13. Kapitel
Nach Gottes Ehre der Stadt Freiheit und Ehre zu behaupten; auch das gemeine Beste im echten, alten, wahren, katholischen und apostolischen Glauben in dem Sinne, wie er in dieser Stadt von alters hergebracht und öffentlich geübt wird, ohne Einführung zwiespältiger Neuerungen treulich zu fördern und zu schützen …«, verlas der Ratsmeister den ersten Punkt der Eidesformel.
Angetan mit ihren neuen schwarzen Mänteln, standen die frisch gekürten Ratsherren im Langen Saal im Obergeschoss des Rathauses und folgten ernst seinen Worten. Manche mit unbewegter Miene, denn sie erlebten dies nicht zum ersten Mal, anderen jedoch war die Ergriffenheit deutlich anzusehen.
Von der südlichen Stirnwand blickten streng die hölzernen Figuren der Neun Guten Helden auf die neuen Stadtväter herab, gemahnten sie zu Tugendhaftigkeit und gerechter Führung der Stadt.
»… zum Vierten«, verlas der Ratsmeister, »dass er niemanden zum Rat und zu städtischen Ämtern zulasse um Bitten, Liebe oder Leides, Freund- oder Verwandtschaft noch weniger um Geldes, Gaben und Bestechung willen …«
Ein billiger Anspruch an einen Ratsherrn, doch in diesen Zeiten beileibe keine Selbstverständlichkeit, wie viele Bürger nicht müde wurden zu beklagen. Und es war auch nicht immer nur beim Beklagen geblieben, wie die jüngsten Vorkommnisse bewiesen hatten. Am steinernen Brückchen in der Nähe von Sankt Paulus hatten vier Strolche Bürgermeister Johann van Berchem aufgelauert, ihn überfallen und versucht, ihn zu erstechen. Van Berchem hatte sich jedoch mit seinem Degen derart zur Wehr gesetzt, dass die Angreifer unverrichteter Dinge die Flucht ergriffen hatten.
Einen der Übeltäter, Johann Pfeffer, hatte man gefasst. Doch erst, als er vor dem Schöffengericht in Everingen ein Geständnis ablegte, wurde man der Tragweite dieser Schandtat gewahr. Denn Pfeffer bekannte den perfiden Plan, gemeinsam mit drei anderen Mordgesellen einige der Obersten und Regenten der Stadt, namentlich die Bürgermeister Johann van Berchem und Konrad Schurenfeltz, den Rentmeister Johann von Rheidt und Stimmmeister Gerhard vom Wasserfaß, zu ermorden.
Dieser Anschlag war zum Glück vereitelt und einer der Mordgesellen gefasst worden, doch die drei anderen Übeltäter liefen noch frei herum.
»Dasjenige, das mir vorgelesen wurde und das ich wohl verstanden habe, dem werde ich nachkommen, so wahr mir Gott hilft und sein Heiliges Evangelium«, sprach Mertyn Ime Hofe mit fester Stimme den Eid, der ihn zum Ratsherrn machte. Er für seinen Teil war fest entschlossen, die Worte dieses Eides Buchstaben für Buchstaben getreulich zu befolgen.
»Es freut mich außerordentlich, einen Mann wie Euch als Kollegen im Rat zu begrüßen.« Die Freude von Gerhard Wesel war aufrichtig, als er Mertyn und Lisbeth später beim Umtrunk im Haus Zur Roten Tür seine Aufwartung machte. »Und wie ich Euch kenne, habt Ihr sicher bereits Pläne, Eure Zeit im Rat sinnvoll zu nutzen.« Der altgediente Ratsherr und vormalige Bürgermeister lachte.
»Es gibt so viel zu tun, so vieles, das einer Verbesserung bedarf. Ich weiß kaum, womit zu beginnen«, antwortete Mertyn ehrlich.
»Mit dem Seidamt natürlich!«, platzte Lisbeth heraus.
Mertyn runzelte die Stirn ob ihres vorlauten Betragens, doch Wesel lächelte zustimmend. »Das wäre nicht das Schlechteste. Ihr habt eine kluge Gemahlin! Eine neue Zunftordnung für die Seidmacherinnen ist überfällig. Ich selbst habe dereinst einen Bericht über das Seidamt verfasst. Wenn Ihr mögt, lasse ich Euch eine Abschrift zukommen.«
Mertyn nickte widerstrebend, doch als Gerhard von Wesel wenige Tage später seinem Angebot nachkam und den Bericht sandte, begann Mertyn ihn sogleich zu lesen.
