9. Kapitel
Weit weniger geheim als die Zusammenkunft im Goldenen Krützchen war die Versammlung, zu der Dres van der Sar für diesen Nachmittag geladen hatte. Ein gutes halbes Jahr war vergangen, und der ehrenwerte Rat der Stadt Köln hatte – wie zu erwarten – den Seidmacherinnen die Genehmigung verweigert, einen Seidenstoff mit leinenem Einschlag herzustellen.
Eine Weile hatte man zwar noch in den Reihen der weniger begüterten Seidmacherinnen gemurrt, doch keiner hatte dem größere Aufmerksamkeit geschenkt, und bald schon hatte man sich anderen Dingen zugewandt. Der Parger konnte also sicher nicht der Grund dafür sein, weshalb man heute ganz offiziell die Meisterversammlung einberufen hatte – zum ersten Mal seit langem.
Es war der erste Frühlingstag, der diesen Namen verdiente, und die Damen nutzten fast ausnahmslos die Gelegenheit, ihre neue Garderobe zu präsentieren, stellte Lisbeth fest, als sie in den Saal der van der Sars im Obergeschoss des Hauses Zum Großen Schuh trat. Sie selbst hatte sich für ein Überkleid in der Farbe reifer Äpfel entschieden, das reich bestickt war und dessen weite Ärmelschlitze den leichten lindgrünen Taft des Unterkleides sehen ließen.
Und so gerieten über den Ahs und Ohs, mit denen die Damen die neuesten Machwerke der Schneider bedachten, die Spekulationen über den Anlass dieser Zusammenkunft in den Hintergrund.
An der Stirnseite des Saales hielt Brigitta van Berchem Hof, umgeben von einem Grüppchen aufgeregter Frauen. Hinter ihr, die Arme vor der schmalen Brust verschränkt, stand ein junges Mädchen mit grau-grünen Augen und spitzem Kinn – Jacoba. Bei Brigitta also hatte das undankbare Lehrmädchen von Clairgin seine Lehrzeit beendet, dachte Lisbeth. Vermutlich war Jacoba bei Brigitta geblieben und arbeitete nun für sie um Lohn. Erst jetzt, bei Jacobas Anblick, entsann Lisbeth sich ihres Vorsatzes, mit Clairgin über das Lehrmädchen zu sprechen. Sie hatte es über den Tod des alten Hans Her und über ihren eigenen Kummer ganz vergessen, doch jetzt war es dafür natürlich viel zu spät.
Suchend blickte Lisbeth sich nach der Freundin um, doch sie konnte Clairgin nicht zwischen den versammelten Seidmacherinnen ausmachen.
In dem Moment trat Brigitta van Berchem, flankiert von ihrer Schwester Gunda, Frieda Medman und Dres und Mechthild van der Sar, in die Mitte des Saales. Augenblicklich verstummten die Gespräche, und gespannt wandte man sich der einstigen Amtsmeisterin zu.
Deren Miene zeigte Strenge. »Zu unserem großen Bedauern mussten wir erfahren«, hob sie an, »dass sich eine von uns dreist und selbstsüchtig über die Zunftordnung hinweggesetzt hat, um sich schamlos zu bereichern.« Brigitta schöpfte Luft, wohl wissend, dass sie die Spannung der Anwesenden damit erhöhte. Ganz still war es. Selbst Gunda begnügte sich angesichts dieser Ungeheuerlichkeit mit einem Nicken, so dass das Tschilpen eines Spatzes, das durch das geöffnete Fenster vom Hof heraufdrang, ungebührlich laut erschien.
»Frau van Breitbach«, rief Brigitta energisch.
Lisbeth schlug die Hand vor den Mund und konnte nicht umhin, wie alle anderen auf der Suche nach der Genannten sich umzuschauen.
In der Nähe der Tür wichen die Frauen auseinander und bildeten eine schmale Gasse, durch die sie Clairgin zwar nicht grob, doch mit Bestimmtheit nach vorn schubsten, bis sie vor Brigitta zu stehen kam.
Entsetzt starrte Lisbeth die Freundin an. Anders als die meisten Damen schien Clairgin die Versammlung nicht zum Anlass genommen zu haben, ein neues Frühlingskleid vorzuführen. Sie trug ein schlichtes erdfarbenes Kleid aus dem Vorjahr, das an Saum und Ärmeln schwarz gepaspelt war, ganz so, als wolle sie sich auch dem Äußeren nach von ihren Zunftkolleginnen unterscheiden.
