15.  Kapitel

Aber das ist …« Lisbeth fand kaum Worte, ihrer Empörung Luft zu machen. »Das ist Betrug! Klüngel, schlimmster Filz!« Verärgert stapfte sie in der Stube auf und ab, viel zu erregt, sich zu Mertyn an den Tisch zu setzen und sich ihrem späten Mittagsmahl zu widmen.

Eineinhalb Jahre war der neue Transfixbrief nun in Kraft, und er war das Papier nicht wert, auf das man ihn geschrieben hatte, dachte Lisbeth grimmig. Nichts, gar nichts hatte sich zum Guten geändert! Immer noch gab es keinen gewählten Zunftvorstand, und wie ehedem wurde im Seidamt gegen alle Verbote verstoßen. Man gab Seide nach Wesseling und Deutz zum Spinnen, handelte mit Knotenseide und beschäftigte Seidmacherinnen im Verlag.

Niemand scherte sich um die Gesetze, weil der Rat nicht auf deren Einhaltung drängte. Nur auf Einhaltung eines speziellen Gebotes hatte der Rat geachtet: Keine Seidmacherin durfte nun mehr im Haus der Eltern ihrer Tätigkeit nachgehen.

Natürlich!, zürnte Lisbeth, denn dies kam den wenigen einflussreichen Seidmacherinnen gerade zupass. Es hatte dazu geführt, dass Liese Backes und Gundula von Bruwiler sich künftig ihr Brot als angestellte Weberinnen in fremden Betrieben verdienen mussten. Liese, weil sie bislang unverheiratet war und noch keinen eigenen Hausstand gegründet hatte, und Gundula, weil sie nicht vermögend genug war, eine eigene Werkstatt auszustatten.

Und eben hatte Apolonia Loubach Lisbeth erzählt, dass nun auch Margarete van den Berg für die Berchems arbeitete, nachdem man ihre Mutter aufgefordert hatte, sie aus ihren Diensten zu entlassen.

Für Dora Medman, die Tochter von Frieda, hingegen war das alles keine Schwierigkeit gewesen. Ohne weiteres hatte ihre Mutter ihr eine eigene Werkstatt eingerichtet, ihr zwei Helferinnen und vier Lehrmädchen besorgt und kurzerhand Liese Backes und Gundula von Bruwiler eingestellt, Liese für den Betrieb ihrer Tochter, und Gundula, damit sie Dora in ihrem eigenen Betrieb ersetzte.

Dieses Gesetz, das eigentlich dazu gedacht war, die ärmeren Seidenweberinnen zu schützen, hatte nun dazu geführt, dass das Kränzchen um Brigitta van Berchem noch einflussreicher, noch vermögender, noch satter wurde.

»Du musst etwas dagegen unternehmen. Du kannst nicht zusehen, wie weiterhin solches Unrecht geschieht!«, forderte Lisbeth hitzig.

Mertyn legte unwillig den Kanten Brot beiseite, den er eben in seine Brühe tunken wollte. Er konnte es überhaupt nicht leiden, wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte. »Meinst du, ich hätte nicht längst versucht, dagegen zu intervenieren?«, fragte er. »Aber was soll ich denn machen? Der Transfixbrief stellt unter Strafe, fremde Seide zu verweben. Hörst du? Fremde Seide! Wenn dagegen verstoßen wird, werden die Ärmsten bestraft, die ohnehin nichts zu beißen haben. Nicht die reichen Verlegerinnen. Die Armen können die hohen Strafen aber nicht bezahlen. Wenn ich auf Einhaltung dieser Bestimmung poche, wird manch eine von ihnen ihre Weberei schließen und auch noch bei den Berchems und Konsorten schuften müssen. Ist es das, was du willst? Der verdammte Wortlaut des Transfixbriefes ist nun einmal so.«

»Du hast gesagt, auf den Wortlaut käme es nicht an!« Lisbeth war bitter enttäuscht, und sie wusste selbst, wie ungerecht ihre Worte waren.

»Ich habe mich geirrt.«

»Dann ändere den Transfixbrief.«

»Lisbeth, das ist Unsinn«, sagte Mertyn müde. »Ich bin kein Ratsherr mehr. Eine Amtszeit dauert nur ein Jahr. Frühestens in einem guten Jahr kann ich wiedergewählt werden. Und selbst wenn ich Ratsherr wäre, so ginge es nicht. Du weißt genau, dass ich gegen den Einfluss mancher Ratsherren machtlos bin.«

Lisbeth schnaubte. »Mein Vater hätte sich damit nicht zufriedengegeben!« Verärgert wollte sie die Stube verlassen. Der Appetit war ihr gründlich vergangen.

In dem Moment wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen, und ein kleiner Wirbelwind fegte ihr entgegen. »Tante Lisbeth!«

»Sophie, was machst du denn hier? Bist du wieder ausgebüxt?«, begrüßte Lisbeth ihre Nichte.

Sophie entsann sich ihrer Erziehung und knickste kurz vor Mertyn. »Guten Tag, Oheim.«

»Guten Tag, Sophie«, entgegnete Mertyn, doch Sophie beachtete ihn nicht weiter. Sie hatte sich wieder Lisbeth zugewandt. »Ich brauche deine Hilfe, Tante Lisbeth!«, flehte sie und krauste mit der ganzen Dramatik, zu der eine Zwölfjährige fähig war, die Stirn.

»Wobei?«, fragte Lisbeth und unterdrückte ein Schmunzeln.

»Ich will Seidmacherin werden!«, verkündete Sophie.

