkehrte, schien Stephans Laune sich gebessert zu haben. »Nicht zu glauben, dass mein Bruder es wegen einer so widersinnigen Entscheidung vorgezogen hat, in Köln zu bleiben und seine reizende Gattin allein reisen zu lassen«, bemerkte er galant zu Lisbeth.

Hans grinste, doch er widersprach Stephan: »Ich glaube eher, das Gegenteil ist der Fall. Ich bin sicher, Mertyn wollte diese Entscheidung des Rates unbedingt verhindern.« Mit dem Kinn wies er auf eine Gruppe gesetzter Herren in dunklen Schauben und schwarzen Baretts, die, ins Gespräch vertieft, ein wenig abseits der Tische standen. »Doch wie ich schon sagte: Darin ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

Mertyn und Lisbeth folgten seinem Blick.

»Ist das Anton Welser?«, fragte Stephan und wies auf einen älteren Herrn, dessen nussbrauner Bart ein breites Kinn verbarg.

Hans nickte. »Ja. Da drüben hast du fast alle beisammen, die im Handel etwas gelten. Der Mann neben ihm ist sein Schwager Konrad Vöhlin aus Memmingen, das ist Hans Imhoff aus Nürnberg.« Hans wies auf einen Herrn, dessen Züge unverkennbar den Verwandten von Andreas ähnelten, die mit ihnen am Tisch saßen. »Das dort sind Georg und Ambrosius Höchstetter, der dort ist ein Vertreter der Fugger, die beiden daneben kenne ich nicht, aber ich schätze, dass es Augsburger sind«, erklärte Hans, »vielleicht Rehlinger und Herewart, und der ganz rechts ist Jos Humpis, der Regierer der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft.«

Anerkennend pfiff Stephan durch die Zähne. »Na, denen wird sicher etwas einfallen. Sie sehen nicht so aus, als würden sie sich den Handel mit Köln einfach so wegnehmen lassen.« Er schenkte Lisbeth, Hans und sich selbst von dem Rotwein in die Becher. »Trinken wir darauf, dass es ihnen gelingt, Mertyns Ratskollegen umzustimmen.«

Diese Meinung schienen die anderen Gäste im Hof des Lämmchens zu teilen, und so wandte man sich alsbald wieder erquicklicheren Themen zu, vornehmlich den guten Geschäften der vergangenen Tage, und erfreute sich daran. Musikanten spielten auf, die Schankmägde schleppten weitere Krüge aus dem Gasthaus, und die Gruppe der gesetzten Herren in dunklen Schauben löste sich auf. Bald schon war die Anspannung heiterer Ausgelassenheit gewichen.

Durstig hatte Lisbeth ihren Becher geleert, und aufmerksam füllte Stephan ihn erneut. »Bei deinem Durst würdest du ohne Schwierigkeiten in die Nürnberger Kaufmannschaft aufgenommen«, neckte er.

»Das ist immer noch der Staub der Frankfurter Straße.« Lisbeth fiel in das Gelächter der Nürnberger mit ein. Der vollmundige Wein ließ ihr das Blut warm durch die Adern fließen, und eine unbeschwerte Heiterkeit ergriff sie.

Stephan, Hans und die Imhoffs wechselten sich darin ab, amüsante Erlebnisse ihrer Handelsreisen zum Besten zu geben, und mehrfach wandten sich andere Gäste ihnen zu, um zu sehen, woher das ausgelassene Lachen rührte. Natürlich von den Kölnischen, wird sich so manch einer gedacht haben.

Noch zweimal stieg Stephan in das Gewölbe des Lämmchens hinab, um den Weinkrug zu füllen, und allmählich kroch die Dämmerung aus den Ecken hervor. Das Handeln war eine anstrengende Sache, und der nächste Tag würde wieder des ganzen Mannes und der ganzen Frau bedürfen, und so begann sich der Hof allmählich zu leeren.

Auch Hans Her erhob sich. »Lisbeth?«, fragte er, denn wie sie logierte er im Steinernen Haus, und sie hatten denselben Heimweg.