Ihr ovales Gesicht war bleich, und ihre Lippen zusammengepresst. Zu Lisbeths Erstaunen hielt sie den Kopf nicht schamhaft gesenkt, sondern erwiderte trotzig die missbilligenden Blicke ihrer Zunftgenossinnen.
»Ihr seid beobachtet worden, wie Ihr Rohseide nach Deutz geschmuggelt habt, um sie dort zu geringerem Preis spinnen zu lassen«, hielt Brigitta van Berchem ihr vor.
Clairgin nickte. Sie machte sich gar nicht die Mühe, zu leugnen.
Brigitta verschlug es für einen Moment die Sprache. Schließlich fragte sie konsterniert: »Ihr wisst nicht, dass Ihr damit unsere fleißigen und ehrlichen kölnischen Seidspinnerinnen um ihr Brot bringt?«
»Doch.« Clairgins Stimme klang fest.
Brigitta kämpfte mit der Fassung. »Darauf steht der Ausschluss aus der Zunft.« Ihr Schnarren erklomm ungekannte Höhen.
Ein Raunen stahl sich durch den van der Sarschen Saal.
Ausschluss aus der Zunft! Das wäre eine Katastrophe für Clairgin, dachte Lisbeth entsetzt. Es käme dem Verbot gleich, ihren Beruf auszuüben, denn weder Seidspinnerinnen noch Seidfärber durften für nichtzünftige Seidmacherinnen arbeiten. Womit sollte Clairgin dann künftig ihr Brot verdienen, fragte Lisbeth sich. Schließlich hatte sie zwei kleine Töchter und anders als die meisten hier keinen gutverdienenden Händler zum Mann.
Lisbeth war nicht die Einzige, der die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben stand. Katharina Loubach, die ihr gegenüberstand, Veronika van Herten und Genovefa van Wychtericht schienen nicht weniger berührt. Nur die Miene von Mechthild, der Gattin von Dres van der Sar, zeigte ein selbstgerechtes Lächeln.
Nun verteidige dich doch, flehte Lisbeth stumm die Freundin an und krampfte die Finger ineinander. Doch Clairgin nickte erneut. Ihre Miene war unbewegt. Wie konnte sie diese Strafe einfach so hinnehmen?
Das Raunen schwoll zu einem Stimmengewirr. Der Unmut einiger Seidmacherinnen war fast greifbar, und es dauerte eine geraume Weile, bis endlich wieder Ruhe im Saal einkehrte. Eine gespannte Ruhe, in der sich aller Augen auf Brigitta van Berchem richteten. Lisbeth hielt vor Anspannung die Luft an.
Als das Raunen zur Gänze verstummt war, breitete Brigitta wohldosiertes Mitgefühl über ihr Gesicht und ergriff erneut das Wort. »Trotzdem sollten wir Milde walten lassen«, verkündete sie. »Ich denke, im Sinne aller zu handeln, wenn wir dich nicht der Zunft verweisen.«
Zustimmendes Murmeln bestätigte ihre Worte, und Lisbeth atmete erleichtert auf.
Für einen winzigen Moment kräuselte ein flüchtiges, beinahe spöttisches Lächeln Clairgins Lippen, und es schien Lisbeth, als habe die Freundin mit genau diesem Vorgehen Brigittas gerechnet.
»Doch Strafe muss sein!«, verkündete diese schnarrend. »Der Seide, die du in Deutz hast spinnen lassen, gehst du natürlich verlustig.« Scharf fasste sie Clairgin ins Auge. »Ich darf davon ausgehen, dass es nicht weniger war als ein Zentner?«
Clairgin antwortete nicht. Schweigend erwiderte sie Brigittas Blick, und schlagartig wurde Lisbeth klar, dass die Freundin genau wusste, was sie tat. Dass sie die Seide aus der Stadt geschafft hatte, war wohl nicht zu leugnen gewesen. Dafür gab es sicher Zeugen. Doch jetzt ging es um das Strafmaß, und Clairgins Schweigen ließ Lisbeth ahnen, dass es weit mehr als der von Brigitta geschätzte Zentner gewesen sein mochte. Doch mehr konnte Brigitta Clairgin anscheinend nicht nachweisen.