»Das ist schön«, sagte Lisbeth ernsthaft. »Dann bekomme ich ja ein fleißiges Lehrmädchen.«

»Gerade nicht! Deshalb brauche ich ja deine Hilfe, Tante Lisbeth. Ich darf nicht Seidmechersche werden! Der Herr Vater hat es verboten. Es gezieme sich nicht!«

Lisbeth entfuhr ein Schnauben. Diese verdammten Mannsbilder brachten sie heute allesamt mächtig zur Weißglut! »Nun, dann werden wir uns einmal mit deinem Vater unterhalten müssen«, sagte sie grimmig.

»Oh, tust du das, Tante Lisbeth? Wirklich? Ich werde auch die beste Seidmacherin der Welt, und die fleißigste obendrein. Du wirst nie über mich zu klagen haben, das verspreche ich dir!«

»Ich werde dich daran erinnern, wenn es so weit ist«, brummte Lisbeth.

»Wann sprichst du mit Vater? Sag, wann?«, drängte Sophie.

Streitlustig, wie ich bin, käme mir Schwager Andreas heute gerade recht, dachte Lisbeth. Und ein wenig Bewegung würde mir auch guttun. »Jetzt gleich«, entschied sie.

Mit ausholenden Schritten eilte Lisbeth durch die Gassen, kaum dass Sophie mit ihr Schritt zu halten vermochte. Es war einer dieser grauen Herbsttage, an denen es einfach nicht hell werden wollte. Ein gleichförmig trüber Dunst hüllte die Stadt wie in Laken, so dass man kaum zu sagen wusste, ob es früh am Morgen oder bereits später Nachmittag war.

Unter Wappensticker hielt Lisbeth plötzlich inne und bedeutete ihrer Nichte, ebenfalls stehen zu bleiben. Ein Stück vor ihnen hatte sie eine Gestalt entdeckt, die ihr trotz des wärmenden Tuches, das sie sich um den Kopf gewunden hatte, vertraut vorkam.

Die junge Frau trug ein Bündel auf dem Rücken und blickte sich verstohlen in alle Richtungen hin um, so als habe sie etwas zu verheimlichen. Nun trat sie zu einem der herrschaftlichen Häuser und schlug den Klopfer an die Tür.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür, doch die Frau mit dem Bündel wurde nicht hineingebeten. Lisbeth und Sophie sahen, wie sie ihre Last von der Schulter gleiten ließ und einen Ballen nachtblauen Tuches hervorholte. Höflich schlug sie den Ballen auf, um der Herrin des Hauses die schimmernde Seide zu präsentieren.

Diese blickte interessiert darauf und fuhr mit der Hand in den Stoff, um die Qualität zu prüfen. Anscheinend war sie damit zufrieden, denn sie nickte.

Lisbeth war zu weit entfernt, als dass sie hätte verstehen können, was gesprochen wurde. Vermutlich erkundigte sich die Hausfrau nach dem Preis. Die Antwort schien ihr indes nicht zu behagen, denn sie schüttelte vehement den Kopf und schlug der jungen Frau unversehens die Tür vor der Nase zu.

Scheinbar gleichmütig faltete diese das schützende Leinentuch wieder über der Seide zusammen, verstaute den Ballen in ihrem Bündel und hievte es sich erneut auf die Schulter. Vielleicht suchte jemand hinter der nächsten Tür, ihre Seidenerzeugnisse zu kaufen.

Als die Frau an Lisbeth und Sophie vorbeiging, hob sie kurz den Kopf. Für einen Moment traf Lisbeth ihr abweisender Blick, dann war sie auch schon an ihnen vorbeigeeilt.

»Wer war das?«, fragte Sophie, als sie ein Stück ihres Weges gegangen waren. Das seltsame Verhalten ihrer Tante schien sie beschäftigt zu haben.

»Clairgin van Breitbach«, antwortete Lisbeth dumpf. »Eine Seidmacherin, der leider nicht sehr viel Erfolg beschieden ist. Obwohl sie eine der besten Weberinnen der Zunft ist.«

Lisbeth seufzte. Sie hatte gewusst, dass es um Clairgins Geschäfte nicht besonders gut stand. Doch dass die Ärmste ihre Waren von Haus zu Haus feilbieten musste wie Kram und billigen Tand, das hatte sie nicht geahnt. Ein Stand im Seidenkaufhaus war Clairgin für die geringen Mengen, die sie anzubieten hatte, wohl zu kostspielig geworden.

Lisbeth verstand die Heimlichkeit, mit der Clairgin ihre Ware anbot. Es musste ihr so peinlich sein, dass sie dabei nicht gern gesehen werden wollte, schon gar nicht von anderen Seidmacherinnen. »Du siehst, nicht jede Seidenweberin ist vom Glück verwöhnt«, erklärte sie Sophie.

Der Dunst über der Stadt wurde dichter und hatte einen rötlichen Schimmer angenommen. Lisbeth beschleunigte ihren Schritt, und schon bald erreichten sie das Haus Zum Kleinen Ochsen.

Herzlich empfing Agnes ihre Schwester in der Stube. Falls sie die Abwesenheit ihrer Tochter bemerkt haben sollte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Ein feines Lächeln umspielte ihre ebenmäßigen Züge, als Lisbeth ihr erklärte, sie wünsche mit ihrem Gemahl zu sprechen.

Als Andreas in die Stube trat, war er sichtlich überrascht, dort seine Schwägerin vorzufinden. Sein Blick glitt unruhig zwischen Agnes, Sophie und Lisbeth hin und her, um dann auf seiner Schwägerin haften zu bleiben. »Was kann ich für dich tun«, fragte er.

»Es geht um Sophie«, sagte Lisbeth geradeheraus. Sie war nicht in der Stimmung, um den Brei herumzureden.

