20. Kapitel
Es war kalt in der Werkstatt Onder Blauverfer, doch Sophie spürte die Kälte nicht. Keuchend schüttete sie den letzten Eimer Wasser, den sie vom Pütz im Hof hereingeschleppt hatte, in den Bottich über dem Stochofen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Ihr Atem stieg in kleinen Wölkchen auf und mischte sich mit den beißenden Dämpfen aus den Kesseln. Längst hatte Sophie sich an den Geruch in der Werkstatt gewöhnt, ja, sie bemerkte ihn nicht einmal mehr.
Kurz schöpfte sie Luft, dann legte sie ein paar Buchenscheite nach, um den Ofen anzufeuern. Als die Flammen unter dem Kessel zu ihrer Zufriedenheit loderten, wischte sie die Hände an der großen Lederschürze sauber, die sie zum Schutz vor ihr Arbeitskleid gebunden hatte. Sie verließ die Werkstatt, überquerte den Hof und machte sich auf die Suche nach Meister Quettinck, damit er ihr das Curcumay abmaß. Denn während die billigeren Mittel, die zum Färben der Seide Verwendung fanden, wie beispielsweise Waid, auf Regalen und in Säcken und Körben entlang der Wände der Werkstatt gestapelt waren, verwahrte der Meister die kostbaren Farbstoffe unter Verschluss.
»Ah, Sophie!«, grüßte Quettinck das Mädchen mit einem Lächeln. Er hatte nichts dagegen gehabt, Sophie in seiner Werkstatt helfen zu lassen, wenn auch ausschließlich seiner besten Kundin zu Gefallen. Denn welch eine Hilfe konnte ihm so ein junges Ding schon sein? Das Färberhandwerk war eine schwere Sache, da bedurfte es der Kraft eines Burschen.
Man war übereingekommen, dass Sophie des Montags und des Mittwochs in seine Werkstatt kam. So konnte sie einigermaßen sichergehen, die Farbflecken wieder von den Fingern geputzt zu bekommen, bevor sie am Sonntag den Eltern in der Wolkenburg ihren allwöchentlichen Besuch abstattete.
Doch mit der Zeit hatte Quettinck seine neue Hilfskraft, die er weder zu entlohnen noch zu verköstigen brauchte, zu schätzen gelernt. Denn Sophie hatte nicht nur bewiesen, dass sie zupacken konnte, sondern sich auch als sehr gelehrig gezeigt, und so hatte der alte Färber inzwischen seine rechte Freude an dem wissbegierigen Mädchen.
»Sächsischgrün also«, murmelte Quettinck. »Hast du den Bottich gut mit Wasser gefüllt?«
Sophie nickte. »Steht schon auf dem Stochofen.«
»Wasser aus dem Pütz?«, hakte der Färber nach.
Abermals nickte Sophie. Das Wasser aus dem Bach war für das Färben nicht zu gebrauchen, wollte man eine klare und saubere Färbung erzielen. Denn bis es auf seinem Weg von Hürth herunter zu ihnen kam, hatten schon zu viele Gerber, Wäscher und andere Färber ihr Abwasser in den Duffesbach geschüttet. Manch andere Färber scherte das zwar nicht, doch Quettinck achtete sehr genau darauf. Nicht ohne Grund war er für die Brillanz seiner Färbungen bekannt.