»Einen Zentner also!«, entschied Brigitta. »Den hast du abzuliefern. Der Verkaufserlös geht zur einen Hälfte in die Zunftkasse, zur anderen Hälfte an die Städtische Rentkammer.«
Ein Zentner Seide! Das war die Menge, die Clairgin etwa in einem ganzen Monat verwebte, dachte Lisbeth. Die Rohseide allein hatte einen Wert von zweihundertfünfzig Gulden. Dazu kam der Lohn, den Clairgin an die Spinnerinnen auf der anderen Rheinseite gezahlt hatte. Von der Arbeit ganz zu schweigen, wenn sie die gesponnene Seide gar schon verwebt hatte. Es war eine empfindliche Strafe für Clairgin, doch war das Allerschlimmste abgewendet worden.
Aufrecht, mit unbewegter Miene nahm Clairgin das Urteil entgegen.
Nachdem sich die Versammlung im Hause van der Sar aufgelöst hatte, holte Lisbeth Clairgin in der Gasse ein. »Da bist du ja noch einmal gut davongekommen! Wie konntest du das nur tun?«, fragte Lisbeth die Freundin schroffer als beabsichtigt. Die Erleichterung darüber, dass Clairgin mit einer vergleichsweise milden Strafe davongekommen war, hatte Lisbeths Sorge in Ärger verwandelt.
»Davongekommen?«, fragte Clairgin höhnisch. »Davongekommen nennst du das?« Abrupt blieb sie stehen und blickte Lisbeth verächtlich an.
»Immerhin haben sie dich nicht aus der Zunft geworfen!«
»Natürlich nicht. Was hättet ihr auch davon? Im Gegenteil. Es ist doch viel praktischer, uns ärmere Seidmacherinnen mit drastischen Geldstrafen zu belegen. Dann können wir uns die Rohseide nicht mehr leisten und müssen, statt auf eigene Rechnung zu arbeiten, für euch Reiche um Lohn wirken. Ist doch ein guter Weg, uns in eure Abhängigkeit zu bringen!«
»Warum hast du denn auch in Deutz spinnen lassen? So etwas muss doch irgendwann auffallen!«
»Alle machen es. Du machst es doch auch!«
»Was? Seide auswärts spinnen lassen? Nein, sicher nicht.«
»Nun, dann gibst du sie halt den Beginen zum Spinnen oder tust andere Dinge, die gegen die Zunftordnung verstoßen. Wie viele Lehrtöchter hast du jetzt? Sechs? Acht?«
»Die Regeln haben sich gelockert. Es ist nicht mehr so streng wie zu Zeiten meiner Mutter. Ich bin nicht die Einzige, die mehr als vier Lehrtöchter hat. Die Berchem-Schwestern, Frieda Medman …« Lisbeth verstummte, als zwei Dienstmägde, die mit gefüllten Körben vom Markt zurückkehrten, ihren Schritt verlangsamten und sich interessiert nach ihnen umwandten. Frauen, die sich auf der Straße zankten, waren kein ungewohnter Anblick. Anders jedoch, wenn es sich, zumindest bei einer von beiden, ganz offensichtlich um Damen aus den vornehmen Häusern der Stadt handelte.
Bitter fuhr Clairgin fort: »Ja, für dich ist es ein Leichtes, gegen die Regeln zu verstoßen. Wenn du erwischt wirst, dann zahlst du einfach die Strafe. Aber du wirst ja nicht einmal erwischt. Weil keiner je wagen würde, der großen Frau Ime Hofe zu nahe zu treten. Oder der Frau Medman oder den Nichten des Bürgermeisters.«
Die Mägde blieben wenige Schritt entfernt stehen, stellten ihre Körbe in den Staub und gafften sie unverhohlen an. Mit einem Mal wurde Lisbeth sich der Peinlichkeit der Szene, die sie boten, unangenehm bewusst.