Andreas hob die Brauen. »Ich höre?«

»Sophie möchte Seidmacherin werden.«

»Das ist unnötig. Meine Tochter braucht sich ihr Brot nicht selbst zu verdienen. Sie wird eine gute Partie machen, vielleicht ehelicht sie einen Mann von Adel. Hübsch genug ist sie dafür.« Andreas bedachte seine Tochter mit einem Blick, der Lisbeth nicht behagte. So einen Blick hatten gewöhnlich Pferdehändler, die sich des Wertes der Klepper, die sie zu Markte führten, bewusst waren.

»Es kann nicht schaden, wenn ein Mädchen etwas Anständiges lernt. Man weiß nie, wie es im Leben kommt«, unkte Lisbeth.

»Das ist reine Zeitverschwendung. Sie soll lernen, ein herrschaftliches Haus zu führen. Das ist es, was sie können muss.«

»Sie ist noch so jung, dafür ist später noch Zeit genug.«

»Damit kann sie nicht früh genug anfangen. Außerdem ist es einer Imhoff unwürdig. Ihre Basen in Augsburg und Nürnberg kämen nie auf die Idee, ein Handwerk zu erlernen.«

»Wir sind hier aber nicht in Augsburg oder Nürnberg! Und ihrer Großmutter oder mir ist bei der Seidenweberei kein Zacken aus der Krone gefallen«, widersprach Lisbeth empört.

Der hochmütige Blick, mit dem Andreas ihre Äußerung quittierte, zeigte Lisbeth deutlich, was er von ihrer Würde und der ihrer Mutter hielt. Brennend stieg Lisbeth das Blut ins Gesicht. Was glaubte ihr Schwager eigentlich, wer er war?

»Hast du am Ende dem Kind diese Flausen in den Kopf gesetzt?«, fragte Andreas ätzend. »Das würde dir zu Gesicht stehen!«

»Andreas!«, rügte Agnes, die wie Sophie bislang schweigend dem Disput gefolgt war. »Lisbeth hat schon recht. Man weiß nie, wie es im Leben kommt. Wenn ich meine Mitgift in eine Weberei investiert hätte, dann wäre sie jetzt nicht fort, verschluckt von deinen Geschäften!«

Lisbeth sog scharf die Luft ein und blickte ihre Schwester erstaunt an. Einen so resoluten Ton hatte Agnes sich ihrem Gatten gegenüber noch nie erlaubt. Zumindest nicht in ihrem Beisein. Etwas schien zwischen den Eheleuten vorgefallen zu sein, dachte sie. Etwas, das das Verhältnis zwischen ihnen grundlegend geändert hatte.

Ruhig, doch bestimmt fuhr Agnes fort: »Wenn das Kind es also gerne möchte, solltest du es gestatten!«

Widerwillig zuckte Andreas mit den Schultern. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ließ die Damen allein.

Als sich die Stubentür hinter ihm geschlossen hatte, fiel Sophie Lisbeth stürmisch um den Hals. »Ich werde Seidmacherin«, jubelte sie glücklich. »Danke, Tante Lisbeth. Und danke, Mutter!«

»Das wäre entschieden!« Agnes lächelte entschuldigend. »Sophie ist ein Wildfang. Sie braucht dringend eine Aufgabe. Ich glaube, die Lehrzeit bei dir wird ihr guttun. Wann soll ich sie zu dir schicken?«

»In zwei oder drei Wochen, wenn das nächste Lehrmädchen mich verlässt.«

Agnes nickte, doch Sophie zog ein langes Gesicht. »Och, das ist noch so lange hin«, maulte sie enttäuscht.

Ob der Ungeduld des Kindes musste Lisbeth lachen. So war sie früher auch gewesen, erinnerte sie sich, als sie auf die Straße hinaustrat. Auch sie hatte es kaum erwarten können, endlich Seidmacherin zu werden.

Lisbeth hatte bereits ein gutes Stück ihres Heimweges hinter sich gebracht, als der Dunst, der über der Stadt lag, dichter wurde. Es roch verbrannt, so, als verhindere der Nebel, dass der Rauch aus den Kaminen in den Himmel aufstieg. Lisbeth zog den Mantel enger um sich und hielt sich einen Zipfel des Tuches vor Mund und Nase, um besser atmen zu können.

Ein roter Schimmer färbte den Dunst, und in dem Moment hörte Lisbeth das scheppernde Läuten: Man schlug eine Feuerglocke! Der Rauch stammte nicht von den Kaminen der Häuser, erkannte sie – es brannte in der Stadt!

Eine zweite Feuerglocke kam der ersten zu Hilfe, dann setzte eine dritte Glocke in das warnende Geläut mit ein. Lisbeth beschleunigte ihren Schritt. Sie konnte nicht sehen, wo es brannte. Das Läuten schien überall um sie her zu ertönen.

»Lieber Gott! Bitte lass es nicht das Haus Zur Roten Tür sein!«, schickte Lisbeth ein Stoßgebet zum Himmel. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause! Eilig hastete sie um die Ecke und bog in Unter Wappensticker ein. Es war nicht mehr weit. Nur noch ein Stück diese Gasse entlang, dann käme sie zu der Ecke, an der die Obermarspforte Unter Wappensticker kreuzte, und sie wäre fast daheim.

Der Rauch wurde dichter, brannte Lisbeth in den Augen und drang durch den Stofffetzen, den sie sich vor Mund und Nase presste. Hustend eilte sie voran. Das Tor zum Hof des Hauses Zum Kleinen Schönwetter, in dem die Berchem-Schwestern ihre Werkstatt hatten, stand offen. Anscheinend sorgte man sich auch hier um die Brände.

Wie getrieben eilte Lisbeth weiter. Sie hatte beinahe die Ecke zur Obermarspforte erreicht, als der Rauch zu dicken grauen Wolken zusammenwuchs und ihr die Tränen in die Augen trieb. Eine Wand aus Hitze schlug ihr entgegen, Flammen züngelten aus dem Dachstuhl und den Fenstern eines Hauses auf der rechten Straßenseite. Aus dem Rauch drang ein hohes Schreien und das Rufen von Männerstimmen. Durch die beißenden Schwaden hasteten Menschen hin und her, reichten Eimer und schütteten Wasser in die Flammen, das zischend verdampfte.