Quettinck nahm ein Glasgefäß zur Hand, maß sorgfältig eine Menge des dunkelgelben, bröckeligen Pulvers daraus ab und häufte es in eine kleine hölzerne Schale. »Zwei Lot zerstoßenes Curcumay auf ein Pfund Seide«, erklärte er. »Damit es ein starkes gelbes Bad gibt.« Er verschloss das Glas wieder, stellte es in seinen Schrank und reichte Sophie die Schale, bevor er nach einer schlanken verkorkten Flasche griff. »Rühr das Curcumay ins Wasser und hol mich, wenn es kocht! Ich mische dann die Indigotinktur hinzu.«
Die Schale sorgsam mit der freien Hand abdeckend, kehrte Sophie in die Werkstatt zurück, stellte sie neben dem Stochofen ab und griff nach einem der Stecken, die an der Wand lehnten. Mit der Hand fuhr sie über das Holz, das die vielen Farben mit der Zeit hatten dunkel werden lassen, und betrachtete dann aufmerksam ihre Handflächen, um genau zu prüfen, ob der Stecken nach dem letzten Gebrauch ordentlich gereinigt worden war – ganz so, wie Jacobus, der Geselle von Meister Quettinck, es ihr eingeschärft hatte. Doch ihre Handflächen blieben sauber. Es hafteten keine Farbreste vom vorhergehenden Farbbad mehr an dem Stecken.
Sophie trat an den Stochofen heran und schüttete das Curcumay in den Bottich. Mit beiden Händen packte sie den Stecken und rührte, bis sich das klare Brunnenwasser in eine dunkelgelbe Brühe verwandelt hatte.
Es dauerte, bis das Wasser anfing zu kochen. Gelegentlich rührte Sophie das Farbbad um, und als das Wasser im Bottich anfing zu sieden, trat Meister Quettinck zu ihr. Mit einer Bewegung, der man die Erfahrung von Jahren anmerkte, schüttete er aus der schlanken Flasche gerade so viel Indigotinktur in den Bottich, dass sich das satte Gelb darin in frisches Grün verwandelte.
Sophie rührte kräftig um, bis das Farbbad ohne Schlieren war. Kritisch betrachtete der Meister die Farbe, runzelte die Stirn, dann fügte er noch wenige Tropfen hinzu. Abermals rührte Sophie, und Quettinck nickte zufrieden. Zum Schluss fügte er Zinnsolution hinzu, nicht ohne Sophie zu erklären: »Zwei Lot auf das Pfund, merke es dir!«
Sophie nickte. Sie hatte sich so vieles gemerkt in dem Jahr, das sie ihm nun schon in der Färberwerkstatt half. Sie hatte gelernt, aus ausgefaultem Urin Beize zu bereiten, aus Pflanzenteilen wie Färbeginster oder Waid Farbsud zu kochen sowie die gefärbten Tuche zu spülen, zu wringen und zum Trocknen aufzuhängen. Sie hatte erfahren, dass die unreifen, grünen Schalen der Walnuss die Seide in einem intensiven Braun färbten, die getrockneten Schalen dagegen weniger Farbkraft besaßen. Und dass in Walnussschalen generell so viel Gerbstoffe enthalten waren, dass die Seide vorab keine Beize benötigte.
Aber wozu war das alles nütze, dachte sie traurig. Wenn sie doch nie einen Färber heiratete? In ihrer Kehle setzte sich ein Kloß fest, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Hastig wandte sie sich ab, um das Seidentuch zu holen, das es zu färben galt. Quettinck sollte nicht sehen, welche Gefühle seine Worte in ihr ausgelöst hatten.
Das blassweiße, noch feuchte Seidentuch war über Nacht gebeizt worden und verströmte einen scharfen Geruch, als Sophie es in den Bottich wuchtete. Sie schluckte, griff nach dem Stecken und trat so nah an den Stochofen heran, wie es ihr möglich war, ohne sich zu verbrennen. Nun galt es, das Tuch zu zwernen, das heißt, es in Bewegung zu halten, hatte Sophie gelernt, damit sich die Farbe gleichmäßig darauf verteilen konnte und sich nicht etwa in den Falten festsetzte und dort dunklere Flecken verursachte.
Es war eine eintönige Arbeit, die jedoch von Minute zu Minute schwerer erschien, sobald Sophies Arme ermüdeten. Zu Beginn ihrer Arbeit in der Färberwerkstatt hatte sie es nicht lange vermocht, die Seide mit dem Stecken im Bad hin und her zu bewegen. Doch inzwischen hatte sie vom vielen Wasserschleppen, Rühren, Spülen und Wringen an Armen und Schultern kräftige Muskeln bekommen.