Enttäuscht blickte Lisbeth zu ihrem Schwager auf. Über Reden und Lachen war die Zeit viel zu schnell vergangen. Es war ein schöner Abend gewesen. Mit Stephan konnte man wirklich Spaß haben, und sogar ihr zurückhaltender Schwager Hans hatte sich der Fröhlichkeit des Abends nicht verschließen können und war ihr aufgeräumter vorgekommen als gewohnt. Seit langem hatte Lisbeth keinen so vergnüglichen Abend mehr verbracht, und obwohl es auch für sie ein anstrengender Handelstag gewesen war, verspürte sie noch keine Müdigkeit.

Stephan bemerkte ihr Zögern. »Der Abend ist zu schade, um ihn zu verschlafen«, sagte er und sprach ihr damit aus der Seele.

Lisbeth wusste, morgen läge noch ein arbeitsreicher Tag vor ihr, doch der starke Wein hatte sie mutwillig gemacht. »Ich würde gerne noch ein wenig hierbleiben«, sagte sie.

»Ich geleite dich später heim«, erbot Stephan sich sogleich.

Für einen winzigen Augenblick zog Hans die Augenbrauen missbilligend zusammen, doch wenn er ihr Verhalten nicht schicklich fand, so sagte er es nicht. Er empfahl sich mit knappem Gruß, und kurz darauf verabschiedeten sich auch die Nürnberger.

Lisbeth blieb mit Stephan am Tisch sitzen, und für einen Augenblick erschien es ihr nun doch ein wenig seltsam, allein mit einem Mann, der nicht ihr Gemahl war, im Garten eines Wirtshauses zu sitzen. Unschicklich war es allemal. Doch zum Teufel mit der Schicklichkeit! Stephan war ihr Schwager. Es musste doch gestattet sein, mit seinem Schwager einen Becher Wein zu trinken. Und außerdem war Messe! Da war eben vieles anders!

»Und, hast du deine Stoffe an den Mann gebracht?«, fragte Stephan, während er den letzten Schluck Wein in Lisbeths Becher schenkte.

»Ja, bis auf wenige Ballen ist alles fort. Grün schien in diesem Jahr nicht so beliebt zu sein. Etwas resedafarbener Sindel ist noch übrig und ein wunderschöner dunkelgrüner Taft, was ich nun ganz und gar nicht verstehen kann. Den hätte ich selbst gern für ein Kleid.«

»Wenn ich dieser Ballen wäre, so wäre es mir alle Male lieber, die Schneider würden aus mir ein Kleid für dich machen, als wenn mich eine fette alte Matrone auf der Haut trüge.«

»Stephan!« Lisbeth schüttelte lachend den Kopf. Von jedem anderen hätte sie sich diese Anzüglichkeit scharf verbeten. Doch Stephan war eben Stephan. Seiner sorglosen Art wegen ließ man ihm viele Dinge einfach durchgehen wie einem jungen, tolpatschigen Hund. Treuherzig blickte Stephan sie aus dunklen Augen an, und auch darin gemahnte er Lisbeth an die freundlichen vierbeinigen Bewohner der Wolkenburg.

»Jemand muss schon wieder meinen Becher ausgetrunken haben«, sagte Stephan augenzwinkernd. »Ich hole uns noch ein Schlückchen.« Er erhob sich und nahm eine der Fackeln aus der Halterung an der Wand.

Es war ruhig geworden im Hof. Längst hatten sich auch die Musikanten empfohlen, und nur an einem Tisch hockten noch ein paar unentwegte Zecher. »Ich komme mit!«, entschied Lisbeth und lief hinter ihm her. Sie wollte nicht allein am Tisch sitzen bleiben.

Düsternis umfing sie, als sie in den Flur des Lämmchens traten. Niemand war zu sehen. Mit der Fackel leuchtete Stephan ihnen den Weg zum Kellerabgang.

Lisbeth spürte, dass ihre Beine ihr nicht vollständig gehorchten. Haltsuchend griff sie nach Stephans Wams, um nicht eine der hölzernen Stufen zu verfehlen. Es kam ihr vor, als seien sie Kinder, die heimlich in den Keller schlichen, um von verbotenen Vorräten zu naschen. Mit einem Mal überkam sie ein übermächtiger Drang zu kichern.