War es nur dieses Haus, das brannte, oder hatte das Feuer auch die dahinter liegenden Häuser erfasst, fragte Lisbeth sich bang. Wie stand es in der Obermarspforte? Das Haus Zur Roten Tür war nicht mehr weit entfernt. Wenn ein ungünstiger Wind das Feuer nährte, mochte es leicht ganze Straßenzüge erfassen und alles auf seinem Weg in Asche legen.

Rauch hüllte Lisbeth ein, und die Flammen schlugen so hoch in den Himmel, dass sie nichts erkennen konnte. Es schien, als erhebe sich vor ihr eine brennende Wand, die kein Durchkommen gewährte.

Die Sorge ließ Lisbeth keine Ruhe. Sie musste nach Hause! Wenn sie sich ganz dicht an das gegenüberliegende Haus hielt, überlegte sie fieberhaft, könnte sie vielleicht die Brandstelle passieren. Tastend trat sie einen Schritt näher an das Feuer heran.

Hitze und Rauch füllten die Gasse auf der ganzen Breite, krochen Lisbeth entgegen. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu schmerzen begann, und zog sich schützend das Tuch ihres Mantels vor das Gesicht, so dass nur noch ein schmaler Schlitz für die Augen blieb. Beherzt machte sie einen weiteren Schritt nach vorn.

In dem Moment löste sich krachend ein Balken in dem brennenden Dachstuhl. Das ganze Dach geriet in Bewegung, stürzte herab und zerbarst in glühende Teile. Ein verkohlter Balken verfehlte knapp Lisbeths Schulter, und Tausende glühender Funken hüllten sie ein. Entsetzt schrie Lisbeth auf und taumelte zurück. Ein weiterer Balken fiel herab, dann brach die Giebelwand des Hauses in sich zusammen. An der Stelle, wo Lisbeth noch vor einem Moment gestanden hatte, war nunmehr ein Haufen aus rauchendem Schutt und Steinen.

Lisbeth schluckte trocken. Es hatte nicht viel gefehlt, und das einstürzende Haus hätte sie unter sich begraben. Hier war wirklich kein Durchkommen. Sie musste es auf einem anderen Weg versuchen.

Sie ließ den Saum ihres Mantels los und rannte mit fliegenden Röcken die Gasse zurück, fort, nur fort von dieser flammenden Hölle. Rauch drang ihr in Mund und Nase, Tränen rannen ihr die Wangen hinab und malten weiße Spuren auf ihr rußgeschwärztes Gesicht.

Hustend eilte sie am Haus Zum Kleinen Schönwetter vorbei. Aus dem Hof drang ebenfalls Rauch. Fahrig griff Lisbeth wieder nach dem Mantel und presste ihn erneut auf Mund und Nase, als sie das benachbarte Haus Xanten, in dem die Berchem-Schwestern wohnten und ihr Kontor hatten, passierte. Eben trat eine Gestalt durch die Tür, und ein misstrauischer Blick aus grau-grünen Augen traf Lisbeth. Flüchtig erkannte sie Jacoba, das undankbare Lehrmädchen von Clairgin, das nun für die Berchems arbeitete.

Ohne stehen zu bleiben, hastete Lisbeth weiter, bog in die nächste Gasse ein, in die übernächste. Die Tränen trübten ihr den Blick, und immer wieder quälte sie trockener Husten. Ein weiteres Mal bog sie ab und sah sich unvermittelt einer neuen Wand aus Feuer und Rauch gegenüber. Auch hier ging es nicht weiter, musste sie entmutigt feststellen. Auch hier war ihr der Weg versperrt.

In Lisbeth wuchs die Verzweiflung. Wie, um Himmels willen, sah es in der Obermarspforte aus? Was war mit dem Haus Zur Roten Tür? Vor ihrem inneren Auge sah Lisbeth bereits Flammen aus dem Dachstuhl ihres Hauses schlagen, doch energisch versuchte sie die Bilder zurückzudrängen. Abermals kehrte sie um und hastete in die entgegengesetzte Richtung davon.

Mit ungewohnter Plötzlichkeit senkte sich die Dämmerung über die Stadt, doch die Nebeldecke schien sich gehoben zu haben, denn deutlich zeichneten die Feuer nun an vielerlei Stellen rotgefärbte Flecken an die schweren Wolken.

Lisbeth lief weiter, immer weiter, bis ein Stechen in der Seite sie zwang, stehen zu bleiben. Hier war kein Rauch mehr, stellte sie mit Erleichterung fest und blickte sich um. Die Gasse erschien ihr fremd. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wo sie war.

Ein paar Mal atmete sie tief durch, bis ein neuerlicher Hustenanfall sie schüttelte. Ihr Herz raste, und ihre Beine brannten vor Schmerz. Mühsam schleppte sie sich noch ein kleines Stück weiter, dann lehnte sie sich kraftlos an die bröckelnde Fassade eines Hauses und schloss die tränenden Augen.

Einen Moment lang genoss Lisbeth die wohltuende Schwärze. Das Brennen in den Beinen ließ nach, und allmählich beruhigte sich auch ihr Atem. Die Schwärze wurde tiefer und dichter. Lisbeth spürte vage, wie sie an der Wand hinabglitt, dann war das Schwarz überall.