Auf den Tag genau war ein Jahr vergangen seit jenem Martinsabend, an dem sie ins Haus Zur Roten Tür zurückgekehrt war. Sie hatte sich um den Haushalt gekümmert, wie sie es Lisbeth versprochen hatte, und auch wenn sie die Hausarbeit nach wie vor verabscheute, so hatte sie ihrer Tante nicht ein Mal Anlass gegeben, ihr das Färben zu untersagen.
Sophie seufzte. Ein Jahr – das war eine lange Zeit, doch sie war wie im Flug vergangen. Und Godert war nicht zurückgekehrt!
Sophie hatte so sehr gehofft, dass er in diesem Jahr zu Weihnachten heimkehren würde. Aber selbst wenn er es täte, so wäre auch das jetzt um ein paar Wochen zu spät. Denn bereits für heute Abend zum Martinsessen hatte ihr Vater den Mann geladen, mit dem er sie zu vermählen gedachte. Einen Adligen, ganz wie Andreas Imhoff es sich für seine Tochter erträumt hatte. Er käme in Begleitung seiner Eltern, um seine Braut in Augenschein zu nehmen.
Weiter hatte Sophie ihrer Mutter nicht zugehört, als diese ihr am vergangenen Sonntag davon berichtet hatte, sondern war voller Zorn aus dem Raum gelaufen. Sie wollte gar nicht wissen, wer ihr Bräutigam war und wie er hieß. Es war ihr gleich, denn wer auch immer er war, er war nicht Godert! Sicherlich war er alt und abstoßend. Und wahrscheinlich nicht einmal vermögend. Warum sollte er sonst eine Bürgerliche ehelichen wollen, wenn nicht um einer großen Mitgift willen?
»Aber Hauptsache, er ist adlig!«, schnaubte Sophie halblaut und stieß wütend mit dem Stecken in dem Bottich umher.
Obschon – wenn er in Begleitung seiner Eltern kam, konnte er so alt nicht sein. Angewidert verzog Sophie das Gesicht. Sie konnte sich richtig vorstellen, wie ihre künftige Schwiegermutter sie mit stechendem Blick von oben bis unten betrachten, säuerlich das Gesicht verziehen und an ihr herummäkeln würde. Zu muskulös, zu vorlaut, der Teint nicht hell genug … Ob sie ihr auch ins Maul schauen würde, um ihre Zähne zu begutachten wie bei einem Gaul, der zu Pfingsten zu Markte geführt wurde?
Sophie angelte mit dem Stecken nach einer Kante des Tuches und hob sie ein Stück weit aus dem Bottich. Die weiße Seide hatte bereits eine grüne Färbung bekommen, die jedoch noch recht hell war.
Vorsichtig ließ Sophie den Stoff in das heiße Farbbad zurückgleiten. Es bereitete ihr jedes Mal große Freude, zu sehen, wie das Seidentuch langsam die Farbe des Bades annahm. Doch wie schön musste die Arbeit erst sein, wenn sie sie mit Godert zusammen verrichtete? Wenn er doch nur zurückgekehrt wäre!
Es dauerte lange, das Färberhandwerk richtig zu erlernen, das hatte Sophie inzwischen verstanden. Denn obwohl sie in dem Jahr viel gelernt hatte, war sie noch meilenweit davon entfernt, selbst Farben anmischen und entscheiden zu können, wie lange die Seide in ihrem Bad zu kochen hatte. Denn das hing nicht nur von der Art des Farbstoffes und seiner Menge ab, sondern überdies auch noch von der Qualität der Seide und davon, wie dick das Gewebe war.
Drei bis sechs Jahre dauerte die Lehrzeit, je nachdem, wie gelehrig der Bursche war und wie viel zu wissen ihm genügte. Ein reger Färbergeselle verbrachte danach einige Jahre auf Wanderschaft, um von verschiedenen Meistern deren Rezepturen und Finessen zu erlernen. Leider waren die angesehensten Meister seit alters her in Flamen ansässig.