»Scht!«, machte Stephan und legte ihr den Finger auf die Lippen. »Du willst doch nicht, dass Mutter uns erwischt!«, flüsterte er.

Lisbeth entfuhr ein lautes Lachen. Hastig presste sie sich die Hand auf den Mund. Er hatte also den gleichen Gedanken gehegt wie sie.

Leise, Schritt für Schritt, schlichen sie die Stiege hinab. Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, wandte Stephan sich nach links und drückte Lisbeth die Fackel in die Hand. Er nestelte einen Schlüssel von seinem Gürtel und öffnete die Tür zu dem Verschlag, in dem seine Waren lagerten, gerade so weit, dass sie hineinschlüpfen konnten.

Hastig zog er die Tür hinter sich zu, nahm Lisbeth die Fackel ab und steckte sie in den tönernen Maulaffen an der Wand. Flackerndes Licht fiel auf Kisten und Bündel mit Handelswaren. Zum einen Teil waren es Güter, die Stephan schon verkauft, aber den Käufern noch nicht geliefert hatte, zum anderen Teil Waren, die er just erworben hatte, um sie später in Köln zum Verkauf anzubieten.

Stephan beugte sich zu dem Weinfässchen hinab, das zum praktischen Verbrauch gleich neben der Tür stand, und ging daran, den Krug aufs Neue zu füllen, während Lisbeth weiter in den niedrigen Raum hineintrat, um sich die Waren näher zu beschauen.

Es mussten auch eine Menge Gewürze aus den neuen Ländern darunter sein, denn ein betörender Duft entströmte einigen der Packen. Lisbeth schloss die Augen. Tief sog sie den fremdartigen Wohlgeruch ein und trat noch einen Schritt näher. Ihr Fuß verfing sich in einem Knäuel Seile, das sie im Dunkel übersehen hatte, sie strauchelte und fiel vornüber.

»Lisbeth!«, rief Stephan besorgt und fuhr auf. Der Wein aus seinem Krug schwappte ihm über Hemd und Wams. Doch dann vernahm er Lisbeths Kichern. Ihr Sturz war von den weichen Bündeln Rohseide, die hier dicht an dicht gestapelt lagen, sanft abgefangen worden.

Erleichtert stimmte Stephan in ihr Gelächter mit ein. »Das ist gute venezianische Seide«, protestierte er zum Schein. Er stellte den Krug beiseite und reichte ihr die Hand. Lisbeth ergriff sie, doch bei dem Versuch, ihr aufzuhelfen, geriet auch er ins Schwanken. Lachend ließ er sich rücklings neben Lisbeth auf die Bündel fallen. »Was deine ehrwürdigen Kolleginnen vom Seidamt wohl davon hielten, dass wir uns auf ihrer Rohseide fläzen?«, witzelte er.

»Frau Ime Hofe, meine Liebe, ich als Vorsitzende des Seidamtes weiß genau, was gut für meine Rohseide ist. Sicher nicht, dass Ihr darauf herumliegt!«, imitierte Lisbeth das tiefe Schnarren Brigitta van Berchems.

Stephan rollte sich auf die Seite und stützte den Ellbogen auf. Ganz dicht war sein Gesicht dem ihren, und Lisbeth spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut. »Nein, Frau Ime Hofe, das gehört sich ganz und gar nicht«, flüsterte er. Seine Stimme klang mit einem Mal belegt, und von seinen Zügen war das Lächeln verschwunden. Ernst senkte sich sein Blick in den ihren und hielt ihn fest.

Lisbeth schien es, als lauere dort unten in den dunklen Tiefen seiner Augen etwas Unbekanntes, gut und böse zugleich, das sie mit einer Macht anzog, der sie sich nicht zu widersetzen vermochte, der sie hilflos ausgeliefert war.

Wie gefesselt lag sie, unfähig, sich zu rühren oder ihren Blick aus dem Dunkel seiner Augen zu lösen.

Das Flackern der Flammen lichterte über Stephans Gesicht, als er sich zu ihr vorbeugte. Näher, immer näher kam sein Mund dem ihren, dann berührten sich ihre Lippen.