Erschreckt riss Lisbeth die Augen auf. Für einen Augenblick musste sie das Bewusstsein verloren haben. Doch nein, es musste länger als ein Moment gewesen sein, erkannte sie. Denn sie saß nicht, wie sie erwartet hatte, im Freien an eine Hauswand gelehnt auf dem Boden, sondern lag ausgestreckt auf einer strohgepolsterten Pritsche. Über ihr wölbte sich eine niedrige, höhlenartige Decke, von der getrocknete Kräuterbündel, Knollen und Wurzeln, aber auch allerlei Hausrat wie Töpfe, Tiegel und Kellen an Haken und Seilen herabbaumelten. In wessen Wohnstatt auch immer sie sich befinden mochte, in Ermangelung gerader Wände, an die man ein Regal hätte lehnen können, schienen die Bewohner die Decke als Aufbewahrungsort zu verwenden.

Lisbeth rieb sich über das Gesicht und schluckte trocken. Ihre Augen brannten immer noch, und ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde. Rasch setzte sie sich auf und blickte sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, maß vielleicht drei auf vier Schritte. Zur Straße hin hatte er keine Wand, sondern konnte mit einer Lade verschlossen werden, die nun offen stand.

Die ganze Behausung ähnelte eher einem Fuchsbau als einem Haus, stellte Lisbeth fest. Überall standen oder lagen Bündel, Kisten und Gerät, kaum dass die schmale Bettstatt, auf der sie lag, dazwischen ihren Platz hatte finden können.

Ein meckerndes Lachen drang an ihr Ohr, und es dauerte einen Moment, bis sie in dem Gewirr um sie her ein Gesicht ausmachen konnte.

Eine alte Frau erhob sich von einem dreibeinigen Hocker, trat zu ihr und reichte ihr einen angestoßenen Becher. »Da bist du ja endlich!«, sagte sie. »Ich hatte dich schon viel eher erwartet!«

Dankbar griff Lisbeth nach dem Becher und nahm einen tiefen Schluck. Es war weder Bier noch Wein, sondern schien ein Sud zu sein, in den man allerlei Kräuter gegeben hatte. Obschon das Gebräu seltsam schmeckte, leerte Lisbeth den Becher durstig bis zur Neige. Dabei betrachtete sie die Alte aufmerksam über den Rand des Bechers hinweg.

Ihre Haut war von einem tiefen Braun wie dem der fahrenden Leute. Doch aus dem ledrigen dunklen Gesicht blickten überraschend helle smaragdgrüne Augen. Von dem orangefarbenen Tuch, das die Frau sich um ihr Haar gewunden hatte, baumelte ihr wie ein drittes Auge ein geschliffener grüner Edelstein auf die Mitte der Stirn herab. Lisbeth überlegte, ob es sich um einen echten Edelstein handeln mochte, doch angesichts der Ärmlichkeit der Hütte war er vermutlich aus buntem Glas.

Die Worte der Alten waren nicht weniger wunderlich als ihre Wohnstatt und ihr Aussehen. Der vertraulichen Anrede nach schien die sonderbare Alte sie zu kennen, doch Lisbeth war sich sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben. »Danke für Eure Hilfe«, sagte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. Es drängte sie, nach Hause zu kommen.

Mit ihrer knochigen Hand hielt die Alte sie zurück und drückte sie mit Nachdruck auf die Bettstatt nieder. »Dann werden wir uns jetzt mal um deinen Wunsch kümmern!«, sagte sie.

Energisch setzte Lisbeth sich auf und richtete ihre Röcke. Sie wollte nicht unhöflich sein, denn immerhin hatte die Alte sie von der Straße aufgehoben, doch ihr stand jetzt nicht der Sinn nach fragwürdigem Hokuspokus. »Nochmals Dank für Eure Hilfe, aber ich muss jetzt gehen«, sagte sie höflich, doch bestimmt, und nestelte ein Geldstück aus ihrem Beutel.

Wieder ließ die Alte ihr meckerndes Lachen hören. »Du brauchst dich nicht zu eilen, im Haus Zur Roten Tür steht alles zum Besten. Im Moment kommst du ohnehin nicht zur Obermarspforte durch«, erklärte sie kichernd.

Verblüfft ließ Lisbeth sich zurücksinken. Woher wusste die Alte, was sie umtrieb?

»Na also!«, brummte die Alte und griff mit ihrer klauenförmigen Rechten nach Lisbeths Haube. Ehe Lisbeth gewahr wurde, was diese beabsichtigte, war die Alte mit ihren dürren Fingern unter ihre Haube gefahren und hatte ihr eines ihrer langen dunklen Haare ausgerissen.

»Autsch!«, rief Lisbeth. »Was macht Ihr denn da?«

»Du willst doch, dass dein innigster Wunsch in Erfüllung geht, oder? Dann rede nicht und lass mich meine Arbeit tun«, entgegnete die Alte barsch, wandte sich ab und kramte in einer Kiste herum, die an der rückwärtigen Wand des Verschlages stand. Einen Augenblick später war sie wieder bei Lisbeth. In der einen Hand hielt sie ein etwa handtellergroßes Stück dunkelroter Seide und eine Seidenschnur von gleicher Farbe. In den Stoff war ein Muster aus Goldfäden gewirkt, wie Lisbeth es noch nie gesehen hatte. Sehr fremdländisch sah es aus.

Die andere Hand hielt die Alte ihr nun entgegen. Auf der geöffneten Handfläche erkannte Lisbeth ihr Haar, einen winzigen grünen Zweig und dazu etwas Krümeliges, das wie zerstoßene Rinde aussah. Ein betörender Duft stieg davon auf, es mochten Gewürze aus den neuen Ländern sein.

»Los, spuck darauf!«, kommandierte die Alte.

»Aber …«

»Red nicht, spuck!«

Lisbeth beugte sich vor und sog den betörenden Duft ein. Schwer und sinnlich war er, doch zugleich mit einer herben Note. »In Gottes Namen«, erwiderte sie ergeben und spuckte der Alten auf die Handfläche.