Godert war nun schon seit über anderthalb Jahren fort, doch wie Sophie ihn kannte, würde er nicht eher zurückkehren, als bis er alles, wirklich alles erfahren hatte, was es über das Seidfärben zu wissen gab.
Für einen Moment ließ Sophie den Stecken fahren und wischte sich die vom Dampf feuchten Hände an der Schürze trocken, bevor sie fortfuhr zu zwernen. Ihre Gedanken bewegten sich so unstet im Kreis wie das Tuch in dem Kessel vor ihr. Was hätte es geändert, wenn Godert zurückgekehrt wäre, fragte sie sich. Nie hätte ihr Vater zugelassen, dass sie einen Färbergesellen heiratete. Doch sie hätten heimlich heiraten können. Und fortgehen aus Köln, in eine andere Stadt. Ein tüchtiger Seidfärber fand überall Anstellung. Und irgendwann hätten sie sich vielleicht eine eigene Werkstatt leisten können.
Sophie war so in ihre Tagträume verstrickt, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Meister Quettinck zu ihr getreten war. Er nahm ihr den Stecken aus der Hand, und wie zuvor Sophie fischte nun er ein Ende des Tuches aus dem Bottich. Es hatte ein wunderbar leuchtendes Grün angenommen, und wieder versetzte es Sophie in Erstaunen, wie genau der Färber es im Gefühl hatte, wann die Seide lange genug im Bad gekocht hatte.
Quettinck rief einen der älteren Lehrburschen zu Hilfe, und gemeinsam hievten sie mit langen Stecken den heißen Stoff aus dem Bad. Einen Moment ließen sie ihn erkalten, dann packten Sophie und der Lehrbursche das Tuch und wrangen es, jeder einen Zipfel fassend, sorgfältig über dem Kessel aus. Anschließend spülte Sophie das Tuch in einem Bottich mit klarem Wasser, um die Farbrückstände zu entfernen. Dreimal musste sie das Wasser wechseln, und als sie schließlich das Tuch zum letzten Mal ausgewrungen hatte, waren ihre Hände so kalt geworden, dass sie kaum noch ein Gefühl darin spürte.
Sophie legte den Stoff in einen geflochtenen Korb, querte damit den Hof und stieg, unter ihrer Last keuchend, die steile Treppe zum Speicher des Hauses hinauf. Oben angekommen, schöpfte sie tief Luft, bevor sie sich daranmachte, die lange Seidenbahn auszubreiten und zum Trocknen über die Leinen zu hängen, die quer durch den Raum gespannt waren.
Die Farbe war sehr schön geraten, das war bereits jetzt zu erkennen, obwohl sich der strahlende Glanz der Seide erst zeigen würde, wenn sie vollständig getrocknet und geplättet wäre. Doch anders als sonst empfand Sophie heute keine Freude daran.
Dies war das letzte Tuch, das sie gefärbt hatte, dachte sie traurig, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Das allerletzte. Wenn man heute Abend ihre Verlobung bekanntgab, würde sie sofort in die Wolkenburg zurückkehren müssen, um die Hochzeit und vor allem ihre Aussteuer vorzubereiten, darauf würde Vater bestehen.
Bedrückt schlich Sophie die Stiege hinab. Im Gehen band sie sich die Schürze ab, um sie in der Werkstatt an den Haken neben der Tür zu hängen. Die Tränen verschleierten ihr den Blick, als sie sich ein letztes Mal in der Werkstatt umsah.
Was würde Godert sagen, wenn er zurückkehrte und fand sie verheiratet mit einem anderen, fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal. Wäre er so traurig wie sie? Liebte er sie denn überhaupt noch? Vielleicht hatte er sie längst vergessen und hatte in der Fremde ein anderes Mädchen geehelicht? Die Tochter eines Färbers gar?