Doch die sonst so sanftmütige Clairgin schien, einmal in Rage geraten, nicht mehr zu bremsen zu sein. Sie war kaum wiederzuerkennen in ihrem Zorn, und niemals hätte Lisbeth ihr einen derart heftigen Ausbruch zugetraut. Herausfordernd funkelte Clairgin sie an. »Ist dir schon einmal aufgefallen, dass es nur wir ärmeren Seidenweberinnen sind, die erwischt und bestraft werden? Wann wäre je eine Frau van Berchem belangt worden? Von wem auch? Es gibt nicht einmal mehr einen Zunftvorstand!«
»Die Gesetze der Zunft schützen uns alle.« Lisbeth spürte selbst, wie hohl ihre Worte klangen.
»Welche Zunft? Die Zunft, in der jede Seidmacherin vor einem gewählten Zunftvorstand ihr Recht einfordern kann? Die Zunft, deren Gesetze jedem ihrer Mitglieder das Einkommen sichert? Diese Zunft von einst, die gibt es nicht mehr. Schon längst nicht mehr!«
»Kein Wunder, wenn alle so denken …«
Für einen Moment presste Clairgin die Lippen zusammen. Dann brach es aus ihr hervor: »Meinst du etwa, ich habe es aus Spaß getan? Ich kann mir die Löhne der kölnischen Seidspinnerinnen nicht mehr leisten! Ich muss jeden Pfennig sparen, um überhaupt Rohseide kaufen zu können. Du und eine Handvoll anderer, ihr kauft die Seide in großen Mengen auf. Uns Ärmeren bleibt nur der klägliche Rest, und der lohnt oft kaum die Mühe des Webens. Mit schlechter Ware verdienen wir kein Geld, also können wir uns noch weniger Rohseide leisten. Es ist ein Teufelskreis, in den ihr uns treibt. Und mit solchen Strafen« – mit dem Kinn deutete Clairgin vage in Richtung des van der Sarschen Hauses – »gebt ihr uns den Rest!«
Lisbeth öffnete den Mund für eine Entgegnung, doch Clairgin ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das hat doch Methode. Ihr seid erst zufrieden, wenn wir alle für euch um Lohn weben. Damit ihr immer reicher und fetter werdet.«
Entgeistert starrte Lisbeth Clairgin an. »Das ist doch absurd!«, entgegnete sie. »Als ob ein paar reiche Seidmacherinnen dich und andere absichtlich ins Elend stürzen, damit ihr für sie um geringen Lohn webt!«
»Was heißt sie? Meine Güte, Lisbeth! Du bist nicht besser als sie, du bist eine von ihnen!«, sagte Clairgin scharf. »Aber wenn du nicht einmal das verstehst, dann will ich mit dir nichts mehr zu schaffen haben!« Abrupt wandte Clairgin sich ab und ließ Lisbeth in der Gasse stehen.
Die beiden Mägde starrten ihr hinterdrein. Die hatte es der feinen Dame aber gegeben! Zufrieden nahmen sie ihre Körbe auf und schlenderten von dannen.
Aufgebracht lief Lisbeth zurück ins Haus Zur Roten Tür. Was Clairgin ihr da vorwarf, war einfach nicht wahr! Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Lisbeth die Stiege hinauf in ihre Kammer. Die Freundin war nur verärgert über die Bestrafung, dachte sie und zog sich ungestüm die Haube vom Kopf. Doch an ihr musste Clairgin ihre Wut nicht auslassen! Mit hastigen Bewegungen streifte Lisbeth das apfelfarbene Oberkleid ab und zerrte an der Schnürung des Untergewandes. Clairgin hatte zwar im Zorn gesprochen, doch nie wäre Lisbeth auf die Idee gekommen, Clairgin neide ihr den Erfolg.
Schnell hatte Lisbeth sich ihres neuen Kleides entledigt und warf es achtlos auf die Bettstatt. Sie hatte die Freude daran verloren. Stattdessen nahm sie ihr graues Alltagskleid vom Haken und schlüpfte hinein, wand sich ein schlichtes Tuch um das Haar und eilte die Stiege hinab.
In der Werkstatt wechselten ihre Weberinnen erstaunte Blicke, als sie eines der Lehrmädchen von seinem Webstuhl vertrieb und sich selbst auf der harten Holzbank niederließ. Fest trat Lisbeth das Pedal. Die Fäden an den Litzen hoben die Kettfäden, und es bildete sich ein Fach. Lisbeth griff nach dem Schiffchen, das auf dem schmalen Streifen Gewebe vor ihr ruhte.