Mit der freien Hand breitete die Frau das Stoffstück auf Lisbeths Schoß aus und strich es mit ihrem knotigen Knöchel glatt. Dann verrieb sie die Gewürze mit Lisbeths Haar und Speichel und plazierte sie genau in der Mitte des Tuchfetzens.

Gespannt beobachtete Lisbeth, wie die Alte mit spitzen Fingern das Tuch um die geheimnisvollen Ingredienzien herum zu einem kleinen Beutelchen zusammenraffte. Um die Enden des Stoffes wand sie sorgfältig die Seidenschnur und verschloss das Amulett mit einem Knoten. Dabei murmelte sie für Lisbeth unverständliche Worte, während ihr Oberkörper, einem unhörbaren Rhythmus folgend, vor und zurück schwang.

Die Worte der Alten wurden lauter, gingen in einen monotonen Singsang über, während sie weitere Knoten hinzufügte. Schließlich beugte sie sich vor, legte Lisbeth die Schnur um den Hals und verschloss sie mit einem letzten Knoten. »So«, bemerkte sie, »das sollte genügen. Nun kannst du gehen.«

Erleichtert reichte Lisbeth der Alten das Geldstück.

Mit scheelem Blick beäugte diese die kleine Münze. »Meinst du nicht, dass das ein bisschen wenig ist für die Erfüllung deines größten Wunsches?«, tadelte sie.

Lisbeth seufzte. Ihr war von Anfang an bewusst gewesen, dass die geschäftstüchtige Alte sie nur aus diesem Grund in ihre Höhle geholt hatte. Doch ihr stand nicht der Sinn nach langem Feilschen. Sie wollte nur noch fort von hier, so schnell wie möglich. Wollte sehen, wie es daheim stand.

Ergeben angelte sie nach einem weiteren Geldstück und reichte es der Alten. Diese nickte zufrieden. »Denk daran: Nur wenn man sich etwas wirklich wünscht, dann geht es auch in Erfüllung«, sagte sie.

Natürlich! Wenn der Zauber nicht funktionierte, konnte man schließlich behaupten, der Kunde hätte nicht fest genug daran geglaubt, dachte Lisbeth, als sie auf die Straße trat. Alle, die sich mit dem Aberglauben der Menschen ihr Brot verdienten, versäumten nicht, sich ein solches Hintertürchen offen zu lassen.

»Nur leider gehen Wünsche meist ein wenig anders in Erfüllung, als man es sich vorgestellt hat«, murmelte die Alte hinter ihr her, doch Lisbeth beachtete sie nicht weiter. Sie blickte verwundert auf die gegenüberliegende Seite der Straße. Unverkennbar, auch nach Einbruch der Dunkelheit, war das dort drüben das Torhaus der Wolkenburg! Wieso hatte sie das vorhin nicht bemerkt, fragte Lisbeth sich. Sie musste sehr kopflos gewesen sein, dass sie die Cäcilienstraße nicht erkannt hatte. Doch mehr noch verwunderte es sie, dass ihr der Fuchsbau der Alten nie zuvor aufgefallen war. Er erweckte beileibe nicht den Eindruck, als gäbe es ihn erst seit gestern.

Gott sei es gedankt, dass das Feuer diesen Teil der Stadt bislang verschont hatte, dachte Lisbeth, und gern würde sie den Worten der Alten Glauben schenken, dass im Haus Zur Roten Tür alles zum Besten stand. Dennoch trieb die Sorge sie voran.

Zerrissen zwischen Bangen und Hoffen, setzte Lisbeth ihren Heimweg fort. Über dem Heumarkt und nahe dem Rheinufer zeichneten die Flammen fiebrig rot ihre schaurigen Bilder in den Nachthimmel. In dieser Richtung lag auch Sankt Alban und das Haus Zur Roten Tür. Ohne dass Lisbeth etwas dazutat, schritt sie schneller aus. Immer eiliger hastete sie voran, befürchtete, jeden Moment wieder einer Wand aus Rauch und Feuer gegenüberzustehen, die sie daran hinderte, nach Hause zu gelangen.

Doch diesmal erreichte sie die Obermarspforte ohne weitere Zwischenfälle. Das Feuer hatte die Straße verschont, und die Alte hatte recht behalten: Im Haus Zur Roten Tür war alles in bester Ordnung, alle Bewohner waren wohlauf.

Doch auf dem Fischmarkt, am Heumarkt, auf dem Eigelstein, in der Gasse Unter Sechzehn Häusern und bei Sankt Gereon wüteten die Feuer bis tief in die Nacht, und als am Morgen eine bleiche Sonne durch die rauchigen Schwaden stach, fand sie etliche Häuser bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Tagelang erging sich die Stadt in wüsten Spekulationen: Wer, warum und wieso, wer nicht und wer ganz bestimmt oder bestimmt gar nicht die Feuer gelegt hatte. Denn dass es sich um Brandstiftung handelte, das war unbestritten, darin war man sich einig. Die Mutmaßungen machten auch vor dem Haus Zur Roten Tür nicht halt.

»Man redet über dich!«, sagte Mertyn einige Tage darauf, nachdem er des Abends das Nachtlicht in ihrer Schlafkammer gelöscht hatte.

»Und, was sagt man?«, fragte Lisbeth schläfrig.

»Du bist gesehen worden!«

»Wobei?« Lisbeth gähnte.

»Es heißt, du seist heimlich um das Haus Zum Kleinen Schönwetter herumgeschlichen.«

»Was bin ich?«

»Man hat dich in der Nähe des Hauses Zum Kleinen Schönwetter gesehen«, wiederholte Mertyn, »an jenem Nachmittag, kurz bevor die Brände ausbrachen.« Seine Stimme klang besorgt, doch Lisbeth entging nicht der Anflug von Ärger, der darin mitschwang.

