22.  Kapitel

Am Tag vor Dreikönige kamen die Zünfte im Haus Quattermarkt zusammen. Ihnen war daran gelegen, dass in der Stadt Frieden und Ordnung herrschte, damit sie in Ruhe ihren Gewerken nachgehen konnten, daher wählten sie aus ihren Reihen hundertachtundsiebzig Vertrauensmänner, die eine provisorische Regierung bilden sollten. Dieser Ausschuss glaubte, er könne den Pöbel von seinen Greueltaten abhalten, wenn es ihm gelänge, den Rat dazu zu bewegen, allen Forderungen der Zünfte zuzustimmen. In Windeseile fasste er daher die Forderungen in sage und schreibe hundertdreiundfünfzig Artikeln zusammen und entsandte eine Deputation zum Rathaus, um sie den Ratsherren zu überreichen.

Doch das rauflustige Volk, das die Deputation begleitete, sah wenig Sinn in Unterhandlungen. Es schickte sich an, das Rathaus zu stürmen und die Ratsherren samt und sonders zu erschlagen. Nur mit Mühe gelang es den Zünftigen, die Horden von ihrem blutigen Ansinnen abzuhalten und dazu zu bewegen, sich auf dem Alter Markt zu versammeln.

Der Rat schickte sich in das Unvermeidliche. Voller Sorge um das eigene Leben bewilligten die gnädigen Herren, was von ihnen verlangt wurde, und binnen kurzem traten die Deputierten auf die Galerie über dem Flachshaus. Die Glocke des Ratsturms erklang, man rührte die Trommel, und voller Zufriedenheit erklärte ein Zunftmeister des Wollenamtes dem Volk auf dem Alter Markt, dass der Rat alle Forderungen erfüllen würde.

Die Menge johlte und feierte lautstark ihren Sieg. Doch die Freude währte nicht lange, und die Rechnung des Ausschusses vom Quattermarkt ging nicht auf. Denn dem Pöbel erschien dessen Vorgehen den verhassten Ratsherren gegenüber zu nachsichtig, und noch zur selben Stunde bildete sich eine Gegenregierung, die, auf die Gewalttätigkeit des gemeinen Volkes gestützt, zum Schrecken der Bürgerschaft wurde.

Die neuen Herren der Stadt ließen sich die Schlüssel der Stadttore, des Rathauses und des Ratsweinkellers aushändigen und ordneten an, dass in der Nacht vor den Häusern Laternen aufgehängt und die Straßen hell erleuchtet werden sollten – ein Befehl, der nur einen Schluss zuließ: Der Pöbel sann auf Plünderung.

Angst ergriff die Bürger, und nicht wenige schnürten ihr Bündel, rafften Geld und Gut zusammen und versuchten die Stadt zu verlassen. Doch weit kamen sie nicht, denn die Tore waren geschlossen. Nur eines zum Rhein und eines zu den Feldern hin war geöffnet, damit die Bauern ihre Lebensmittel in die Stadt bringen konnten, und niemand, der nicht einen triftigen Grund nannte, wurde hinausgelassen.

Resigniert schlüpfte Mertyn aus dem schwarzen Ratsherrenmantel, den er einst mit so viel Stolz und dem Willen, gut für die Bürger seiner Stadt zu sorgen, getragen hatte, und legte ihn beiseite. Auch den Hut, an dem ihn jedermann sogleich als Ratsherr erkennen würde, nahm er vom Kopf und verließ trotz der winterlichen Kälte nur mit Hemd und Wams bekleidet das Rathaus. Er wollte nicht riskieren, auf offener Straße vom Pöbel erschlagen zu werden.

Eilig hastete er durch die Straßen, bemüht, dem grölenden und marodierenden Pöbel aus dem Weg zu gehen, der wie trunken einhermarschierte. Etliche Karren waren umgestürzt worden und versperrten, die Räder dem Himmel zugewandt, den Weg. An der Ecke zur Obermarspforte brannte ein Feuer, und man briet auf offener Straße ein Schwein, das man aus dem Stall eines Hauses entwendet hatte.

Auch im Wams entging Mertyn nicht dem Argwohn einiger abgerissener Gestalten, die mit einem Mal vor ihm aus dem Boden wuchsen und ihn bedrohlich in die Mitte nahmen.

»Wo hast du deinen Mantel«, fragte ein fast kahler, bulliger Kerl, der sich zum Anführer des Haufens aufgeschwungen hatte.

»Der hat deinem Kollegen gut gefallen, da oben am Alter Markt«, erklärte Mertyn geistesgegenwärtig. »Also habe ich ihn ihm gegeben.«

Unschlüssig, ob er Mertyns Worten Glauben schenken sollte, starrte der Anführer Mertyn argwöhnisch an.

»Er konnte ihn hier draußen bei der Kälte gut gebrauchen«, fuhr Mertyn in betont heiterem Ton fort. Bloß nicht aufhören zu reden, dachte er. Wenn das Reden vorbei ist, wird geschlagen. »Aber das macht nichts«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe noch einen anderen Mantel. Der ist zwar nicht so schön …«

»Schon gut«, brummte der Anführer entnervt. »Sieh zu, dass du fortkommst!«

Außer Atem, doch ohne ein zweites Mal behelligt zu werden, erreichte Mertyn das Haus Zur Roten Tür. »Such das Geld und all deinen Schmuck zusammen«, befahl er Lisbeth, die ihn erleichtert in die Arme schloss. »Eil dich und verpacke alles, was von Wert ist!«

Lisbeth wollte nach den Mägden rufen, damit diese ihr zur Hand gingen, doch Mertyn hielt sie zurück. »Du packst allein. Das Gesinde braucht nicht zu wissen, wo wir unsere Wertsachen verbergen.«

Sicherheitshalber rief er Mathias, seinen Knecht, die Köchin und die beiden Mägde zusammen und gebot ihnen, die Küche nicht zu verlassen, bis er sie rufe.

Hastig kam Lisbeth Mertyns Anweisungen nach. Sie verpackte die silbernen Becher und das Zinngeschirr in eine Truhe und schlug die kostbaren Gläser in dicke Lagen aus Tuch. Dann lief sie in ihre Kammer hinauf und holte das hölzerne Kästchen hervor, in dem sie ihren Schmuck verwahrte.

Als sie alles beisammenhatten, auch die Geldtruhe aus dem Kontor und die Schatulle aus ihrer Schreibstube, bestimmte Mertyn: »Wir schaffen alles in die Werkstatt.«

»In die Werkstatt? Wo willst du es denn da verbergen? Da sind weder Kasten noch Truhe. Meinst du, da ist es sicher genug?«, fragte Lisbeth zweifelnd.

»Ja, das ist es«, widersprach Mertyn und lud sich die erste Kiste auf die Schulter.

Lisbeth ergriff vorsichtig den Korb mit den Gläsern und folgte ihm auf den Hof hinaus.