Brütend, den Kopf in beide Hände gestützt, traf Lisbeth ihn in seinem Kontor an. »Und, was steht in dem Bericht?«, fragte sie interessiert.
»Stell dir vor, er stammt aus den Jahren 1490 und 1491!«
Lisbeth blickte ihn fragend an. »Und?«
»Lies selbst.« Mertyn drehte das Schriftstück zu ihr herum.
Lisbeth studierte es eingehend.
Wesel hatte bereits damals genau die Missstände angeprangert, die auch heute noch das Seidamt durchzogen wie ein Geschwür. Nur dass inzwischen alles noch schlimmer geworden war.
»Das bedeutet, der Rat weiß seit« – Lisbeth rechnete nach – »seit fünfzehn Jahren schon um die Missstände, aber er hat bis heute nichts dagegen unternommen?«
»Es sieht so aus.« Mertyn nickte. »Der Rat hat zwar immer wieder Ermahnungen und einzelne Verbote ausgesprochen, doch du weißt selbst am besten, wie genau auf deren Einhaltung geachtet wird.« Bedächtig legte Mertyn die Handflächen aneinander. »Um es vorsichtig auszudrücken: Es mag Ratsherren geben, die kein Interesse daran haben, dass sich im Seidamt etwas ändert.«
»Leute wie Johann van Berchem«, stellte Lisbeth fest.
»Leute wie er«, bestätigte Mertyn. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde Berchem bereits Mitte der Siebziger Ratsherr.«
»Mein Gott, was für ein Klüngel! Da soll sich einer wundern, wenn die Bürger schlecht auf den Rat zu sprechen sind.«
»Es ist immer noch der Amtsbrief von 1470 in Kraft. Er wurde noch im gleichen Jahr durch einen Transfixbrief, eine Ergänzung, die an den eigentlichen Brief angeheftet wurde, abgeändert. 1480 hat man eine Überarbeitung entworfen, die jedoch nie zur Gültigkeit gelangte«, rekapitulierte Mertyn sachlich. »Doch ich fürchte, auch diese Überarbeitung ist mittlerweile überholt. Gerhard von Wesel hat recht! Es ist höchste Zeit für einen neuen Transfixbrief!«
Lisbeth zog sich einen Stuhl heran und ließ sich an der Kopfseite von Mertyns Arbeitstisch nieder. »Na dann los!«, sagte sie lächelnd.
Verblüfft starrte Mertyn seine Gemahlin an. Wollte sie etwa mit ihm zusammen einen neuen Transfixbrief entwerfen? Sie als Frau?
Doch Lisbeth schien es ernst zu meinen. Sie nahm einen Bogen Papier und griff zur Feder. »Das Schlimmste ist das Verlegen der Seide«, sagte sie und schrieb es als ersten Punkt auf das Blatt. »Keine Seidmacherin soll künftig eine andere für sich im Verlag arbeiten lassen. Dabei ist der ursprüngliche Gedanke, der letztlich das Verlegen erst ermöglicht, ein guter. Denn nicht jede, die ihre Lehrzeit beendet, besitzt die Mittel, sich selbständig zu machen. Die Zulassung zum Amt kostet einen Rheinischen Gulden für Kinder von Amtsangehörigen und drei für alle anderen. Dies, dazu die Einrichtung der Werkstatt und vor allem die kostspielige Rohseide können sich nicht alle leisten. Man gestattet ihnen daher, für andere um Lohn zu weben, damit sie sich mit dem Handwerk, das sie mühsam erlernt haben, ernähren können.«
Mertyn nickte. Er musste Lisbeth recht geben: Der Verlag war bei weitem das größte Übel. In seinen Augen keimte Respekt auf. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, sich mit ihr zu beraten. Wer wusste schließlich besser Bescheid über die unlauteren Praktiken, derer sich ihre Kolleginnen befleißigten, als sie, die selbst Seidmacherin war?