Sie wolle andere Seidmacherinnen in ihre Abhängigkeit bringen, hatte Clairgin ihr vorgeworfen – so ein Unsinn! Behende ließ sie das Schiffchen durch das Fach zwischen den Kettfäden gleiten. Hatte sie sich nicht selbst dafür eingesetzt, dass es den weniger begüterten Seidmacherinnen gestattet würde, halbseidenen Parger herzustellen?
Mit einem Ruck zog Lisbeth die Kammlade zu sich heran und blickte missbilligend auf das Gewebe. Der Faden hatte sich nicht perfekt an den vorherigen geschmiegt. Sie war nicht mehr recht in Übung. Energisch zog sie die Lade noch einmal nach. Wieder trat Lisbeth das Pedal, und die Kettfäden hoben sich um zwei Fäden versetzt. Sie schob das Schiffchen durch das Fach und zog den Kamm an – schon besser.
Faden um Faden webte sie, und eine nach der anderen wandten sich die Weberinnen und Lehrmädchen wieder ihrer Arbeit zu.
Lisbeths Bewegungen wurden immer sicherer, und mit jedem Faden, den das Gewebe an Breite gewann, lichtete sich der Zorn, der sie wie eine dunkle Wolke umhüllte. Es stimmte, dass mehr und mehr der ärmeren Seidmacherinnen für die reichen Seidmacherinnen im Verlag webten, musste sie widerwillig zugeben. Auch für sie. Und die Frauen taten es sicher nicht aus Spaß, sondern weil sie sich die Rohseide nicht mehr leisten konnten. Heftiger als nötig zog Lisbeth die Kammlade zu sich heran.
Doch anders als die angestellten Weberinnen, die keinerlei Kosten hatten, sondern in den Werkstätten ihrer Dienstherrinnen arbeiteten, trugen die für eine Verlegerin arbeitenden Seidmacherinnen das ganze Risiko einer selbständigen Meisterin: Sie mussten für den Unterhalt ihrer Lehrtöchter aufkommen, sie nähren und kleiden, gleich, ob diese fleißig oder faul, gesund oder krank waren, und hatten dafür Sorge zu tragen, dass ihre Webstühle und alles andere benötigte Arbeitsgerät einsatzbereit war. Und für all diese Mühe erhielten sie nur den gewöhnlichen Weblohn, nicht aber den Gewinn aus dem Verkauf des fertigen Stoffes. Gerecht war das sicher nicht!
Mitten in der Bewegung hielt Lisbeth inne, das Schiffchen lose in der Rechten. War sie so mit sich und ihrer eigenen Weberei beschäftigt gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, was um sie herum geschah? Tatsächlich hatte sie nur an sich gedacht, an ihre eigene Weberei und deren Fortkommen, hatte die Zunftregeln übertreten, wenn es ihr zuträglich war. Unbewusst kratzte sie mit dem Fingernagel über das Holz des Schiffchens.
Sie ließ Zunftgenossinnen im Verlag arbeiten. Sie beschäftigte mehr Lehrmädchen, die den anderen fehlten, um mehr Seide verarbeiten zu können, die den anderen fehlte, um Geld zu verdienen – noch mehr Geld –, das andere bitter nötig zum Leben brauchten! Daran, dass dies anderen Seidmacherinnen zu Schaden gereichte, hatte sie nicht gedacht.
Betroffen biss Lisbeth sich auf die Lippe. Seit dem Jahr 1437, als die kölnischen Seidenweberinnen auf eigenen Antrag hin vom Rat der Stadt ihren ersten Amtsbrief erhalten hatten, sicherten die Zunftgesetze ihr aller Auskommen. Sie schützten sie gegen auswärtige Konkurrenz und erhielten den guten Ruf ihrer Waren, indem sie ihre Mitglieder zu bester Qualität verpflichteten.
Die Nachfrage nach kölnischen Seidenstoffen war groß genug, dass alle Seidmacherinnen ausreichend Arbeit hatten, dessen war Lisbeth sich sicher. Das zeigte sich schließlich Jahr für Jahr auf den Messen in Frankfurt und Antwerpen. Weder sie selbst noch die Berchem-Schwestern, Mechthild van der Sar, Katharina Loubach oder Frieda Medman, keine von den reichen Seidmacherinnen würde Mangel leiden, keine äße eine Schinkenseite weniger, wenn sie auch den anderen ihr Auskommen ließe. Clairgin hatte recht mit ihren Vorwürfen. Es war reine Habgier!