Nachdem er die Werkstatttür gewissenhaft hinter ihnen geschlossen hatte, setzte Mertyn die Kiste auf dem Boden ab und trat zu einem Regal, das an der rückwärtigen Wand lehnte. Hastig räumte er die Ballen mit Rohseide von den Brettern und stapelte sie auf dem Boden auf. Dann packte er das Regal mit beiden Händen, zog es von der Wand und machte sich daran, die hölzernen Dielen vom Boden hochzuheben.

Zu Lisbeths Erstaunen kamen darunter Stufen zum Vorschein. Sie führten in einen Kellerraum hinab, den man unter dem Boden der Werkstatt ins Erdreich gegraben hatte, groß genug, dass sie ihre wertvollen Sachen darin verbergen konnten.

»Woher weißt du von diesem Versteck?«, fragte Lisbeth. Sie arbeitete seit so vielen Jahren in dieser Werkstatt, doch von der Existenz dieses Kellers hatte sie nichts gewusst.

»Du vergisst, dass ich in diesem Haus aufgewachsen bin«, erwiderte Mertyn lächelnd. Doch es war ein angespanntes Lächeln.

Eilig schafften sie die Kisten und Körbe in den Keller, und als Mertyn die Dielen wieder an Ort und Stelle gelegt und das Regal darübergestellt hatte, konnte niemand mehr erahnen, dass sich hier ein Keller befand. Der Eingang wurde vollständig vom unteren Regalboden verdeckt. Lisbeth räumte die Rohseide wieder in das Regal und schob noch einen Korb mit leeren Spulen davor.

Ins Haus zurückgekehrt, befahl Mertyn ihr: »Jetzt geh und hol die Kinder. Zieh ihnen etwas Warmes an. Wir gehen in die Wolkenburg.«

Lisbeth erschrak. Auf den Straßen tobte der Pöbel schlimmer als zuvor. Doch Mertyn mochte recht haben, dachte sie. Die Wolkenburg war ein trutziges Gemäuer und hatte ein starkes Tor. Dort wären sie sicherer als hier – wenn sie es denn heil bis dorthin schafften.

Bevor sie gingen, rief Mertyn Mathias zu sich. »Wenn es dunkel wird, hängst du eine Laterne vor das Tor, so wie es befohlen ist«, wies er ihn an. »Sollten sie das Tor aufbrechen, so verbergt euch auf dem Dachboden. Sie sind nur auf Raub aus. Lasst sie nehmen, was sie wollen, und setzt euch nicht zur Wehr. Hier ist nichts von Wert zu holen. Ich habe bereits vor Tagen alles fortgeschafft.«

Es begann schon zu dämmern, als Mertyn sich seinen älteren Sohn auf die Schultern hob und mit Lisbeth, die den kleinen Peter in den Armen trug, in die Obermarspforte trat. Sie waren nicht die Einzigen, die danach trachteten, sich in Sicherheit zu bringen. Viele hatten ihre Wertsachen, Kleinodien und Kostbarkeiten versteckt oder vergraben und begaben sich selbst zum Schutz in Kirchen und Klöster, wo sie hofften, vor den befürchteten Ausschreitungen sicher zu sein.

Beinahe schon hatten Mertyn und Lisbeth die Wolkenburg erreicht, als man ihnen an der Ecke zu Sankt Cäcilien den Weg vertrat.

»Was schafft ihr davon?«, fragte ein schmaler, sehniger Kerl mit verschlagenem Grinsen.

»Nichts. Wir haben nichts bei uns als die Kleidung, die wir auf dem Leib tragen«, antwortete Mertyn wahrheitsgemäß.

»Kein Geld, das du unter dem Wams verbirgst?«, fragte der Verschlagene höhnisch und riss Mertyns Mantel grob auseinander.

Der kleine Andreas schrie vor Schreck auf. Mertyn setzte ihn auf dem Boden ab, und sogleich flüchtete sich der Junge in Lisbeths Röcke.

»Nichts, wenn ich es sage!«, versicherte Mertyn und öffnete freimütig das Wams, um dem Kerl zu zeigen, dass er nicht etwa ein Geldsäckel verborgen auf der Haut trug.

»Es gibt noch andere Verstecke am Leib«, entgegnete der Verschlagene mit einem höhnischen Grinsen und deutete auf Mertyns Beinkleider.

Gehorsam machte Mertyn sich daran, die Schnürung am Latz seiner Hosen zu öffnen, und zog das Hemd heraus. Die Männer, die sich um sie scharten, hatten offensichtlich ihre Freude an dem Anblick eines feinen Herrn mit heruntergelassener Hose. Sie lachten grölend, was den Verschlagenen dazu veranlasste, seine Suche fortzusetzen.

»Und was ist hier drunter?« Mit einem raschen Hieb fegte er Mertyn das Barett vom Kopf, das dieser tief in sein Gesicht gezogen hatte.

»Das ist Ime Hofe!« Einer der Umstehenden hatte Mertyn erkannt.

»Der Ratsherr Ime Hofe?«, fragte ein anderer.

»Bist du Ime Hofe?«, fragte nun auch der Verschlagene mit gefährlich leiser Stimme.

Bitte, bitte leugne es, flehte Lisbeth stumm. Sag, du bist Gott weiß wer.

Doch Mertyn dachte nicht daran, seinen Namen zu verleugnen. »Ja, der bin ich«, antwortete er fest.

Lisbeth schloss entsetzt die Augen und schlang die Arme fester um den kleinen Peter. Dies hier würde nicht gut enden.

»Ich fresse ’nen Besen! Ein echter, lebendiger Ratsherr!« Der Verschlagene konnte seine Freude nicht verbergen. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und spazierte, Mertyn von oben bis unten wie ein seltenes Tier musternd, einmal um ihn herum. »Willst dich wohl verstecken, was? Tja, da hast du Pech gehabt!« Er lachte bösartig und stieß Mertyn grob in die Seite. »Dachtest wohl, so entgehst du deiner gerechten Strafe!«

So schnell, dass Lisbeth kaum eine Bewegung gesehen hatte, hatte er ein schartiges Messer vom Gürtel gezogen und richtete die breite Klinge auf Mertyns Brust.

»Lass ihn in Ruhe!«, hob sich eine gebieterische Stimme. Ein kräftiger Kerl mit auffallend vorspringender Oberlippe trat zwischen Mertyn und den Verschlagenen. »Ich kenne ihn. Im Rat gibt es beileibe wenig gute Männer. Doch dieser ist einer davon. Wenn ihr ihn erschlagt, so erwischt ihr den Falschen!«

Mertyn erkannte den Mann. Es war einer derjenigen, die damals bei der heimlichen Zusammenkunft im Krützchen das Wort geführt hatte.

Er schien unter den Männern des Haufens große Autorität zu besitzen, denn der Verschlagene knurrte enttäuscht, doch gehorsam steckte er sein Messer zurück in den Gürtel – nicht jedoch, ohne es zuvor ein paar Mal geschickt durch die Luft wirbeln zu lassen.