Lisbeth durchfuhr ein Schauder, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Wie eine glühende Woge war es, die ihr von den Lippen in den Leib fuhr und von da aus ihren Körper durchflutete, sich bis in die Spitzen ihrer Gliedmaßen ausbreitete. Zugleich schienen in ihrem Kopf hundert Feuerglocken anzuschlagen – mahnten, warnten: »Das darfst du nicht! Dieser Mann ist nicht dein Ehemann!«

Einem zarten Hauch gleich lagen Stephans Lippen auf ihrem Mund. Dann wurde sein Kuss fester, bald fordernd, und wieder durchfuhr Lisbeth dieses wundervolle Gefühl. Eine ungekannte Gier überkam sie. Stephan! Sie wollte ihn. Wollte ihn mit jeder Faser ihres Leibes, hatte ihn schon lange gewollt, das wurde ihr schlagartig bewusst.

»Du sollst nicht die Ehe brechen«, tönten die Feuerglocken, doch die Flammen des Brandes, vor dem sie warnten, hatten Lisbeth bereits erfasst und ließen alle Mahnungen zu Asche verbrennen. Ihre Lippen wurden weich und öffneten sich Stephans Drängen.

»Mein Gott, Lisbeth!«, entfuhr es Stephan beinahe gequält, und ungestüm zog er sie an sich.

Lisbeth schlang ihre Arme um Stephans Schultern und erwiderte seine Umarmung. Wie im Rausch küssten sie einander, und Lisbeth spürte, wie Stephans Hände über ihren Körper glitten. Er fand die Wölbung ihrer Brust, umschloss sie mit beiden Händen, drückte sie beinahe grob. Doch die Heftigkeit seiner Berührung schmerzte Lisbeth nicht, vielmehr steigerte sie noch ihre Erregung. Jede Faser ihres Körpers fühlte sich an, als sei sie bis zum Zerreißen gespannt.

Mit erfahrenen Fingern löste Stephan ihr Mieder, richtete sich auf und zog sich das Hemd über den Kopf. Seine olivfarbene Haut schimmerte matt im warmen Licht der Fackel, als er das Hemd achtlos beiseite warf. Wieder senkte er seinen Blick tief in den ihren, als suche er ihr Einverständnis, ihre Zusicherung, dass auch sie ihn wollte.

Lisbeth hielt seinem Blick stand. Sie wusste, es war nicht richtig, was sie tat, doch sie wusste auch, dass sie nicht anders konnte. Nicht anders wollte.

Mit einer raschen Bewegung öffnete Stephan die Schnürung an seinen Beinkleidern, dann schob er die Röcke von Lisbeths Kleid bis zu ihren Hüften hinauf. Er beugte sich über sie, und mit ungekannter Macht bahnte sich seine lange zurückgehaltene Leidenschaft ihren Weg.

Sie liebten sich mit einem Hunger, einer Gier, wie sie nur verbotene Früchte hervorzulocken vermögen. Mit dem verzweifelten Wissen, dass das, was sie da taten, nicht von Dauer sein konnte – nicht sein durfte, und als sie schließlich ermattet voneinander abließen, spürte Lisbeth, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

Zärtlich küsste Stephan die feuchten Spuren fort und bettete seinen Kopf auf Lisbeths Brust. Mit der Nase stupste er spielerisch gegen das dunkelrote Amulett, das an seidener Schnur zwischen ihren Brüsten baumelte. »Was ist das? Hast du Angst vor dem bösen Blick?«, fragte er schnuppernd. »Es riecht wundervoll. Fremdartig und verführerisch.«

»Eine alte Frau hat es mir gegeben«, antwortete Lisbeth. Ein leichter Schauder kräuselte ihre Haut, als sie sich der seltsamen Alten in ihrem düsteren Fuchsbau entsann. »Eigentlich müsstest du sie kennen. Sie wohnt in einem Verschlag gegenüber der Wolkenburg.«

Stephan überlegte kurz, dann schüttelte er verneinend den Kopf.