Lächelnd lehnte er sich in seinem Sessel zurück. »Was weiter?«
»Die Seidspinnerinnen müssen ihren gerechten Lohn erhalten. Und es muss untersagt werden, auswärts gezwirnte Seide einzuführen. Am besten, man verbietet es ganz, sie überhaupt zu verkaufen«, sprudelte Lisbeth hervor. »Und jede, die ihre Lehrzeit beendet hat, muss selbstverständlich zum Amt zugelassen werden, wenn sie es will!« Eine aufgeregte Freude trieb sie an. Endlich konnte sie etwas tun! Konnte etwas gegen die Missstände unternehmen, die schon so lange an ihr nagten!
Abermals nickte Mertyn seine Zustimmung.
Lisbeth kam gar nicht damit nach, ihre Forderungen zu Papier zu bringen, bevor sie schon die nächsten hervorbrachte. »Auch das Geklüngel mit den Färbern muss aufhören. Manche Seidfärber sind nur noch Handlanger der Seidmacherinnen.« Lisbeth krauste die Stirn. »Eigentlich brauchen die Färber eine eigene neue Ordnung. Ihre Löhne müssen festgeschrieben werden und …«
Ein Klopfen an der Tür des Kontors unterbrach Lisbeth mitten im Satz. Unwillig hob sie den Kopf, als Maria, eines ihrer Lehrmädchen, den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Entschuldigt die Störung, Frau Meisterin, da ist Frau Loubach für Euch.«
Widerstrebend erhob Lisbeth sich und begab sich in ihre eigene kleine Schreibstube. Dass Apolonia heute kommen wollte, um wie gewohnt ihren Lohn einzufordern, hatte sie ganz vergessen. Dabei erwartete sie deren Besuche sonst mit Spannung.
Seit jenem unerfreulichen Gespräch mit Brigitta van Berchem über die Zulassung von Rita zum Seidamt war Lisbeth nicht wieder zu deren Kränzchen geladen worden. Doch Apolonia, die von ihrer Base Katharina so manches erfuhr, was dort beredet wurde, versäumte es nicht, Lisbeth auf dem Laufenden zu halten. Heute jedoch lauschte Lisbeth nur mit einem Ohr, als Apolonia ihr den neuesten Klatsch unterbreitete.
»Stellt Euch vor«, sagte die Seidspinnerin, »die alte Mettel ist im Geckenhaus!«
»Mettel van Hielden?«, fragte Lisbeth abwesend und zählte das Geld ab.
»Nein, Mettel Elner! Sie ist völlig übergeschnappt. Mitten in der Nacht ist sie laut schreiend, mit wirrem Haar, barfuß und im Hemd auf die Straße gerannt. Sie ließ sich nicht beruhigen und hat wild um sich geschlagen, so dass man schließlich die Stadtwachen rufen musste.«
»Hm«, brummte Lisbeth zerstreut und reichte Apolonia ihren Lohn, in Gedanken immer noch bei dem Transfixbrief. Hastig verabschiedete sie Apolonia und kehrte in Mertyns Kontor zurück.
»Wo waren wir?«, fragte sie etwas außer Atem, ließ sich wieder in ihren Stuhl sinken und griff nach der Feder, die noch an derselben Stelle lag, an der sie sie niedergelegt hatte.
»Die Färber«, erinnerte Mertyn.
»Die Färber. Sie müssen eigenständig sein. Den Seidmacherinnen muss es verboten werden, die Färbereien zu besitzen. Vielleicht sollte man die Seidfärber überhaupt in die Seidmacherzunft aufnehmen …«
Lisbeth unterbrach sich mitten im Satz. All das hier war nur von Nutzen, wenn man zugleich streng darauf achtete, dass die neuen Gesetze auch eingehalten wurden. Das wurde Lisbeth schlagartig klar.
»Die Webereien müssen kontrolliert werden, und böswillige Übertretungen der Amtsverordnungen sollten mit Verlust der Amtszugehörigkeit bestraft werden. Besser noch: mit dem Verlust der Bürgerrechte!«, sagte sie streng. »Mal sehen, ob das die Damen endlich auf den Pfad der Tugend zurückführt.«
Mertyn musste über das grimmige Gesicht, das ihre Worte begleitete, lächeln, doch in der Sache stimmte er mit ihr überein.
Punkt für Punkt fuhr Lisbeth darin fort, ihre Verbesserungsvorschläge zu notieren, und mit wachsendem Staunen lauschte Mertyn ihren Ausführungen. Nur ab und an unterbrach er sie, wenn sich ihm der Sinn einer ihrer Anordnungen nicht sogleich erschloss.