Sie aber liebte ihn! Sie würde keinen anderen heiraten, niemals! Mit einer heftigen Bewegung riss Sophie sich das Tuch, das ihr Haar vor den Farbstoffen schützte, vom Kopf und warf es beiseite.
Sie durchmaß den Raum mit wenigen Schritten und eilte zum Stochofen. Das Feuer darin war erloschen, die Farbe im Kessel deutlich abgekühlt. Tief holte sie Luft, dann tauchte sie ihren Kopf in den Farbbottich.
Als Sophie am Abend aus ihrer Kammer trat, um mit Mertyn und Lisbeth in die Wolkenburg zu fahren, verspürte Lisbeth großes Mitleid mit dem Mädchen. Es schien völlig in sich zusammengesunken zu sein. Ergeben hielt Sophie den Kopf auf die Brust gesenkt, ein weißer Schleier verbarg Gesicht und Haar, und ihre Hände hatte sie in die langen Ärmel geschoben, als friere sie. Wahrscheinlich, so dachte Lisbeth, hatte sie inzwischen eingesehen, dass sie nichts gegen die väterliche Entscheidung würde ausrichten können, und sich in ihr Schicksal gefügt.
Der große Saal im Obergeschoss der Wolkenburg war mit Dutzenden von Kerzen festlich erleuchtet, als Lisbeth mit Mertyn und Sophie eintrat. Im Kamin flackerte ein freundliches Feuer, und die Tafel war mit feinem Geschirr, kostbaren Gläsern und Zinnbechern eingedeckt.
In der Nähe des Kamins standen Andreas Imhoff und Sophies Mutter mit ihren Gästen, einem Paar in mittleren Jahren – augenscheinlich den Eltern des künftigen Bräutigams – und einem Herrn und waren ins Gespräch vertieft.
Dem ersten Anschein nach zu urteilen, machten die Besucher einen passablen Eindruck, dachte Lisbeth, und ihrer Kleidung konnte man den Wohlstand der Familie deutlich ansehen. Die Mutter des Bräutigams war klein und rundlich und schien ein fröhliches Naturell zu besitzen, denn eben lachte sie ein wenig zu laut über etwas, was ihr Gemahl gesagt hatte. Ihr Kleid war aus tiefblauem Samt, hatte geschlitzte Ärmel, die die hellblaue Seide des Unterkleides hervorscheinen ließen, und war aufwendig bestickt.
Ihr Gemahl überragte seine Frau um mehr als zwei Haupteslängen, und auch er schien leiblichen Genüssen zugetan, denn er war von beachtlichem Leibesumfang. Sein helles Haar, das bereits von silbernen Fäden durchzogen war, war sorgfältig gestutzt, und Lisbeth hatte das Gefühl, ihm bereits begegnet zu sein.
Der Herr, der ein wenig steifbeinig bei ihnen stand, war genauso hochgewachsen, doch weit schlanker als sein Vater. Sein blondes Haar fiel in Wellen auf seine Schultern. Er trug dunkle Hosen, die am Knie gebunden waren, und ein seidenes Wams. Sein Gesicht konnte Lisbeth nicht erkennen, denn er wandte den Eintretenden den Rücken zu. Doch immerhin war er nicht verwachsen und wirkte nicht alt und gebrechlich, wie Lisbeth befürchtet hatte.
»Ah, da kommt ja meine Tochter!«, rief der Hausherr aufgeräumt, als er ihres Eintretens gewahr wurde, und kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen.
Die Gäste wandten sich ihnen zu, und mit Erleichterung stellte Lisbeth fest, dass der Bräutigam tatsächlich jung und auch nicht im Gesicht entstellt war. Im Gegenteil. Auf den ersten Blick erschien er von sehr ansprechendem Äußern. Sophie konnte sich wirklich glücklich schätzen, einen solchen Bräutigam zu bekommen.
Doch Sophie schien davon weit entfernt. Ihr entfuhr ein Laut des Entsetzens, als sie ihren künftigen Gemahl erblickte. Auf dem Absatz drehte sie um, und es gelang Lisbeth gerade noch, sie am Ärmel zu erwischen und zurückzuhalten, bevor sie davonlief.