Aus den Reihen der Umstehenden ertönten Rufe des Bedauerns, doch auch von ihnen wagte keiner, sich dem Mann mit der vorspringenden Lippe zu widersetzen.

Dieser bückte sich, hob Mertyns Barett vom Boden auf und reichte dem Ratsherrn seine Kopfbedeckung. »Nichts für ungut«, sagte er. »Jetzt eilt Euch, dass Ihr in Sicherheit kommt.« Grüßend tippte er an den Rand seiner Mütze.

Wortlos richtete Mertyn seine Kleidung. Dann löste er den kleinen Andreas, der sich weinend an Lisbeths Beine klammerte, aus ihren Rockfalten und hob ihn sich wieder auf die Schultern. Voller Schrecken setzten sie ihren Weg fort, und als sie endlich durch das Torhaus in den Hof der Wolkenburg traten, stiegen Lisbeth vor Erleichterung Tränen in die Augen.

Sophie stürmte auf Lisbeth zu und warf sich ihr in die Arme, kaum dass sie die Stube betreten hatten. Die Farbe in ihrem Gesicht war mittlerweile verblasst. Nur an Hals und Ohren hielt sich hartnäckig ein grüner Schimmer, doch bis sie und Godert im Frühjahr heiraten würden – wenn sich die Unruhen bis dahin gelegt hatten –, wären auch diese wohl verschwunden.

Ganz anders fiel die Begrüßung ihres Schwagers aus. »Mit eurem Kommen bringt ihr uns alle in Gefahr«, protestierte Andreas.

»Wie kannst du so herzlos sein!«, fuhr Agnes ihn entsetzt an, doch Mertyn reagierte nicht auf den Vorwurf seines Schwagers. Wortlos drückte er ihm seinen Patensohn in die Arme und rief, die Verantwortlichkeit des Hausherrn einfach übergehend, die Knechte der Wolkenburg zusammen.

Mit ruhiger Stimme wies er sie an, das Tor zum Hof von innen mit schweren Balken zu verstärken, und machte sich daran, höchsteigen zu prüfen, ob jeder einzelne Klappladen vor den Fenstern geschlossen und verriegelt war. Dann befahl er allen Bewohnern des Hauses, auch den Knechten und dem Gesinde, sich in der Stube zu versammeln.

Man brachte Decken zum Schutz gegen die Kälte herbei, löschte das Feuer in den Kaminen und alle Öllichter. Weder Rauch noch ein Lichtschein sollte hinaus auf die Straßen dringen. Mertyn gestattete nur eine kleine Flamme, damit sie nicht in völliger Dunkelheit saßen.

Gegen neun Uhr begann das Toben. Verhalten zunächst, doch dann schwoll das Lärmen an und drang wie das Grollen eines riesigen wilden Tieres durch die geschlossenen Läden zu ihnen herein.

Das Rumoren kam näher, dann wurde kräftig gegen das Tor gehämmert, begleitet von wütenden Rufen. Sophies jüngere Schwestern Magdalena und Martha klammerten sich ängstlich an ihre Mutter, und der kleine Peter begann zu weinen. Hastig versuchte Lisbeth, ihn zu beruhigen.

Die Knechte wollten aufspringen und zum Tor eilen, doch Mertyn hielt sie zurück. »Verhaltet euch ruhig, vielleicht ziehen sie dann weiter. Das Tor ist aus starken Balken gefügt, und ich glaube nicht, dass sie schweres Gerät mit sich führen, mit dem sie es aufbrechen können.« In Gedanken setzte er hinzu: Solange sie nur kein Feuer legen.

Wieder und wieder erklang das Dröhnen der Schläge gegen das Tor. Die Erwachsenen saßen starr vor Angst, die Mädchen und ihr jüngster Bruder Lazarus hielten sich mit schreckweiten Augen die Ohren zu. Der kleine Andreas presste sich an seine Mutter, angestrengt bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Beruhigend strich Lisbeth ihm über den Rücken, während sie Peter im anderen Arm wiegte.

Sie musste versuchen, sich abzulenken. Es brachte nichts, sich auszumalen, was mit ihnen geschehen würde, wenn es dem Pöbel gelänge, das Tor aufzubrechen. »Lass uns ein Spiel spielen«, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr und hielt ihm ihre Hand hin. »Wie viele Finger siehst du hier?«

Andreas schluckte, doch er ließ sich auf Lisbeths Ablenkungsversuch ein. Mit dem Zeigefinger tippte er gegen jeden einzelnen von Lisbeths ausgestreckten Fingern. »Eins – zwei – drei«, zählte er. »Drei! Das war aber einfach, Mama!«

»Scht!«, machte Lisbeth. »Das ist richtig, es sind drei Finger«, lobte sie. »Aber sag es nicht so laut. Wir müssen flüstern. Und wie viele sind es jetzt?«

Ein heftiger Schlag gegen den Klappladen vor dem Fenster der Stube ließ alle zusammenfahren. Von der Straße erklang jubelndes Grölen.

»Ein Stein. Sie haben nur einen Stein geworfen«, sagte Mertyn. »Das hilft ihnen nicht. Der richtete keinen Schaden an.«

Noch einmal donnerte ein Schlag gegen den Laden, begleitet von frenetischem Jubel, dann ebbte das Grölen ab, und auch die Schläge gegen das Tor verstummten. Die Angreifer waren weitergezogen, zu einem anderen Tor, das sich mit etwas Glück leichter überwinden ließ.

Für eine kurze Weile konnten die Bangenden in der Stube aufatmen. Doch die Ruhe währte nicht lang, bis andere Plünderer herbeidrängten. Es erschien Lisbeth, als hätte sie nie eine längere Nacht erlebt. Stunde um Stunde harrten sie aus, und wie sie all die anderen Bürger der Stadt in ihren Häusern.

Die ganze Nacht hindurch erschollen aufgeregte Rufe, donnerten Schläge gegen das Holz, doch das schwere Tor widerstand den Angriffen, bis endlich in den frühen Morgenstunden der Schwung des Pöbels erlahmte und sich das Rasen legte.

Erschöpft verließen Lisbeth und ihre Familie mit den Bewohnern der Wolkenburg die Stube, und Lisbeth und Agnes kümmerten sich darum, ein frühes Morgenmahl zu bereiten. Doch niemand verspürte rechten Appetit auf eine ausgiebige Mahlzeit. Diese fürchterliche Nacht war vorbeigegangen, doch der Schrecken war noch nicht vorüber.

Am frühen Vormittag – man saß immer noch zu Tisch, denn niemand mochte an seine Arbeit gehen – machte sich Mathias, Mertyns Kaufmannsknecht, durch Rufen am Tor bemerkbar. Er brachte schlechte Nachrichten: Die Plünderer waren ins Haus Zur Roten Tür eingedrungen. Ihm, der Köchin und den Mägden war nichts geschehen, aber die Räume im Erdgeschoss waren durchwühlt worden. Viel hatten die Plünderer nicht davongetragen, und es war nur wenig Mobiliar zerschlagen, aber die Aufrührer hatten ein fürchterliches Durcheinander hinterlassen.