Mit einem Schlag war sie hellwach. Jäh drehte sie sich zu ihrem Gemahl herum und stützte sich auf den Ellbogen. »Du meinst, ich hätte die Feuer gelegt?«, rief sie aufgebracht und versuchte angestrengt, ihm ins Gesicht zu blicken. Doch die Düsternis in der Kammer verbarg seine Züge.

Mertyn schwieg einen Moment, als wäge er seine Worte sorgfältig ab. »Natürlich nicht«, sagte er schließlich. »Aber ein wenig seltsam mutet es schon an, das musst du zugeben. Du kommst spät am Abend heim, bist voller Ruß und erklärst, dass du bei einer seltsamen Alten warst, die gegenüber der Wolkenburg wohnt und die du nie zuvor gesehen hast. Und in der Stimmung, in der du an jenem Nachmittag warst, als du das Haus verlassen hast …« Mertyn vollendete seinen Satz nicht. Unausgesprochen schwebte die Anklage über der Bettstatt der Eheleute.

»Du hältst mich also der Brandstiftung für fähig?«, fragte Lisbeth ungläubig. »Das ist nicht dein Ernst!« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Sie wusste nicht, ob sie lachen sollte ob dieser absurden Verdächtigung oder ob sie Mertyn zürnen sollte, dass er sie einer solch verruchten Tat für fähig hielt.

Als Lisbeth sich den bewussten Nachmittag ins Gedächtnis zurückrief, entstand vor ihrem inneren Auge ein junges Gesicht mit spitzem Kinn und grau-grünen Augen. Jacoba! Diese miese kleine Kröte! Das war Verleumdung, üble Nachrede! Da konnte ja jeder verdächtig sein, der an jenem Tag in der Gasse unterwegs gewesen war.

Am liebsten wäre Lisbeth sofort ins Haus Zum Kleinen Schönwetter gelaufen und hätte dem fiesen Aas eigenhändig den Hals umgedreht. Dabei hatte Jacoba nicht einmal gelogen. Sie war wirklich in der Nähe des Berchemschen Hauses gewesen – wie viele andere auch. Allein dadurch, dass Jacoba dies im Zusammenhang mit den Feuern erwähnte, erschien es jedoch in einem ganz anderen Licht.

Doch Lisbeth wusste, gegen derlei Gerede war man machtlos. Was immer sie auch unternähme, es wäre nur Wasser auf die Mühlen der Klatschweiber!

In Lisbeths Erinnerung löste sich das Bildnis von Jacoba auf und machte einem anderen Gesicht Platz. Einem Gesicht, das ihr nur allzu vertraut war: Clairgins Gesicht.

Auch Clairgin war an jenem Nachmittag in der Nähe des Hauses Zum Kleinen Schönwetter gewesen, und Lisbeth war die Heimlichkeit aufgefallen, mit der Clairgin sich umgeschaut hatte. Damals hatte Lisbeth dies mit der Peinlichkeit gerechtfertigt, die es für Clairgin bedeuten mochte, ihre Ware von Tür zu Tür feilzubieten. Was jedoch, wenn deren Verstohlenheit einen ganz anderen Grund hatte?

Der Gedanke war reichlich absurd, aber nicht unwahrscheinlicher als das, was ihr Gemahl gerade angedeutet hatte. Clairgins Motiv wäre dasselbe, das Mertyn ihr unterstellen mochte, doch anders als Lisbeth hatte Clairgin um ihre Existenz zu kämpfen, die von Brigitta van Berchem und den anderen reichen Seidmacherinnen bedroht wurde. Sie hätte wirklich einen guten Grund …

Das war dummes Zeug, entschied Lisbeth und verwarf den Gedanken. Du bist auch nicht besser als Jacoba, schalt sie sich selbst. Jetzt verdächtigst du schon Clairgin! »Da könnte ja jeder verdächtig sein«, fasste sie schließlich ihre Gedanken laut in Worte.

»Jeder oder keiner. Du zumindest hast dich verdächtig gemacht!«, entgegnete Mertyn. Die Missbilligung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich glaube nicht, dass du es warst, die den Berchems die Werkstatt abgefackelt hat. Keiner wird das ernsthaft in Erwägung ziehen. Aber es reicht, dass man in der Stadt über dich spricht. Allein dass man darüber spekuliert, du könntest es gewesen sein, schadet unserem Ansehen. Von meiner Gemahlin erwarte ich tadelloses Benehmen!«

»Ach was! Du kümmerst dich ja sonst auch nicht darum, was ich mache!«, gab Lisbeth hitzig zurück. »Aber jetzt, wo es an deinem Ansehen kratzt, da ist es dir plötzlich wichtig, was ich tue!« Verärgert warf sie sich auf die andere Seite und wandte Mertyn den Rücken zu. Diese verdammten Kerle mit ihrer Ehre! Stumm äffte sie Gatten und Schwager nach: »Von meiner Gemahlin erwarte ich tadelloses Benehmen! Es ist einer Imhoff unwürdig, ein Handwerk zu erlernen. Es geziemt sich nicht …«

 

»Ich schwöre, dass ich die Bestimmungen des Amts- und des Transfixbriefes genau befolgen werde …« Mit feierlicher Miene sprach Sophie ihrer neuen Lehrherrin die Worte nach. Es war ihr erster Tag als Lehrmädchen im Hause ihrer Tante, doch ihre Gedanken wanderten bereits auf Abwegen.

Früh am Morgen hatte ihre Mutter sie in die Obermarspforte geleitet und sie Lisbeths Obhut übergeben. Für die kommenden vier Jahre würde nun das Haus Zur Roten Tür ihr Zuhause sein, und sie würde sich mit den anderen Lehrmädchen gemeinsam eine Kammer unter dem Dach teilen, nicht mehr wie bisher mit ihren drei Schwestern.