»Angeblich soll es mir meinen innigsten Wunsch erfüllen«, fuhr Lisbeth fort. »Ich glaube zwar nicht daran, doch ich habe es auch nicht fertiggebracht, das Amulett abzulegen. Wahrscheinlich, weil es so wundervoll duftet.«

Mit den Lippen schnappte Stephan nach einer von Lisbeths Locken und zupfte daran. »Es duftet nicht so wundervoll wie dein Haar!«, flüsterte er und fasste nach dem Saum von Lisbeths Kleid, das sich ihr um die Hüften bauschte. »Zieh es aus!«, befahl er sanft.

Geniert fuhr Lisbeth auf und kreuzte unwillkürlich die Arme vor der Brust. Sie zu bitten, sich zur Gänze zu entkleiden, war ein höchst unsittliches Ansinnen. Wenn Mertyn mit ihr schlief, hatte Lisbeth ihr Hemd stets anbehalten.

Stephan entfuhr ein leises Lachen. »Ich möchte dich ansehen«, bat er sehnlich und küsste sie sanft auf die Lippen. »Ein Mal nur.«

Lisbeth zögerte. Dann senkte sie die Arme und ließ geschehen, dass Stephan ihr die Röcke von den Hüften streifte. Nackt, wie der Herrgott sie erschaffen hatte, lag sie da, ihr schlanker Körper seinen forschenden Blicken ausgeliefert. Unter ihrem Rücken spürte sie das rauhe Tuch der Seidenballen. Das flackernde Licht der Fackel vergoldete die unverputzten Wände, floss über den gestampften Boden des Verschlags, und der einzigartige Duft, den die fremdländischen Gewürze verbreiteten, verwandelte den muffigen Kellerraum in ein sinnliches Gemach.

»Wie schön du bist!«, flüsterte Stephan, und mit einem Mal empfand Lisbeth es nicht mehr als ungehörig, dass Stephan sie betrachtete.

Eine gute Weile ließ Stephan seinen Blick über Lisbeths Körper wandern, als wolle er sich die winzige Erhebung ihres Bauches, die Wölbung ihrer Brust, die sanfte Neige ihres Schoßes, ja, jeden Zoll ihres Leibes für immer in sein Gedächtnis prägen.

Schließlich löste er seinen Blick von ihr und erhob sich von ihrem Lager. Scharf zeichneten sich die harten Muskelstränge an Schultern und Rücken unter seiner glatten Haut ab.

Stephan ergriff den Weinkrug, füllte ihn aufs Neue und erfrischte sich mit einem großen Schluck. Dann hob er Lisbeth den Krug an die Lippen. Vorsichtig ließ er ein wenig des dunklen Weines in ihren Mund laufen. Lisbeth schluckte, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr der Wein über die Lippen lief. Feucht rann er ihr Kinn hinab und versickerte als rotes Rinnsal zwischen ihren Brüsten.

Ungeniert verfolgte Stephan die dünne Spur mit seinen Lippen und saugte sie begierig auf, um dann zärtlich die weiche Haut an Lisbeths Brüsten zu liebkosen. Seine Lippen fanden die Knospe ihrer Brust, umspielten sie sanft, saugten und küssten, dann nahm er sie sachte zwischen seine Zähne. Ein lustvoller Schauder durchfuhr Lisbeth, und sie sog scharf die Luft ein.

Erobernd küsste Stephan sich den Weg über Lisbeths Leib hinab, schickte einen winzigen Schauder nach dem andern über ihre Haut. Kurz verweilten seine Lippen an der sanften Wölbung ihres Bauches, zwickten sie verspielt, um dann in beunruhigender Weise tiefer zu wandern, immer tiefer, dorthin, wo Lisbeth noch nie zuvor geküsst worden war.

Angespannt hielt sie die Luft an, und abermals durchraste sie ein lustvoller Schauder. Ihr Leib zitterte vor Verlangen, und als seine Lippen ihre Scham berührten, krallte sie ihre Finger in Stephans gelocktes Haar. Nicht einen Moment länger vermochte sie das Verlangen zu ertragen. Unbeherrscht fasste sie Stephans Schultern und zog ihn zu sich herauf.

»Wenn das die Damen vom Seidamt wüssten!«, murmelte Stephan lächelnd in Lisbeths Haar, bevor er sich genussvoll daranmachte, ihre neu entflammte Lust zu stillen.