Das waren jedoch nicht die schlimmsten Neuigkeiten, die Mathias brachte. Soeben war im Haus Zur Roten Tür die Nachricht eingetroffen, dass der Zunftausschuss sämtliche Ratsherren, somit auch Mertyn, in das Haus Quattermarkt befahl, damit sie sich für ihre Vergehen verantworteten.

Lisbeth wich die Farbe aus dem Gesicht. »Nein«, presste sie hervor.

Doch Mertyn schien gefasst, als er sich vom Tisch erhob. »Bring mir Mantel und Hut«, befahl er.

»Du darfst nicht zum Quattermarkt gehen!« Lisbeths Stimme klang schrill vor Entsetzen. »Das kannst du nicht tun! Sie werden dich in den Turm bringen. Wer weiß, was sie mit dir …«

»Ich muss gehen«, entgegnete Mertyn ruhig. »Das ist keine Einladung, das ist ein Befehl. Wenn ich nicht gehe, dann kommen sie und holen mich. Da ist es mir lieber, ich stelle mich, aufrecht und mit der Würde, die einem Ratsherrn zukommt. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, dessen ich mich schämen müsste.« Leiser fügte er hinzu: »Obwohl ich mich inzwischen dafür schäme, diesem Rat anzugehören.«

Lisbeth wollte davon nichts hören. »Du musst fliehen!«, rief sie aufgebracht. »Es muss doch einen Weg aus der Stadt hinaus geben!«

Mertyn schüttelte den Kopf. Behutsam legte er den Arm um Lisbeths Schultern und führte sie ein Stück vom Tisch fort. »Hör zu«, flüsterte er, »bleib vorerst hier in der Wolkenburg. Wenn mir etwas zustößt und ich nicht zurückkomme …«

»Du musst zurückkommen!« Mit einem Schluchzen warf Lisbeth sich ihm an die Brust.

Mertyn fasste sie an den Armen und hielt sie ein Stück von sich weg, um ihr in die Augen blicken zu können. »Hör mir zu, es ist wichtig! Wenn ich nicht zurückkehre«, wiederholte er, »bleib nur so lange wie eben nötig hier. Kümmer dich nicht um die Geschäfte, sondern nimm das Geld und deinen Schmuck und verlasse so schnell wie möglich mit den Jungen die Stadt. Geh nach Antwerpen. Sobald die Schiffe im Frühjahr wieder fahren, wird Hans Her dir helfen, von dort nach Valencia zu deiner Mutter zu reisen. Versprich mir das!«

Lisbeth schluckte und biss sich auf die Lippe.

»Versprich es mir!«, drängte er.

Lisbeth nickte gehorsam.

»Ich bin stolz, ein Weib wie dich zu haben«, flüsterte Mertyn und küsste sie sanft auf die Lippen. »Leb wohl!«

Lisbeth presste sich an ihn und erwiderte leidenschaftlich seinen Kuss. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ein dicker Kloß verschloss ihr die Kehle. Sie vermochte es nicht, Mertyns Abschiedsgruß zu erwidern.

Ein letztes Mal drückte er sie fest an sich, dann entwand er sich Lisbeths Armen und beugte sich zu dem kleinen Andreas hinab. Fest blickte er seinen Sohn an. »Sei ein gehorsamer Junge und versprich mir, dass du deiner Mutter nur Freude bereitest«, forderte er.

Andreas verstand nicht, was das Weinen der Mutter bedeutete, doch er spürte den Ernst in den Worten seines Vaters. Seine Augen schwammen in Tränen. Ernsthaft nickte er.

Mertyn küsste ihn zum Abschied auf den Scheitel und strich ein letztes Mal über die Wange des kleinen Peter. Gefasst grüßte er Schwager und Schwägerin und folgte Mathias hinaus.

Lisbeth war es unmöglich, sich wieder zu den anderen an den Tisch zu setzen. Ihr war mit einem Mal schrecklich kalt. Ein heftiges Zittern ergriff sie, und sie fasste haltsuchend nach der Kante des Tisches.

Agnes sprang herbei, um ihre Schwester zu stützen. Hastig wies sie die Mägde an, für Lisbeth einen starken Würzwein zu bereiten, dann nahm sie Lisbeths Jüngsten auf den Arm, fasste ihre Schwester um die Schultern, und, gefolgt vom kleinen Andreas, geleitete sie Lisbeth hinauf in eine der Kammern.

Fürsorglich drängte Agnes Lisbeth auf die Bettstatt und breitete ein wärmendes Federbett über sie. Andreas kroch zu seiner Mutter unter die Decke, und Agnes legte ihr den kleinen Peter in den Arm. Vergeblich suchte sie nach Worten des Trostes für ihre Schwester. Doch was sagte man einer Frau, der das Schicksal im Begriff war, auf so grausame und ungerechte Weise den Mann zu nehmen? »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte sie daher schlicht. Doch ihre Worte erreichten Lisbeth nicht. Mitfühlend strich sie Lisbeth über die Wange, dann überließ sie die Schwester ihrem Kummer.

Stumm starrte Lisbeth an die getünchte Decke der Kammer. Doch ihre Augen sahen nichts als das entschlossene Gesicht ihres Mannes, als er die Stube der Wolkenburg verließ. Was würde mit ihm geschehen, fragte sie sich bang und krampfte die Hände zu Fäusten. Würde sie ihn lebend wiedersehen?

Sie hatte wenig Vertrauen, dass der Ausschuss danach fragen würde, welcher Ratsherr sich etwas hatte zuschulden kommen lassen und welcher nicht. Viel wahrscheinlicher war es, dass er die Ratsherren samt und sonders dem Pöbel ausliefern würde, der die Herrschaft in den Straßen übernommen hatte, damit dieser seine Mordlust an ihnen abreagiere und die Stadt endlich wieder zur Ruhe finden würde.

Und wenn es nach dem Willen des Pöbels ginge, so würden alle Mitglieder des Rates – schuldig oder nicht – ohne Unterschied sogleich erschlagen oder an den nächsten Galgen geknüpft. Lisbeth schlug die Hände vor die Augen, um die Bilder zu vertreiben, die sich ihr aufdrängten: Mertyn im Turm eingekerkert, Mertyn, wie sie ihn peinlich befragten, wie sie ihn dann zum Richtplatz führten …

»Lieber Gott«, betete sie verzweifelt. »Steh ihm bei! Mach, dass er zurückkommt!«

Und wenn nicht? Lisbeth wagte es kaum, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie konnte sich das Leben ohne Mertyn nicht vorstellen. Nicht mehr des Morgens neben ihm zu erwachen, ihn nicht den Tag über geschäftig in seinem Kontor zu wissen. Nicht mehr zu sehen, wie er Andreas die Welt erklärte, so wie er einst in Kindertagen mit unerschöpflicher Geduld alle ihre Fragen beantwortet hatte.