Sophie war nicht traurig darum. Ihre Schwestern waren eitle Puten, die sich für nichts interessierten als für das eigene Aussehen. Vor allem Johanna, die Ältere, ließ keine Gelegenheit ungenutzt, an Sophies Äußerem herumzumäkeln: Bind dir deine Zöpfe neu, zieh dir eine saubere Schürze an, tu dieses, lass jenes! Nein, Sophie würde die drei sicher nicht vermissen! Vielmehr war sie schon sehr gespannt, die anderen Lehrmädchen endlich kennenzulernen.

»… und dass ich weder durch Rat noch durch Tat dazu beitragen werde, dass das Seidenhandwerk aus Köln herausgetragen werde!«, beendete Lisbeth die Eidesformel, die jedes Lehrmädchen nach dem neuen Tansfixbrief zu Beginn seiner Lehrzeit zu schwören hatte. Sophie war etwas zügellos, dachte Lisbeth, da konnte es nicht schaden, ihr mit ein wenig Feierlichkeit zu verdeutlichen, dass nun für sie ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat, der so manche Veränderung mit sich bringen würde. Deshalb hatte Lisbeth alle – ausgelernte Seidmacherinnen wie Lehrmädchen – in der Werkstatt zusammengerufen und ihnen ihre Nichte vorgestellt. Den Namen einer jeden hatte sie Sophie genannt, und nun ließ sie diese vor den Versammelten ihren Eid sprechen.

Lisbeth blickte ihre Nichte an, in der Erwartung, dass Sophie nun ihre Worte wiederholen würde. Doch nichts geschah. Sophie schaute neugierig in der Werkstatt umher, anstatt den Worten ihrer Lehrherrin zu folgen.

Na, das fing ja schon gut an, dachte Lisbeth. Das Kind würde viel zu lernen haben. »Sophie!«, rügte sie.

Einem der Lehrmädchen entfuhr ein leises Kichern.

»Ja, Tante Lisbeth?«

»Sophie, du sollst mir den Eid nachsprechen!«

»Ja. Entschuldige, Tante Lisbeth. Es ist alles so neu und so aufregend hier und …«

»Schon gut!«, unterbrach Lisbeth sie. »Vorab noch eines: Du wirst mich ab sofort mit ›Frau Meisterin‹ ansprechen, wie die anderen Lehrmädchen es auch tun. Du willst doch nicht, dass ich deinetwegen Extrawürste brate?«

»Nein, Tan…, ich meine: Nein, Frau Meisterin.«

Lisbeth nickte. »Und nun den Eid.« Langsam wiederholte sie die Worte, und diesmal sprach Sophie sie ohne Fehler nach.

Als die anderen wieder an ihre Arbeit gegangen waren, blieb Sophie in der Mitte des Raumes stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickte ihre Lehrherrin erwartungsvoll an. »Was soll ich als Erstes tun?«, fragte sie eifrig.

»Das hier ist eine Spule«, erklärte Lisbeth, nahm eines der glattgeschliffenen hölzernen Röhrchen aus einem Korb und zeigte es Sophie. Es mochte vielleicht so lang und dick sein wie ein Finger und hatte an den beiden Enden breitere Ränder. »Die Spule wird mit Garn umwickelt und dann in ein Schiffchen gelegt, damit es sich beim Weben gleichmäßig abwickelt und leicht durch die Kettfäden gleitet. Siehst du diese Garnstränge dort?« Lisbeth wies auf eines der Bündel im Regal.

Sophie nickte. »Das Garn soll ich auf die Spulen wickeln?«

»Du hast es erfasst!«, lobte Lisbeth und half ihrer Nichte, das Schussgarn vom Regal herabzuheben.

Die Tür zur Werkstatt öffnete sich, und begleitet von einem Schwall kalter Luft, trat Mertyn herein.

»Was gibt es?«, fragte Lisbeth überrascht. Es war ungewöhnlich, dass ihr Gemahl sie in der Werkstatt aufsuchte.

»Man hat sie gefasst.« Die Erleichterung stand Mertyn deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Wen gefasst?« Lisbeth verstand nicht sogleich, wovon er sprach.

»Die Brandstifter. Es waren die gleichen Mordgesellen, die vor zwei Jahren Bürgermeister van Berchem angegriffen haben. Man hat sie endlich gefasst! Stell dir vor: Sie haben gestanden, von Bernd von Mainz, einem Untergebenen des Erzbischofs in Poppelsdorf, gedungen worden zu sein, der sich dafür hat rächen wollen, dass ihm der Kölner Rat ein Geleitgesuch abgeschlagen hat.

Tausend Gulden hatte er ihnen geboten, damit sie Berchem, Schurenfeltz, von Rheidt und vom Wasserfaß ermorden. Und als alle Versuche fehlschlugen, hat er ihnen die gleiche Summe geboten, wenn sie an verschiedenen Stellen in der Stadt Feuer legen. Einen von ihnen, Johann Pfeffer, hat man damals ja schon erwischt, doch jetzt sind endlich auch die anderen drei ins Netz gegangen.«

Lisbeth nickte. Nur schlecht gelang es ihr, ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken.

»Ich wollte, dass du sogleich davon erfährst«, fügte Mertyn hölzern hinzu und verließ ohne ein weiteres Wort die Werkstatt.

Lisbeth wandte sich wieder ihrer Nichte zu, um zu sehen, wie das Kind mit seiner Aufgabe zurechtkam.

Sophie hatte bereits eine Spule gefüllt, doch natürlich sah man dem Ballen noch nicht an, dass er kleiner geworden war. »Das ist aber eine langweilige Aufgabe, Tante Lisbeth«, maulte sie. »Wann gehen wir denn wieder zu den Färbern?«