Immer länger wurde die Liste, und Lisbeth nahm ein weiteres Blatt Papier zur Hand.
Das Licht, das durch die Fenster in das Kontor fiel, wich allmählich der Dämmerung. Mertyn entzündete eine Öllampe auf dem Arbeitstisch, dann erhob er sich, um das Feuer im Kamin anzufachen.
Flackernd warfen die Flammen ihren roten Lichtschein auf Lisbeths Gesicht. Noch nie hatte Mertyn seine Frau in solch begeisterter Konzentration erlebt. Ihre Augen funkelten dunkel, die Spitze ihrer Zunge hatte sie zwischen die Schneidezähne geklemmt.
Mertyns Gedanken schweiften ab, vermochten nicht länger Lisbeths Ausführungen zu folgen, und er spürte, wie ihm der Mund trocken wurde. Nie war sie ihm so begehrenswert erschienen.
»Für heute ist es genug«, entschied er mit rauher Stimme und nahm ihr sanft die Feder aus der Hand. »Wir können morgen weitermachen.«
Widerstrebend blickte Lisbeth auf. Doch ihr Unmut wandelte sich in Überraschung, als sie bemerkte, mit welcher Begehrlichkeit Mertyn sie anschaute. Seine Augen waren dunkel von Verlangen, und Lisbeth spürte ein warmes Kribbeln im Leib. So hatte er sie schon lange nicht mehr angesehen. Nicht mehr seit der Zeit nach ihrer Hochzeit, als er, selbst noch ein junger Bursche, sie als unerfahrene Braut in sein Gemach geführt hatte.
Zögerlich, beinahe verlegen, streckte Mertyn die Hand aus und machte einen unbeholfenen Versuch, Lisbeths Haube zu lösen. Ein wenig schien er sich seiner Begierde zu schämen.
Das gestärkte Kleidungsstück widersetzte sich seinen zaghaften Bemühungen, und die feine Spitze verfing sich in Lisbeths Haar. Entschlossen löste Lisbeth die Haube aus ihren Strähnen und warf sie achtlos auf den Tisch. Die dunklen Locken ringelten sich befreit um ihren Kopf, und mit einem Seufzen zog Mertyn Lisbeth an sich und vergrub sein Gesicht in der dunklen Flut. Seine Lippen fanden ihr Ohr und liebkosten es zärtlich.
Lisbeth ließ ihre Hände unter sein Wams gleiten, und durch das dünne Tuch des Hemdes hindurch spürte sie die Wärme seiner Haut. Sachte fuhr sie mit der Spitze ihres Zeigefingers sein Rückgrat hinab und merkte, wie er unter ihrer Berührung schauderte. Seine Lippen wanderten ihre Schläfe hinauf zur Stirn, küssten ihre Augen, ihren Mund. Zärtlich schmeichelnd liebkoste er ihre Lippen, dann wurde sein Kuss fordernder.
Spielerisch zupften, Lisbeth Mertyns Hemd aus dem Bund seiner Beinlinge und fuhr mit der Hand darunter. Es erregte sie, seine glatte Haut zu fühlen, die sich über den festen Muskeln an seinem Rücken und den Schultern spannte. Die Zeit, die Mertyn auf seinen Reisen im Sattel zubrachte, schien seinen Körper mehr zu stärken, als man es bei einem Handelsherrn erwarten würde.
Auch Mertyn schien ihre Berührung zu gefallen, denn deutlich spürte Lisbeth seine Männlichkeit an ihrem Schoß. Sein Atem ging schneller, und fest zog er sie an sich. Eine warme Woge durchflutete Lisbeths Leib, und ihr entfuhr ein leises Stöhnen. Ihre Beine wurden von einer ungewohnten Schwäche erfasst, und haltsuchend klammerte sie sich an Mertyns Schultern. Nie zuvor hatte Lisbeth ihren Gemahl mit solcher Leidenschaft begehrt.
Hastig löste sie sich aus seiner Umarmung. »Lass uns in die Schlafkammer gehen«, flüsterte sie rauh.
Doch ihr Gemahl schüttelte wortlos den Kopf. Mit einer ausholenden Handbewegung schob er Papiere, Feder und Tinte auf dem Tisch beiseite, fasste Lisbeth um die Taille und setzte sie mit Schwung vor sich auf die glänzend polierte Platte des ehrwürdigen Kaufmannstisches.