Die Vorstellung, dass es Mertyn nun vielleicht nicht mehr vergönnt war, zu erleben, wie seine Söhne aufwuchsen und zu Männern reiften, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Mehr als einmal hatte er vorausgesagt, dass aus Andreas einmal ein großer Kaufmann würde und Peter ihm einst in den Rat der Stadt nachfolgen würde.

Lisbeth presste die Hand auf den Mund und unterdrückte einen lauten Schluchzer. Die Kinder waren nach der unruhigen Nacht erschöpft eingeschlafen, und sie wollte nicht, dass sie aufwachten. Hastig stopfte sie sich den Zipfel eines Kissens in den Mund und weinte still in die Laken.

Sie spürte noch Mertyns letzte Umarmung auf der Haut. Nie wieder würde er sie zärtlich berühren! Die Vorstellung schnürte ihr die Kehle zu, und die Tränen rannen über ihr Gesicht. Wie sehr sehnte sie sich gerade jetzt danach, dass Mertyn sie in den Arm nahm, sie wiegte wie ein Kind und ihr versicherte, dass alles gut würde.

Aber nichts würde gut werden, auch für sie und die Kinder nicht, wenn Mertyn nicht zurückkäme. Man würde ihr alles nehmen, das Haus und das Geld, denn gewöhnlich wurde das Vermögen eines Verurteilten eingezogen, und den Angehörigen blieb nur das Elend.

Wie schnell würden die Stadtwachen handeln, fragte Lisbeth sich bang. Bliebe ihr genug Zeit, das Geld aus dem Versteck zu holen und die Stadt zu verlassen? Und sollte sie dann nach Valencia zu ihrer Mutter reisen, wie sie Mertyn versprochen hatte? Es wäre wohl das Beste …

Nein! Energisch schob Lisbeth diesen Gedanken von sich. So weit wollte sie jetzt noch nicht denken, denn noch bestand Hoffnung. Wenn es eine gerechte Befragung geben würde, dann würde vielleicht alles gut werden. Wie eine Ertrinkende klammerte Lisbeth sich an diesen Gedanken. Im Zunftausschuss saßen auch einige vernünftige Männer. Viele davon kannten Mertyn und wussten, dass er ein aufrechter Mann war. Sie würden nicht zulassen, dass man ihn verurteilte. Wenn es doch nur um den Zunftausschuss ginge!

Ihr blieb nichts als quälendes Warten. Die Minuten zogen sich zu Stunden voller nagender Ungewissheit. Doch solange keine schlechten Nachrichten eintrafen, blieb ihr wenigstens die Hoffnung.

 

Am Haus zum Quattermarkt war kaum ein Durchkommen. Scharen bewaffneter Zunftgenossen hatten sich auf dem Platz vor dem Haus postiert und versuchten, den Pöbel zurückzuhalten. Für die Ratsherren, die der Aufforderung des Zunftausschusses gefolgt waren, geriet es zum reinen Spießrutenlaufen, den Quattermarkt zu überqueren und in das Haus zu gelangen. Kaum einer von ihnen, der nicht mindestens einen unsanften Hieb erhielt, und nur den Zünftigen war es zu verdanken, dass die gnädigen Herren es heil bis in den Saal hineinschafften.

Es waren nicht alle Ratsherren gekommen, stellte Mertyn mit einem Blick in die Runde fest. Natürlich nicht. Manch einer, den er noch am Vortag im Rathaus gesehen hatte, mochte sich nun in seinem Haus oder einem geheimen Gelass verbergen. Aus der Stadt hinaus hatte man sicher keinen von ihnen gelassen.

Oben und unten schienen sich verkehrt zu haben, dachte Mertyn, während sich der Zunftmeister des Wollenamtes Ruhe im Saal verschaffte. Hier standen sie nun, die vordem so stolzen Ratsherren, wie ein Häufchen Elender zusammengedrängt, bewacht von einer Schar Schwerbewaffneter, um sich vor dem Ausschuss der Zünfte für ihre Taten zu rechtfertigen.

Jetzt zeigte sich deutlich, aus welchem Holz jeder Einzelne von ihnen geschnitzt war. Einige seiner Amtskollegen wie Rheidt, Oldendorp und Berchem standen aufrecht und in furchtloser Würde, während andere vor Angst zitterten, die Hände rangen oder gänzlich in sich zusammengesackt waren. Dietrich Spitz, der Fuchs, war gar nicht erst erschienen.

Gespannte Stille breitete sich im Saal aus, als der Zunftmeister des Wollenamtes das Wort erhob. »Wir erklären Euch alle Eures Amtes für enthoben!«, verkündete er. »Jeder Einzelne von Euch hat sich nun seiner Taten zu verantworten. Rentmeister Johann van Berchem!«

Aufrecht, mit starrem Blick, trat van Berchem nach vorn.

»Euch wird zur Last gelegt, in der Rentenkammer schweres Geld angenommen und dafür leichtes ausgegeben zu haben.«

Mit lautem Murren taten die Zunftgenossen ihren Unmut kund. Eine Münze hatte aus genau der Menge an Silber oder Kupfer zu bestehen, die dem ihr aufgeprägten Wert entsprach. Sie musste folglich ein bestimmtes Gewicht haben. In der Rentkammer waren jedoch Münzen ausgegeben worden, die leichter gewesen waren als vorgeschrieben und somit von geringerem Wert. Was mit dem unterschlagenen Edelmetall geschehen war, hatte sich nicht feststellen lassen. Man konnte es nur vermuten. Das war schlichter Betrug!

»Habt Ihr Euch dazu zu äußern?«, fragte der Zunftmeister des Wollenamtes streng.

»Das ist blanker Unsinn!«, wies van Berchem den Vorwurf brüsk zurück. »Wenn so etwas in der Rentkammer geschehen sein soll, dann weiß ich nichts davon. Ich habe mich nicht selbst in die Stube gesetzt und das Geld abgewogen!« Der Hochmut des Rentmeisters schien trotz seiner schmachvollen Rolle als Beschuldigter vor dem Zunftausschuss nicht gelitten zu haben.

»Vielleicht hättet Ihr gut daran getan! Als Rentmeister seid Ihr dafür verantwortlich, was in der Rentkammer geschieht, ob Ihr selbst vor Ort seid oder nicht!«, belehrte ihn der Zunftmeister, bevor er zum nächsten Punkt auf der Liste der Vergehen kam: »Des Weiteren werfen wir Euch vor, dass Ihr Eurem Neffen Feugeler den Posten des städtischen Schwertträgers zugeschanzt habt.«

Abermals ertönte ein Murren seitens der Zunftgenossen.