Entsetzt ließ Lisbeth das Schiffchen fahren und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte das alles nicht mit Absicht betrieben. Doch sie hatte es geschehen lassen. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt! Und in ihrer Selbstgerechtigkeit hatte sie auch noch gedacht, sie hätte keine Schuld auf sich geladen! War Hoffart denn keine Todsünde?
Auch Clairgin war nach ihrem Streit mit Lisbeth aufgebracht und viel zu erregt, um auf direktem Weg nach Hause zu gehen. Trotz, Wut und Enttäuschung ließen sie ziellos durch die Gassen laufen.
Der Strafe würde sie sich nicht entziehen können, auch wenn sie noch so schwer zu verkraften wäre. Sie würde die Seide abliefern müssen, sonst würde man sie holen. Und sie wusste, die Wachleute wären nicht zimperlich …
Ein Zentner gesponnene Seide, das war ein nicht unbeträchtlicher Verlust. Doch so schnell würden die feinen Damen vom Seidamt sie nicht in die Knie zwingen. Sie könnte ihr letztes Lehrmädchen entlassen, überlegte Clairgin. Es war rege und anstellig, und sicher wäre es ein Leichtes für das Mädchen, eine neue Lehrherrin zu finden. Sie würde es vermissen, doch dann hatte sie nur noch für sich und ihre Töchter zu sorgen. Susanna, ihre älteste Tochter, war vor wenigen Wochen fünf Jahre alt geworden und ein ruhiges, verständiges Kind. Vielleicht würde sie ihr ein wenig zur Hand gehen können. Sie musste halt sehen, wie es weiterging.
Die Ungerechtigkeit der Strafe, die man ihr auferlegt hatte, das Messen mit zweierlei Maß, wie es mittlerweile im Seidamt zur Gepflogenheit geworden war, ärgerten Clairgin ungemein. Doch schwerer noch wog die Enttäuschung über Lisbeths Reaktion. Clairgin hatte immer gedacht, Lisbeth sei ihre Freundin, aber sie schien sich geirrt zu haben. Lisbeth und sie kamen aus verschiedenen Welten. Und eine Frau Ime Hofe, für die Geld noch nie eine Rolle gespielt hatte, konnte die Dinge wohl nur aus ihrer Sicht betrachten: von oben herab. Die Enttäuschung trieb Clairgin Tränen des Zorns in die Augen.
»Womit hat denn dieser wundervolle Frühlingsabend Euren Zorn verdient?«
»Bitte?« Clairgin blickte auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Schritte sie auf den Alter Markt geführt hatten. Die Händler hatten für diesen Tag ihre Stände abgebaut und die Laden ihrer Geschäfte hochgeklappt. Der Rathausturm warf seinen langen Schatten auf das Pflaster, und die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern der schmalen Häuser auf der Ostseite des Platzes.
Der Mann, der lächelnd am Türrahmen des Goldenen Krützchens lehnte, wiederholte seine Frage, und erst jetzt erkannte Clairgin Rudolf van Bensberg.
Hastig wischte sie die Tränen aus dem Gesicht, und ehe sie sichs versah, hatte Rudolf sie in die fast leere Schankstube geführt. Nur wenige frühe Zecher standen um diese Zeit am Schanktisch. Es waren die stets unentwegten, die bereits ab Mittag ihr Geld in den Weinzapf trugen.
Ohne ihrem Widerspruch Beachtung zu schenken, nötigte Rudolf Clairgin an einen Tisch. Auf seinen Wink hin eilte eine junge Frau herbei, die dem Ruf gerecht wurde, das Krützchen habe die hübschesten Schankmädchen der Stadt. Lasziv wiegte sich die Schankmagd in den Hüften, als sie zwei gefüllte Becher auf den Tisch stellte, und bedachte Clairgin mit misstrauischem Blick.