Begehrlich strichen seine Hände über ihre Brüste, und seine Finger fanden die Schnürung an ihrem Kleid. Ein wenig unbeholfen machte Mertyn sich daran zu schaffen, doch schließlich gelang es ihm, Lisbeths Mieder zu öffnen. Ein Stöhnen entfuhr ihm, als sich ihm die entblößte Brust seiner Gemahlin in weißer Verlockung darbot.
Zärtlich berührten Mertyns Lippen ihre weiche Haut, umschlossen sanft ihre rosenfarbenen Knospen, küssten und liebkosten sie, derweil seine Hände sich auf eine lustvolle Wanderschaft begaben.
Lisbeth bog den Kopf in den Nacken, und mit einem wohligen Schauder gab sie sich den Liebkosungen ihres Mannes hin. Durch den Stoff ihres Kleides hindurch spürte sie seine Hände über die Rundung ihrer Hüfte streichen, über ihre Beine. Mertyn tastete sich zum Saum ihres Kleides hinab, dann fuhr er auf der Innenseite ihrer Schenkel über ihre bloße Haut wieder hinauf. Seine erkundenden Finger fanden ihre Scham, streichelten, rieben, und Lisbeth stöhnte laut.
Mit sanfter Bestimmtheit schlug Mertyn die Röcke ihres Kleides hinauf bis zu ihren Hüften. Er löste den Riemen an seinen Beinlingen, umfasste ihre Hüften, und mit einem Seufzen schlang sie ihre Arme um seine Schultern, als seine Männlichkeit endlich in sie drang.
Tagelang arbeiteten Mertyn und Lisbeth gemeinsam an ihrem Entwurf für die neue Zunftordnung. Sie überlegten, verwarfen, brachten die Punkte schließlich in sinnvolle Ordnung. Und des Nachts, nach getaner Arbeit, teilten sie das Lager wie Jungvermählte.
Je genauer die einzelnen Bestimmungen für die Seidmacherinnen wurden, je ausgefeilter sich die Gebote formulierten, desto mehr wuchs in Mertyn und Lisbeth die Überzeugung, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Endlich würden Lisbeths Wünsche in Erfüllung gehen, denn dieser Transfixbrief würde das ganze Seidamt verändern!
Und dann kam der Tag, an dem Mertyn den Entwurf dem Rat zur Besprechung vorlegen wollte. Lisbeth verabschiedete ihn an der roten Tür, als er sich am Morgen, angetan mit schwarzem Mantel und Hut, zum Rathaus begab. Vor Aufregung war ihr ganz flau im Magen, und sie beschloss, nicht sogleich in die Werkstatt zu gehen, sondern sich für einen Moment in die Küche zu setzen.
In gemütlichem Geplauder saßen die Lehrmädchen an dem großen, blank gescheuerten Tisch und ließen sich ihr Morgenmahl schmecken. Fröhliche junge Dinger waren es, die Gesichter frisch gewaschen, die Haare sorgfältig zu Zöpfen gebunden.
Lisbeth gesellte sich zu ihnen und griff, noch ganz in Gedanken, nach einem Kanten Brot. Doch sogleich legte sie ihn lustlos wieder beiseite. Sie hatte mehr Appetit auf etwas Herzhaftes. Im Keller stand ein Fass mit sauer eingelegtem Kappes. Vielleicht sollte sie sich davon einen Teller holen?
Die Mädchen ließen sich durch die Anwesenheit ihrer Lehrherrin nicht in ihrem Geschnatter stören. Allenfalls dämpften sie ihr Gelächter. Lisbeth fiel auf, dass Maria nicht mit den anderen lachte. Das rundliche Mädchen mit den rotblonden Zöpfen saß mit angespannter Miene da und warf ihr ab und an einen wachsamen Blick zu. Das war ungewöhnlich, denn sonst war sie keineswegs so zurückhaltend, dachte Lisbeth.
Kritisch blickte sie Maria in das pausbäckige Gesicht. Deren Wangen hatten mehr Farbe als gewohnt, und sie presste die Lippen zusammen. Vielleicht war sie krank, fragte Lisbeth sich. Dann bemerkte sie im lockeren Mieder des Mädchens eine Ausbuchtung, die dort nicht hingehörte. Dort, wo bald einmal eine weibliche Brust das Hemd füllen würde, war ein Höcker. Das Kind schien etwas zu verbergen.