»Zugeschanzt!«, schnaubte der Rentmeister. »Der Posten des Schwertträgers ist eine unehrliche Stellung. Wenn sich ein ehrlicher Mann dazu bereit erklärt, dieses Amt zu übernehmen, so ist das ein Glück für die Stadt. Wir hätten keinen besseren bekommen können.«

»Eine unehrliche Stellung, ja«, stimmte der Zunftmeister des Wollenamtes zu. »Aber eine, die mit erheblichen Einkünften versehen ist!«

»Ist das alles, was Ihr gegen mich vorzubringen habt? Nun, mir scheint, Ihr habt Euer Urteil längst gefällt«, entgegnete van Berchem. »So ist also der Pelz bereits mit mir verkauft!«

»Nicht wir, sondern die Schöffen werden ihr Urteil über Euch fällen«, berichtigte der Zunftmeister des Wollenamtes, ohne eine Miene zu verziehen. »Bis dahin werdet Ihr in den Turm gebracht.«

Als Nächsten rief man Bürgermeister Johann von Rheidt auf. Ihm legte man zur Last, er habe sich für gewisse Amtshandlungen oder dafür, dass er Aufträge im Namen der Stadt an bestimmte Leute vergeben hatte, Geld, Lebensmittel und Kleiderstoffe schenken lassen. Die Liste seiner Vergehen war lang, doch anders als van Berchem äußerte er sich zu keinem dieser Vorwürfe.

»Nun, Ihr werdet dazu schon noch Rede und Antwort stehen, wenn der Greve Euch befragt«, beschied ihm der Zunftmeister des Wollenamtes. »Bis dahin werdet auch Ihr in den Turm verbracht.«

Nach von Rheidt nahmen sich die Zunftgenossen Johann von Oldendorp vor, den zweiten Bürgermeister. Gegen ihn hatten sie keine konkreten Vergehen vorzubringen. Ganz allgemein beschuldigten sie ihn daher, die Bestimmungen des Verbundbriefes missachtet und sich der Schädigung des gemeinen Gutes schuldig gemacht zu haben.

In aufrechter Haltung, den Blick aufmerksam auf den Zunftmeister des Wollenamtes gerichtet, lauschte von Oldendorp der Anklage. Seine Miene ließ weder Furcht noch Zorn erkennen. Mit einer kleinen würdevollen Verbeugung nahm er den Spruch hin, als man auch ihm verkündete, man werde ihn in den Turm bringen.

Mertyn hoffte inständig, auch er selbst würde seine Würde zu wahren vermögen, wenn die Reihe an ihm wäre. Wenn schon einem so rechtschaffenen Mann wie von Oldendorp keine Gerechtigkeit wiederfuhr, dann war dies hier eine Farce, und die Urteile waren längst über sie gesprochen, dachte er und spürte, wie eine kalte Angst von ihm Besitz ergriff. Dann würde es für keinen von ihnen Gnade geben.

Mit Bernhard Eys, Jakob Spelz und Eberhard Kols, welche die Kirchenhoheit von Sankt Maria verletzt hatten, fuhr man fort. Einer nach dem andern traten Mertyns Ratskollegen vor, um sich die Vergehen, derer man sie für schuldig befand, anzuhören. »In den Turm!«, lautete das Urteil jedes Mal. »In den Turm, bis man Euch dem Greven zur Befragung überstellt!«

Befragung, das bedeutete die Folter. Sie alle würden ihre Taten gestehen, mochten sie jetzt auch noch lautstark protestieren, dachte Mertyn resigniert, und eine Woge aus Angst schlug über ihm zusammen. Er vermochte den Anklagen nicht länger zu folgen. »In den Turm. In den Turm.« Nur mehr schwach, wie durch dichten Nebel gedämpft, drangen die Worte des Zunftmeisters an sein Ohr.

»Mertyn Ime Hofe!« Wie der Stoß eines Dolches zerschnitt sein Name jäh den Nebel, der Mertyn umgab. Mit zitternden Knien trat er nach vorn.

 

Seit Stunden drehten Lisbeths Gedanken sich im Kreis, wechselten zwischen Hoffen und Bangen und verschwammen mit dem fahlen Licht, das durch ein schmales Fenster in die Kammer fiel, zu einem einzigen, trostlosen Brei.

Gegen Mittag hatte Sophie den Kopf zur Tür hereingesteckt. »Möchtest du zum Essen kommen, oder soll ich dir etwas heraufbringen?«

»Danke, mein Kind«, hatte Lisbeth abwesend geantwortet. »Ich bin nicht hungrig.«

»Soll ich dir Gesellschaft leisten?«

»Nein, Sophie. Das ist lieb von dir, aber lass mich noch ein Weilchen allein, ja?«

Unschlüssig war Sophie in der Tür stehen geblieben. »Es wird alles gut werden, Tante Lisbeth. Er kommt zurück, du wirst sehen«, hatte sie versichert. Doch in ihren Augen hatten Tränen geglitzert – auch sie hatte ihre Sorge um Mertyn nicht verbergen können.

»Ja, das wird er bestimmt«, hatte Lisbeth matt geantwortet.

Wenig drauf hatte Sophie ihnen einen Krug Wasser und frisch gebackenes Brot in die Kammer hinaufgebracht, doch während Andreas hungrig davon aß und Peter an einem knusprigen Kanten nagte, hatte Lisbeth es nicht vermocht, auch nur einen Bissen zu essen. Als Sophies Schritte auf dem Flur verklungen waren, war sie aufs Neue in dem Grau aus Hoffen und Bangen versunken.

Früh kroch die Dämmerung aus den Ecken der Kammer, doch Lisbeth hatte nicht die Kraft, ein Licht zu entzünden. Wenn ihr die Nacht zuvor bereits schrecklich und unendlich lang erschienen war, so war sie ein Nichts gegen diesen Dreikönigstag.

Am späten Nachmittag klopfte es energisch an das Tor. Das Hämmern drang bis in ihre Kammer hinauf, weckte die Jungen auf und riss Lisbeth aus ihrer Düsternis. Nun war es so weit, schoss es Lisbeth durch den Kopf. Nun kamen sie, um es ihr zu sagen!

Sie hörte die eiligen Schritte auf der Treppe, das Pochen gegen ihre Tür, dann die Stimme ihrer Schwester: »Lisbeth, du solltest herunterkommen!«

Wie gelähmt verharrte Lisbeth auf der Bettstatt. Nein! Das war alles, was sie denken konnte. Nein! Sie wollte es nicht hören. Es war nicht geschehen. Es durfte nicht sein!

Der kleine Andreas sprang auf, um die Tür zu öffnen, doch Lisbeth hielt ihn zurück. Er sollte es nicht auf diese Weise erfahren. Sie selbst würde ihm sagen, dass sein Vater nicht zurückgekehrt war. Sie würde versuchen, es ihm zu erklären, später, wenn sie es verstanden hatte.