Clairgin ergriff ihren Becher, drehte ihn in den Händen, und Rudolf wartete ruhig ab, bis sie einen tiefen Schluck genommen hatte. Dann sagte er sanft: »Nun erzählt.«
Mehr als dieses sachten Anstoßes bedurfte es nicht, und stockend zunächst, dann immer leidenschaftlicher, bahnten sich Clairgins Enttäuschung, ihre Wut und nicht zuletzt ihre Sorge einen Weg. Unterbrochen von Schluchzern, berichtete sie Rudolf, was gerade im Hause der Van der Sars geschehen und wie es zu ihrem Streit mit Lisbeth gekommen war.
Es tat Clairgin gut, sich den Ärger von der Seele zu reden. Und in Rudolf hatte sie einen aufmerksamen Zuhörer gefunden, der sie nur gelegentlich mit einer Frage unterbrach.
»Ja«, stimmte er schließlich zu, als sie geendet hatte, und nickte bedächtig. »Es ist vieles anders geworden im Seidamt. Und nicht zum Besseren: der Verlag, die Beginen, die Entlohnung mit Stoffen statt mit Geld … Aber es ist sehr schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Manche der Damen haben Verwandte mit großem Einfluss im Rat.«
»Woher wisst Ihr so viel über die Seidmacherzunft?«, fragte Clairgin erstaunt.
»Ich habe einmal eine Seidenweberin geliebt«, antwortete er leise, und Clairgin entsann sich des Neujahrsfestes in der Wolkenburg, als er sich haltlos betrunken hatte, weil Fygen ihm eröffnet hatte, sie reise nach Valencia. Wie schmerzlich musste es für ihn gewesen sein, zu erfahren, dass seine alte Liebe doch wieder geheiratet hatte – den Halbbruder ihres verstorbenen Mannes.
»Danke!«, sagte sie, und lächelte Rudolf an.
»Wofür?«
»Fürs Zuhören.«
»Doch dafür nicht«, entgegnete Rudolf und erwiderte ihr Lächeln mit einem Zwinkern.
Beim Schrei des ersten Hahnes schlug Lisbeth entschlossen ihr Federbett zurück. Die Scham hatte sie bis spät in die Nacht keine Ruhe finden lassen. Sobald sie die Augen schloss, sah sie Clairgins vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet.
Sie verstand nun auch, warum die Freundin so stoisch auf die Bestrafung reagiert hatte. Clairgin hatte nicht leichtfertig gehandelt. Sie war das Risiko, erwischt zu werden, in vollem Bewusstsein eingegangen, einfach weil sie keine andere Wahl gehabt hatte.
Lisbeth bedauerte so sehr, dass sie die Not der Freundin nicht bemerkt hatte. Warum hatte Clairgin sie nicht um Hilfe gebeten? Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihr mit einigen Ballen Rohseide auszuhelfen.
Wieder und wieder war Lisbeth in Gedanken ihr Sündenregister durchgegangen. Und nicht nur ihr eigenes. Die Vergehen gegen die Zunftgesetze waren zahlreich.
Besonders rüde verfuhr man mit den Seidspinnerinnen. Sie wurden mit Ware statt mit Geld entlohnt, man gab Seide zum Spinnen in die Beginenkonvente, nach Deutz oder schmuggelte sogar gesponnenes Garn aus Venedig und Lucca in die Stadt. Es gab keinen gewählten Vorstand mehr, keine Sitzungen der Amtsmeister, keine Protokolle. Lehrtöchter wurden nicht mehr eingetragen und fertige Seidenweberinnen nicht zum Seidamt zugelassen. Doch das größte Übel von allem war der Verlag.
Wenn die Zunft wieder so werden sollte, wie sie einst gewesen war, als alle Seidmacherinnen ihr Auskommen fanden und für alle die gleichen Rechte galten, so erkannte Lisbeth, dann musste sie bei sich selbst anfangen. Mit diesem Gedanken war sie weit nach Mitternacht endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Hastig sprang Lisbeth aus dem Bett und kleidete sich an. Kaum konnte sie es erwarten, dass die Lehrmädchen ihre Morgensuppe gelöffelt hatten und in der Werkstatt zur Arbeit erschienen.