»Nun reiß dich zusammen!«, zischte Lisbeth. »Du hättest es weit schlimmer treffen können.« Energisch packte sie ihre Nichte am Arm und zog sie mit sich den Gästen entgegen.
»Herr Johann von Elverfeldt mit Gemahlin und ihrem Sohn Godert aus dem edlen Geschlecht der Freiherren von Elverfeldt«, stellte Andreas vor, und Lisbeth musste sich bemühen, Haltung zu bewahren. Godert von Elverfeldt – das war Sophies Godert!
»Mein Schwager, der Ratsherr Mertyn Ime Hofe, mit Gemahlin«, setzte Andreas die Vorstellung fort.
»Gnädiger Herr, gnädige Dame!«, grüßten die Brauteltern und ihr Sohn respektvoll den Ratsherrn und seine Frau, doch Lisbeth konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht des jungen Mannes abwenden. Tatsächlich – es war Godert, der ehedem schüchterne Färberlehrling von Meister Quettinck.
Die Zeit der Wanderung hatte ihn zum Manne reifen lassen. Seine Züge waren klar und fest, das Gesicht hatte alles Kindliche verloren. Nein, er war längst kein Jüngling mehr, und von Schüchternheit war nichts zu spüren. Offen und ein wenig spitzbübisch lächelte er Lisbeth an, als freue er sich, dass seine Überraschung gelungen war.
Offensichtlich war er zurückgekehrt und hatte bei Andreas um Sophies Hand angehalten, ohne dass ihre Nichte davon wusste. Das war eine wundervolle Fügung, freute Lisbeth sich.
Sie kannte Wyllem von Elverfeldt flüchtig. Er war Seidenhändler und hatte den Eid auf das Seidamt abgelegt. Goderts Vater Johann mochte sein Bruder sein, daher war er ihr bekannt vorgekommen, doch dass die von Elverfeldts von adligem Geblüt waren, hatte sie nicht gewusst. Nie hätte Lisbeth damit gerechnet, dass ihr Schwager einen Färbergesellen als Eidam akzeptieren würde. Doch wenn es ein adliger Färber war, lag die Sache natürlich ganz anders, dachte sie spöttisch.
Aber wieso benahm Sophie sich so seltsam? Immer noch hielt ihre Nichte den Kopf gesenkt, als getraute sie sich nicht, ihren künftigen Gemahl anzublicken. Wieso versuchte sie, sich hinter ihr zu verstecken, und trat unruhig von einem Fuß auf den andern, als warte sie nur auf eine passende Gelegenheit zur Flucht?
Sophie hätte außer sich sein müssen vor Freude. Goderts Frau zu werden, das war es doch, was sie sich seit Jahren ersehnte. Lisbeth hätte vielmehr erwartet, dass sie, ihrem ungestümen Naturell folgend, Godert um den Hals fallen oder ihre Freude in anderer, unziemlicher Weise äußern würde.
Oder verhielt es sich ganz anders, und Sophie nahm sich bewusst zurück und versuchte, einen guten Eindruck auf Goderts Eltern zu machen und Zurückhaltung vorzutäuschen? Wenn es so war, spielte sie ihre Rolle sehr gut, das musste Lisbeth ihr lassen.
»Meine Tochter Sophie. Sie ist die Zweitälteste und hat im vergangenen Jahr bei meinem Schwager das Hauswesen erlernt«, stellte Andreas Sophie nicht ohne Stolz vor.
Lisbeth schob das sich sträubende Mädchen nach vorn, so dass Sophie nichts übrigblieb, als höflich zu knicksen.
»Mein liebes Kind!«, rief Mutter Elverfeldt aus und klatschte in die Hände. »Warum denn so schüchtern? Nimm den Schleier ab, Kind! Man sieht ja nichts von deiner Schönheit!« Sie ließ ein wieherndes Lachen hören, und Lisbeth bemerkte, wie ihr Schwager zusammenzuckte. Von einer adligen Dame hatte er ein anderes Verhalten erwartet.