Unendlich langsam erhob Lisbeth sich von ihrer Bettstatt und öffnete die Tür.

»Lisbeth, du solltest herunterkommen«, wiederholte Agnes. »Mertyn ist zurück!«

Ein Schluchzen der Erleichterung entfuhr Lisbeths Kehle. Tränenblind hastete sie die Treppe hinab. Mertyn stand neben dem steinernen Lavacrum in der Halle, wächsern im Gesicht, doch augenscheinlich unversehrt! Der Herrgott hatte ihr Flehen erhört!

Überwältigt von dem plötzlichen Wechsel von abgrundtiefer Angst zu unfassbarer Freude, warf Lisbeth sich ihrem Gemahl, lachend und weinend zugleich, in die Arme. Wieder und wieder musste sie ihn fest an sich drücken, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, dass ihr die Sinne, vernebelt durch die Stunden des Bangens, keinen Streich spielten und sie Mertyn tatsächlich in den Armen hielt.

 

»Der Ausschuss hatte eine Menge Klagepunkte gesammelt, die sie jedem Einzelnen von uns zur Last legten«, berichtete Mertyn später, als man in der Stube der Wolkenburg zu Tisch saß. In knappen Worten schilderte er, was sich in dem Hause Quattermarkt zugetragen hatte. Er wirkte matt und entkräftet. Dieser Tag war nicht vorbeigegangen, ohne bei ihm Spuren zu hinterlassen.

»Mich und einige andere, denen sie nichts vorzuwerfen hatten, ließen sie gehen und versicherten, dass wir vor weiterer Belästigung und Verfolgung sicher seien. Die anderen dagegen wurden in den Turm gebracht. Nur mit Johann von Oldendorp machen sie einen bitteren Fehler!« Müde strich Mertyn sich mit der Hand über das Gesicht. Die Erschütterung darüber war ihm deutlich anzumerken.

»Er ist ein anständiger Mann, das wissen die Herren vom Zunftausschuss sicher auch. Doch der Pöbel würde es ihnen nicht nachsehen, wenn sie bei einem Bürgermeister Milde walten ließen. Deshalb hat er wohl wenig Gerechtigkeit zu erwarten«, schloss er.

»Es ist unfassbar!«, empörte Andreas sich. »Da erheben sich ein paar wildgewordene Handwerker, erdreisten sich, eine Regierung zu bilden, und maßen sich an, über ordentliche Ratsherren, die aus angesehenen Familien stammen – zumindest die meisten von ihnen –, zu Gericht zu sitzen!«

Bedächtig wiegte Mertyn den Kopf. »In gewisser Weise hast du recht. Aber der Rat hat sich in den vergangenen Jahren nicht eben durch Rechtschaffenheit und weise Geschäftsführung ausgezeichnet.«

»Sag nur, du heißt es auch noch gut, was dieser Pöbel da veranstaltet!«, rief sein Schwager aufgebracht.

»Natürlich nicht. Aber vielleicht ist es der einzige Weg, endlich einen Rat zu bekommen, der wirklich im Sinne der Bürger handelt.«

»Indem man alle alten Ratsherren aufknüpft!«

»Bei Gott! Nein! In meinen Augen würde der Gerechtigkeit Genüge getan, wenn man die Schuldigen ihres Amtes entheben und sie mit Geldstrafen belegen würde. Der eine oder andere mag vielleicht Schlimmeres verdient haben. Doch ich fürchte, für milde Strafen ist es jetzt zu spät. Dazu haben wir es zu weit kommen lassen.«

 

Am nächsten Morgen machten Mertyn und Lisbeth sich mit Hilfe von Mathias und den Mägden im Haus Zur Roten Tür daran, die Verwüstungen, die der Pöbel angerichtet hatte, zu beseitigen. In der Küche fehlten zwar einige Töpfe und Tiegel und die meisten Lebensmittel aus der Speisekammer, doch viel hatten die Plünderer nicht davongetragen. Gewissenhaft waren sie bei ihrer Suche nicht vorgegangen. Bis in die oberen Geschosse des Hauses und zur Werkstatt waren sie zum Glück nicht gelangt, wohl aber in Mertyns Kontor, wo sie einen Teil der Folianten aus den Regalen gerissen und auf dem Boden verstreut hatten.

In der Stube hatten sie ihre Wut darüber, nichts von Wert vorgefunden zu haben, ausgelassen. Den Tisch hatten sie umgestürzt, einige der Stühle zerschlagen und das Regal mit den Trinkbechern von der Wand gerissen. Die farbigen Kissen, die zuvor die Bank geziert hatten und die von Lisbeth und Katryn in jahrelanger Arbeit bestickt worden waren, hatten sie aufgeschlitzt, und die Federn fanden sich im ganzen Raum verteilt. Doch hier hatten die Mägde die größte Unordnung bereits beseitigt.

Wie im Haus Zur Roten Tür gingen die Bürger in der ganzen Stadt daran, die Verwüstungen an Häusern und Gärten zu beheben, reparierten zerbrochene Türen und ersetzten eingeschlagene Fenster.

Auch der Zunftausschuss auf dem Quattermarkt beeilte sich, Ordnung zu schaffen und der Stadt eine neue Regierung zu geben, damit alsbald wieder Ruhe und Frieden einkehre. Daher waren schon früh an diesem Morgen die alten Ratsherren, sowohl die eingekerkerten als auch die freigelassenen, durch neue ersetzt worden. Gegen elf Uhr führte man die Neugewählten in die Ratskammer, wo sie Gerhard vom Wasserfasse und Johann Rinck zu neuen Bürgermeistern wählten, und bereits zu Mittag versammelte sich der neue Rat zu seinem ersten Mahl im Rathaus.

Als Beweis dafür, dass er beabsichtige, die Belange der Stadt in Übereinstimmung mit dem Wunsch des Volkes zu vertreten, befahl der neue Rat, nach denjenigen der alten Ratsherren, die sich nicht dem Zunftausschuss auf dem Quattermarkt gestellt hatten, zu fahnden und sie zu ergreifen, falls nötig, sogar an geweihten Orten und in geistlichen Hoheitsgebieten. Sobald man die flüchtigen Ratsherren gefasst und in den Turm gesperrt hatte, begannen im Keller des Greven Johann Edelkind die Verhöre.

Den Fuchs traf es als Ersten. Man hatte ihn im Kloster zu den weißen Frauen verhaftet, mit herabgelassenen Hosen auf der Latrine hockend. All seine Schläue hatte Dietrich Spitz nicht helfen können.

Früh am Morgen des zehnten Januar gestand er unter der Folter seine Vergehen. Nicht nur, dass er beim Eindringen in das Hoheitsgebiet von Sankt Maria Rädelsführer gewesen war, sondern auch, dass er sich zahlreiche andere Missetaten hatte zuschulden kommen lassen, die den Bürgern und der Stadtkasse zu erheblichem Schaden gereichten. Dass der Fuchs auf einem städtischen Grundstück seinen privaten Hopfengarten angelegt hatte, war darunter das bei weitem Harmloseste.