»Den, den und diesen!« Lisbeth wies auf verschiedene Ballen gesponnener Seide, die in den luftigen Regalen an der Kopfseite der Werkstatt ihrer Verarbeitung harrten. Sie mussten zusammen in etwa einen Zentner wiegen. »Schlagt sie sorgfältig in Wachstuch und bringt sie zu Clairgin van Breitbach«, wies sie die Mädchen an. Fragend blickten Klara und Rita, ihre beiden älteren Lehrtöchter, sie an. »Ihr wisst, wo sie wohnt?«
Die Mädchen nickten.
»Sagt ihr, sie solle es als Darlehen betrachten und mir die Rohseide zurückgeben, wann immer sie dazu in der Lage ist.«
Abermals nickten Klara und Rita, und unter den erstaunten Blicken der Weberinnen luden sie und die anderen Lehrmädchen sich die Seide auf die Schultern und verließen im Gänsemarsch die Werkstatt.
Doch dies blieb an diesem Morgen nicht der einzige Anlass, den Lisbeth ihren Weberinnen gab, sich zu wundern. »Ah, Apolonia! Ihr kommt mir gerade recht«, begrüßte sie die junge Seidspinnerin, die just in diesem Moment in die Werkstatt trat. »Ihr wollt Euren Lohn abholen, nicht wahr?«
Ein besorgter Schatten fiel über Apolonia Loubachs Gesicht. »Ja«, antwortete sie, das Wort vorsichtig gedehnt, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Deutlich waren der jungen Frau ihre Befürchtungen ins Gesicht geschrieben.
Lisbeth schluckte. So weit war es also gekommen. Die Seidspinnerin fürchtete sich vor ihr. Argwöhnte, sie wolle ihre Arbeit rügen oder ihr abermals den Lohn senken. Lisbeths Stimme klang spröde, als sie sagte: »Vierzehn Albus pro Pfund, nicht wahr?«
Überrascht hob Apolonia den Kopf, forschte in Lisbeths Zügen nach Hohn. Doch die begegnete offen ihrem Blick. »Vierzehn Albus«, bestätigte Apolonia, und ein warmes Lächeln trieb den Schatten von ihrem Gesicht.
Das war ein Leichtes gewesen, dachte Lisbeth, als die Seidspinnerin ihre Werkstatt mit dem gerechten Lohn verlassen hatte. Damit hatte sie zwar noch nicht viel erreicht, doch es war ein Anfang. Nicht schwieriger wäre es, die beiden nächsten Lehrtöchter, die ihre Prüfung ablegten, nicht zu ersetzen – Klara im kommenden Winter und Rita im Herbst darauf –, um nurmehr die vorgeschriebenen vier Mädchen zugleich in Diensten zu haben. Wenn sie mehr Hilfe benötigte, würde sie eben noch weitere ausgelernte Weberinnen oder Helferinnen einstellen. Ihren Verdienst würde das nur um weniges schmälern.
Weit schwieriger gestaltete sich jedoch die Sache mit den Beginen und dem Verlag. Zunächst hatte Lisbeth spontan beschlossen, ab sofort keine Rohseide mehr zum Spinnen in den Annenkonvent und keine gesponnene Seide mehr zum Weben außer Haus zu geben.
Doch damit wäre den Frauen nicht gedient. Im Gegenteil: Die Weberinnen wie auch die Beginen waren dringlich darauf angewiesen, dass man ihnen Arbeit gab. Und wenn sie es nicht tat, dann taten es andere, womöglich sogar um noch geringeren Lohn. Wie Lisbeth es auch drehte und wendete, es war ein Teufelskreis, den sie aus eigener Kraft nicht zu durchbrechen vermochte.
Das Klappen der Werkstatttür riss Lisbeth aus ihren Überlegungen. Im Gänsemarsch, so wie sie gegangen waren, kehrten die Lehrmädchen in die Werkstatt zurück, die Ballen mit Rohseide noch immer auf den Schultern balancierend.
»War bei Frau van Breitbach niemand daheim, dass ihr die Seide zurückbringt?«, fragte Lisbeth Rita.
Das pausbäckige Mädchen ließ sein Bündel zu Boden gleiten und schüttelte verneinend den weizenblonden Schopf. Betreten heftete es den Blick auf seine Füße.
»Sondern?«
Rita fiel es sichtlich schwer, zu antworten. Schließlich beugte sie sich vor und flüsterte, dass nur ihre Lehrherrin es verstehen konnte: »Die Frau van Breitbach lässt Euch bestellen, sie nähme keine Almosen an.«