Sophie wich einen Schritt vor Frau von Elverfeldt zurück, doch ihr Vater befahl streng: »Nun zier dich nicht, Sophie! Nimm den Schleier ab.« An seine Gäste gewandt, erklärte er salbungsvoll: »Sie braucht sich sicher nicht zu verstecken!«
Mit unendlicher Langsamkeit hob Sophie ihre Hand an den Saum des feinen Gespinstes. Ihrem Vater schien das zu lange zu dauern. Er fasste den Schleier und schlug ihn energisch über Sophies Kopf zurück.
Frau von Elverfeldt stieß einen spitzen Schrei aus.
Irritiert blickte Andreas Imhoff seine Tochter an, und sogleich stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. Sophies Gesicht war vom Hals bis hin zum Ansatz ihrer Haare von einem dunklen, kräftigen Grün. Gespenstisch leuchtend stach das Weiß ihrer Augen daraus hervor und ließ ihr Antlitz an die grausige Fratze eines Höllenwesens gemahnen, das soeben einem jener abschreckenden Bildnisse des Fegefeuers entstiegen war.
Agnes erbleichte, und Andreas rang entsetzt nach Luft. Da hatte er endlich einen passenden Heiratskandidaten für seine Tochter gefunden, und nun das! Anstatt ihm dankbar zu sein und sich von ihrer besten Seite zu zeigen, blamierte Sophie ihn vor diesen edlen Leuten bis auf die Knochen. Aber er hatte ja befürchtet, dass Lisbeth nicht genügend auf sie achtgeben würde, und wollte Sophie von Anfang an nicht in die Obhut seiner leichtsinnigen Schwägerin geben!
Ein heiseres Krächzen entrang sich Andreas’ Brust, doch sogleich fand er seine Stimme wieder. »Verschwinde! Geh sofort auf dein Zimmer!«, herrschte er seine Tochter an und vergaß dabei, dass Sophie keine eigene Kammer in der Wolkenburg besaß.
Lisbeth überkam der völlig unangemessene Drang zu kichern, und sie presste die Lippen aufeinander. Doch dann erblickte sie die Bestürzung auf Goderts Zügen, und ihr verging das Lachen.
Wie gestochen flog Sophie herum und rannte aus dem Saal. Ihre Eltern und die Gäste blieben in betretenem Schweigen zurück. Verlegen traten sie von einem Fuß auf den andern. Keiner wusste, wie er sich angesichts dieser Peinlichkeit verhalten sollte.
Godert reagierte als Erster. Ohne Gruß verließ auch er den Saal. Seine Eltern blickten ihm nach, unschlüssig, ob sie seinem Beispiel folgen sollten.
»Wie wäre es, wenn wir uns alle erst einmal einen Becher Würzwein genehmigen würden?« Mertyn suchte die angespannte Stimmung zu entschärfen. »Mein Schwager ist bekannt dafür, einige ausgezeichnete Tropfen in seinen Kellern zu verwahren.«
»Das ist ein guter Vorschlag!«, stimmte Johann von Elverfeldt ohne Zögern zu.
Agnes warf ihm einen dankbaren Blick zu und eilte, um Maren, die, nicht minder entsetzt als alle anderen, nahe der Tür auf Anweisungen ihrer Herrin wartete, entsprechende Befehle zu erteilen.
»Mein Gott! Ist das ansteckend, was Sophie da hat?«, wollte Maren von ihrer Herrin wissen. »Vielleicht sollte man sie in das Leprösenhaus bei Melaten …«
»Schweig!«, befahl Agnes ihr harsch und blickte sich um, ob die von Elverfeldts Marens Worte etwa gehört hatten. Sie wusste nicht, welchen Unfug ihre Tochter diesmal angerichtet hatte, doch krank war sie sicher nicht. Dieser Abend drohte ohnehin in einer Katastrophe zu enden, da fehlte es gerade noch, dass jemand Sophies vermeintliche Seuche den Bütteln meldete.