Spitz gab zu, dass er für seine Vergehen den Tod verdient habe, und die Schöffen fällten ihr Urteil rasch.

Auf dem Heumarkt, gegenüber dem Sassenhof, hatte man ein Gesteiger errichtet, das Podest alsdann mit Sand bedeckt und mit schwarzen Tüchern behangen. Die Zünfte hatten sich bewaffnet, und eine große Menge Volkes war zusammengeströmt, um seinen Blutdurst zu stillen und Zeuge zu werden, wie der Fuchs seine gerechte Strafe erhielt.

Eine Gruppe Bewaffneter bahnte sich ihren Weg durch die johlende Menge und eskortierte Spitz zu dem Gerüst, wo man inmitten von brennenden Kerzen bereits einen Sarg für seinen Leichnam bereitgestellt hatte. Der Anblick des Sarges nahm dem Fuchs die wenige Kraft, die ihm nach der Folter geblieben war. Er strauchelte, und man musste ihn die Stufen zum Gesteiger hinaufhelfen.

Spitz erhielt die Sterbesakramente, und bleich vor Angst bat der dem Tode Geweihte die Gemeinde darum, für ihn zu beten. Dann kniete er nieder, man verband ihm die Augen, und Schwertträger Feugeler hob sein Schwert. Die Menge verstummte und hielt den Atem an.

Die Unerfahrenheit in seinem Geschäft trachtete Feugeler mit Kraft auszugleichen. Mit schwungvollem Hieb trennte er Spitz den Kopf vom Rumpf. Jubel ertönte, um sogleich wieder vor Grausen zu verstummen: Feugeler hatte es mit der Wucht des Hiebes wohl übertrieben, denn der Kopf des Fuchses rollte unaufhaltsam über den ganzen Gesteiger und fiel an seinem Ende vom Gerüst herab in die Menge.

Unbedacht packte ein Fassbinder das Haupt des Getöteten und warf es zurück auf das Podest. Mitsamt seinem Kopf wurde der Leichnam von Dietrich Spitz in den Sarg gelegt und auf dem Kirchhof von Sankt Martin beerdigt.

Dem Fassbinder sollte seine unüberlegte Tat zum Verhängnis werden. Er hatte in die Arbeit des Henkers eingegriffen und war damit gleich diesem unehrlich geworden. Tags drauf schloss man ihn dafür aus seiner Zunft aus.

Rat und Zünften wäre es mit der Hinrichtung des Fuchses genug des Blutvergießens gewesen, doch der Pöbel, der immer noch die Stadt terrorisierte, verlangte nach weiteren Sühneopfern.

Zur Fortsetzung des blutigen Geschäftes wurde daher am nächsten Morgen auf dem Flachskaufhaus die Folterbank aufgestellt und als Erster Rentmeister Johann van Berchem peinlich befragt. Auch er war geständig und bat einzig um eine ehrenvolle Hinrichtung.

Nachdem er die Nacht im Keller des Greven verbracht hatte, wurde er am andern Morgen vor das hohe Gericht geführt und an den blauen Stein gestoßen. Unter starker Bewachung geleitete man ihn daraufhin zum Heumarkt.

Anders als der Fuchs, stieg der Rentmeister würdevoll auf das Blutgerüst. In ein reichbesticktes, seidenes Wams und den scharlachroten Mantel des kölnischen Bürgermeisters, des Amtes, das er fünf Mal innegehabt hatte, gekleidet, bot er noch immer eine imposante Erscheinung. Die Folter hatte den stattlichen, hochgewachsenen Mann nicht wesentlich geschwächt.

An dem Gesteiger hatte man inzwischen ein Geländer angebracht, damit sich das grausige Schauspiel vom vorvergangenen Tag nicht wiederholen und noch einmal ein Kopf vom Blutgerüst hinunterrollen konnte. Doch die Hinrichtung des Johann van Berchem folgte ihrer eigenen Tragik, denn man hatte auch ihm zugestanden, dass er nicht mit dem Schwert des gemeinen Henkers, sondern vom Stadtschwertträger enthauptet würde.

Kaum hatte van Berchem das Podest erklommen, als Feugeler zu ihm trat, just jener Neffe, dem er zu seinem Amt verholfen hatte. Was dem Rentmeister zuvor zum Verhängnis geworden war, geriet ihm nun zum Grauen.

»Herr Gevatter, verzeiht mir«, sprach der Stadtschwertträger mit Tränen in den Augen, und die Umstehenden spitzten die Ohren. »Dass ich dies tun muss, tut mir herzlich leid.«

Mit fester Stimme antwortete Berchem: »Tu du nur, was dir befohlen ist.« Er kniete nieder, ordnete die Falten seines Umhangs und machte sich bereit, den tötenden Streich zu empfangen.

Feugeler jedoch zog zunächst sein Schnupftuch, um sich die Tränen fortzuwischen, bevor er das Richtschwert ergriff. Ihn hatte aller Mut verlassen. Endlich hob er das Schwert zum Streich, doch seinem Hieb fehlte die Kraft. Es gelang ihm nicht, seinem Gevatter mit einem Schlag das Haupt abzutrennen.

Die Menge stöhnte entsetzt auf. Das war wahrlich ein böses Omen!

Der Henker, der bei Feugeler gestanden hatte, sprang hastig herbei und trennte Berchems Kopf vollständig vom Leib.

Zur Stunde noch trug man den Leichnam des Johann van Berchem in der Kirche des Gertrudenklosters am Neumarkt zu Grabe.

Das Haupt des Bürgermeisters Johann von Rheidt fiel am nächsten Tag. Auch das Flehen seiner Gemahlin, die um ihrer sieben Kinder willen den Zunftausschuss fußfällig um Gnade für sein Leben gebeten hatte, hatte ihn nicht retten können. Nur wenige Stunden später folgte ihm Johann von Oldendorp, der zweite Bürgermeister, in den Tod.

Drei Tage ruhte das Schwert, dann ließen vier weitere Ratsherren ihr Leben. Die Urteilssprüche kamen eher einem Akt der Rache gleich, als sühnender Gerechtigkeit.

Mit den restlichen Ratsherren verfuhr man gnädiger: Heinrich Benrath wurde in den Kax gesperrt, jenen Käfig auf dem Neumarkt, wo er dem allgemeinen Spott und der Belustigung des Volkes preisgegeben und danach mit Ruten aus der Stadt getrieben wurde.

Anderen erlegte man Geldstrafen auf.

Als der Blutdurst des Pöbels endlich gestillt war, feierten die Bürger mit einer pompösen Prozession, die in einem festlichen Dankgottesdienst gipfelte, das Ende der Aufstände. Inständig baten sie ihren Herrn und Schöpfer, dass nun wieder Ruhe und Frieden in der Stadt einkehren mögen.