 

Erschreckt fuhr Lisbeth auf. Sie mussten eingeschlafen sein. Die Fackel war in ihrer Halterung erloschen, und Dunkelheit hüllte sie ein. Schweigend erhoben sie sich von ihrem Lager und richteten ihre Kleidung.

Stephan öffnete vorsichtig die Tür und blickte hinaus. Doch die Herberge lag in nächtlicher Ruhe. Der Wirt und die anderen Gäste schienen noch zu schlafen. Auf sein Zeichen hin huschte Lisbeth durch die Tür, und Stephan verschloss sorgfältig den Verschlag hinter ihnen. Leise, wie sie gekommen waren, schlichen sie die Stiege hinauf, durch den Flur und zur hinteren Tür hinaus.

Als sie aus dem Hof in die Gasse traten, umfing sie samtige Morgenluft. Eben verblassten die ersten Sterne, und als Vorbote des kommenden Tages teilte ein einzelner rosafarbener Streif den Himmel hinter dem Dom. Die Sichel des Mondes schien fahl, doch ihr Licht reichte aus, Stephan und Lisbeth den kurzen Weg zum Steinernen Haus zu erhellen.

Der Platz vor dem Römer war leer und verlassen. Wie die Gäste des Lämmchens lagen auch die Einwohner und Besucher der Stadt noch in tiefem Schlummer, und selbst die Hunde und Schweine waren noch nicht aus ihren Nischen und Winkeln gekrochen. Nur der Karren des Goldgräbers, der sein übelriechendes Geschäft, die Latrinen der Stadt auszuheben, des Nachts betreiben musste, kreuzte ihren Weg und schickte seinen stinkenden Odem in die Nacht.

Auch im Steinernen Haus war Stephan und Lisbeth das Glück hold, und es gelang ihnen, ungesehen über den Hof ins Haus zu gelangen. Vor der Tür von Lisbeths Kammer im Obergeschoss blieb Stephan stehen und ergriff ihre Hand. Den ganzen Weg hatten sie schweigend zurückgelegt, und auch jetzt blickte Stephan sie wortlos an. Was blieb auch zu sagen? Die Magie der Nacht war verflogen, und keine Worte würden sie zurückrufen können. Mit trauriger Langsamkeit hob Stephan Lisbeths Hand an seine Lippen, so, als wolle er den Moment der Trennung noch einen Augenblick hinauszögern. Seine Berührung war zärtlich, bedauernd. In nichts erinnerte sie an die Leidenschaft der Nacht.

Dann, beinahe abrupt, gab er ihre Hand frei, wandte sich um und eilte die Stiege hinab, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Lisbeth blickte ihm nach, und erst als sie seine Schritte am Ende der Stiege verhallen hörte, trat sie in ihre Kammer. Mechanisch entkleidete sie sich und schlüpfte unter das Laken. Ihr Körper war müde und sehnte sich nach Schlaf, doch ihr Geist fand keine Ruhe.

Die Erinnerung an Stephans Berührung, an die Glätte seiner Haut erweckte in Lisbeth erneut dieses erregende Gefühl. Doch diesmal kämpfte sie es entschlossen nieder. So etwas durfte sie bei dem Gedanken an einen anderen Mann nicht empfinden. Ein Mann, der zu allem Unglück auch noch der Bruder ihres Gemahls war.

Nie hätte sie sich vorstellen können, dass es solch eine Leidenschaft geben könnte, wie sie sie mit Stephan erlebt hatte. Und noch weniger, dass sie selbst zu dieser Leidenschaft fähig war. Dabei liebte sie Mertyn. Für sie hatte es immer nur ihn gegeben, solange sie sich erinnern konnte. Nie hatte sie einen anderen Mann gewollt.

Lisbeth biss sich auf die Lippen, als sie daran dachte, dass es just hier in Frankfurt gewesen war, wo Mertyn einst bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte. Peter Lützenkirchen hatte sie ihm damals aus Fürsorge für seine Tochter verwehrt, weil er befürchtete, Mertyn schlüge seinem Vater nach, der es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahm. Und nun war sie es, die ihrem Mann die Treue gebrochen hatte. Und das – Ironie des Schicksals – mit Stephan, der ebenfalls ein Sohn des alten Mertyn war.