Ruhig erhob Lisbeth sich, ging um den Tisch herum und griff dem Mädchen ohne Vorwarnung ins Hemd. Maria war zu überrascht, um zu protestieren, doch ihr Gesicht färbte sich wie von Purpur übergossen. Das Geplapper der anderen Lehrmädchen verstummte. Aller Augen richteten sich gespannt auf das, was Lisbeth aus Marias Hemd zutage förderte und nun auf den Tisch legte: zwei fette, geräucherte Schweinswürste.
Lisbeth hätte laut lachen mögen. Maria aß gern, aber dass sie so verfressen war, sich Zehrung für den Vormittag einzupacken, hätte sie nicht erwartet. Im Hause Ime Hofe war der Tisch stets reichlich gedeckt, niemand brauchte hier zu hungern.
»Hast du Sorge, bis Mittag zu verhungern?«, fragte Lisbeth und unterdrückte ein Grinsen.
Maria schwieg und starrte betreten auf die Tischplatte.
»Nun sag, was hattest du mit den Würsten vor«, drängte Lisbeth. »Du kannst es ruhig sagen. Ich werde dich nicht bestrafen.«
»Sie sind … ich wollte … sie sind für meine jüngere Base Johanna«, brachte Maria schließlich stockend hervor. »Bitte … ich wollte nicht stehlen. Es ist nur so, dass sie bei ihrer Lehrherrin kaum zu essen bekommt. Nicht so wie hier.« Maria machte eine verlegene Handbewegung, die den Korb mit Brot, den Käse und die Würste auf dem Tisch umfasste. »Hier gibt es so viel, und Johanna hat ständig Hunger …« Um Verzeihung heischend blickte sie Lisbeth an.
»Bei wem ist deine Base denn in der Lehre?«, fragte Lisbeth.
»Bei Grete Elner«, antwortete Maria, den Blick nun wieder auf den Tisch gesenkt.
Lisbeth entfuhr ein Schnauben. Das hätte sie sich denken können. Aus Erzählungen ihrer Mutter und Schwiegermutter wusste sie nur zu gut, dass die Lehrmädchen im Elnerschen Haushalt nicht ausreichend beköstigt wurden.
Unter den erstaunten Blicken ihrer Lehrtöchter griff sie entschlossen nach einem Kanten Brot und einem Stück Käse und drückte beides Maria in die Hand. »Hier, nimm ihr das auch noch mit. Und pass auf, dass die fette Grete es nicht erwischt und selbst isst!«, sagte sie aufgebracht, dann wandte sie sich abrupt ab und presste die Hand vor den Mund. Der herzhafte Duft der Schweinswürste hatte Übelkeit in ihr aufsteigen lassen.
Die Besprechung im Rat dauerte an. Eine solch wichtige Angelegenheit wollte gut bedacht und ausgiebig beredet werden. Lisbeth konnte es kaum erwarten, bis die gnädigen Herren zu einer Entscheidung gelangten. Unkonzentriert und fahrig ging sie ihrer Arbeit nach.
Auch ihr Magen schien das Warten unerträglich zu finden. Zu Unzeiten bekam sie heute Hunger, und wenn sie dann nicht sofort etwas aß, machte er sich mit einem unanständig lauten Knurren bemerkbar. Ob sie sich noch etwas von dem sauren Kappes aus dem Keller holen sollte? Sie hatte zwar am Morgen bereits einen Teller voll des würzigen Kohls gegessen, aber er schmeckte auch gar zu gut. Die Köchin schien diesmal ein anderes Rezept verwendet zu haben. Lisbeth nahm sich vor, sie später danach zu fragen.
Gerade als sie die letzten Fäden des Krautes mit einer Ecke Brot von ihrem Teller aufgewischt hatte, hörte sie das Klappen der Haustür. Das musste Mertyn sein!
Hastig erhob sie sich und eilte ihm entgegen. »Und?«, fragte sie gespannt.
Mertyn lächelte über ihren Eifer. »Ja, der Transfixbrief ist fertig. Verabschiedet und gesiegelt.«
»Erzähl!«, drängte Lisbeth und folgte Mertyn in sein Kontor.