Doch die von Elverfeldts schienen Marens Worte nicht gehört zu haben. »Sophie ist nicht krank, merk dir das!«, beschied Agnes der einfältigen Magd. »Und nun eil dich, wenn dir an deiner Stellung hier gelegen ist!«
Godert fand Sophie in einer der Kammern, deren Fenster zum Hof hinausgingen. Es war ihm nicht schwergefallen, sie aufzuspüren. Er hatte nur dem lauten Weinen folgen müssen, das durch eine angelehnte Tür bis auf den Flur hinausdrang.
»Curcumay und Indigotinktur?«, fragte Godert leise und trat an die Bettstatt, auf die Sophie sich in ihrer Verzweiflung hatte fallen lassen.
»Ja!«, schniefte Sophie undeutlich, das Gesicht in ein Kissen vergraben.
»So sehr verabscheust du mich?«
Der Schmerz in seiner Stimme ließ Sophie auffahren. Im schwachen Licht, das durch die offene Tür in die Kammer fiel, glitzerten die Tränen auf ihrer grünen Haut. »Ich verabscheue dich doch nicht! Ich wollte nur keinen anderen heiraten!«, schluchzte sie unglücklich, kaum dass Godert ihre Worte verstehen konnte. »Ich wusste ja nicht, dass du es bist!«
Wieder vergrub Sophie den Kopf in den Kissen. »Oh, ich schäme mich so! Was sollen deine Eltern jetzt von mir denken?«
Sanft fasste Godert Sophie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Lass dich anschauen«, sagte er mit einem befreiten Lachen und strich ihr sanft mit dem Finger über die Wangen. »Die Färbung ist gelungen! Wie lange hast du den Kopf in den Bottich gesteckt?«
Sophie verzog das Gesicht zur gequälten Grimasse. »Eine gute Weile«, antwortete sie widerwillig. »Das Farbbad war schon recht kühl.«
»Nun, bis wir heiraten, ist die Farbe sicher verblasst. Und wenn nicht, so trägst du eben ein grünes Kleid, dann passt es zu deinem Teint.«
Mit einem letzten Schluchzer warf Sophie sich Godert in die Arme. Doch sogleich löste sie sich wieder aus seiner Umarmung und schaute ihn neugierig an. Ihr war ein anderer Gedanke gekommen. »Bist du wirklich ein Adliger?«, wollte sie wissen.
»Nun ja …« Godert wand sich. »Meine Familie stammt aus Elverfeldt, aber wir sind schon seit Generationen hier ansässig. Einer meiner Urahnen kam einst nach Köln. Von ihm heißt es, er stamme aus dem Geschlecht der Freiherren von Elverfeldt. Doch den Nachweis dafür, dass wir dieser edlen Familie angehören, bleiben wir wohl schuldig.«
»Woher wusstest du, dass mein Vater sich für mich einen adligen Bräutigam in den Kopf gesetzt hatte?«, fragte Sophie.
»Das wusste ich gar nicht. Es war nicht meine Idee, mich als hochgeboren auszugeben. Dein Vater fing sofort davon an. ›Ah, Ihr stammt wohl von den Freiherren von Elverfeldt ab‹, sagte er, kaum dass ich meinen Namen genannt hatte. ›Sehr schön, sehr schön!‹ Das waren genau seine Worte. Dann ließ er sich eine Weile über unsere segensreiche Verbindung aus, und ich dachte mir, nach unserer Heirat sei noch genug Zeit, diese unerhebliche Kleinigkeit richtigzustellen.«
Entschuldigend hob Godert die Hände und lächelte Sophie spitzbübisch an. »Es sei denn, dir liegt daran, einen richtigen Adligen zu ehelichen.«
Lachend schüttelte Sophie den Kopf. »Ein einfacher Färbergeselle ist mir gerade recht.«