Doch ihr Gemahl genoss es, sie auf die Folter zu spannen. Erst als er das Feuer im Kamin angeschürt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und begann zu berichten: »Es wird verboten, auswärts gezwirnte Seide einzuführen und zu verkaufen. Auch darf sie nicht mit kölnischer vermengt werden.«
Lisbeth nickte zustimmend. »Was noch?«
»Die Seidspinnerinnen dürfen nur noch mit barem Geld und nicht mehr mit Ware entlohnt werden. Nach dem Tod einer Seidmacherin darf der Ehegatte das Gewerbe fortsetzen, und ab sofort verlangt man den Nachweis des Bürgerrechts für die Zulassung zur Zunft«, zählte Mertyn auf. »Dem Rat ist klargeworden, dass der Seidenhandel der Stadt fette Einnahmen beschert. Deshalb wurde genau festgeschrieben, wie das Wiegen gehandhabt werden soll, damit der Rentkammer nichts von den Gebühren entgeht. So muss feucht gewordene Seide vor dem Kauf besichtigt werden.«
Abermals nickte Lisbeth, und Mertyn fuhr fort: »Das Mindestalter für Lehrmädchen ist jetzt elf Jahre, und die Lehrzeit ist um ein Jahr verlängert worden.«
Lisbeth runzelte die Stirn. Das war unnötig. Drei Jahre reichten vollkommen aus, das Handwerk zu erlernen. Diese Maßnahmen dienten nur dazu, den Seidmacherinnen billige und aufgrund des Alters gefügige Hilfskräfte zu bescheren.
»Berchem?«, fragte sie.
»Berchem!«, bestätigte Mertyn und zuckte entschuldigend mit den Schultern. In vielen Punkten war der Rat seinen und Lisbeths Vorschlägen gefolgt. Aber er hatte sich nicht in allen Punkten durchsetzen können.
»Was ist mit den Färbern?«
»Die werden ins Seidamt aufgenommen. Sie müssen das Recht, Seide färben zu dürfen, für fünfzig Goldgulden erwerben und dürfen nur noch für Mitglieder des Seidamtes färben.«
»Das ist ein hoher Preis!«
»Ja«, stimmte Mertyn zu, »dafür wird aber den Seidenweberinnen zugleich verboten, Seide zu färben, und sie dürfen ihre Seide nur noch geschworenen Seidfärbern zum Färben überlassen. Und die Preise für das Färben werden festgeschrieben. Die Färber haben genau Buch zu führen, wie viel und für wen sie färben, um danach die Abgaben für die städtische Rentkammer zu berechnen. Auch da passt der Rat hübsch auf, dass ihm kein Pfennig entgeht. Und sie müssen schwören, das Gewerbe nur innerhalb der Stadt auszuüben und ihr Können nicht aus der Stadt zu tragen.«
»Wunderbar«, lobte Lisbeth. »Und weiter?«
»Tja, es sieht aus, als wäre es den Herren nun Ernst damit, ihre Bestimmungen auch durchzusetzen«, sagte Mertyn und rieb sich zufrieden die Hände. »Wer die Amtsverordnungen böswillig übertritt, riskiert es, aus dem Amt ausgeschlossen zu werden, und muss sogar damit rechnen, seine Bürgerrechte zu verlieren.«
»So muss es sein!«, stimmte Lisbeth zu. »Doch was ist mit dem Verlag?«
Diesen Punkt, der ihr besonders am Herzen lag, hatte Mertyn bisher nicht erwähnt.
»Damit ist es vorbei!«
»Es ist komplett verboten worden, Seide im Verlag weben zu lassen?«, fragte Lisbeth ungläubig. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
»Nicht dem Wortlaut nach«, schränkte Mertyn ein. »Jede Seidmacherin muss jetzt schwören, nur im eigenen Haus, nicht einmal im Haus der Eltern, und nur in Köln ihr Handwerk auszuüben und keine Seide zu verweben, die nicht ihr Eigen ist. Auch nicht die von Eltern oder Verwandten. Und das läuft praktisch auf dasselbe hinaus. Damit ist der Verlag erledigt. Auf den Wortlaut kommt es nicht an.«
»Oh, wie großartig!« Lisbeth sprang auf und eilte um den Tisch herum, um ihren Mann zu umarmen. Von der hastigen Bewegung wurde ihr schwindelig, und sie taumelte.
»Lisbeth! Lisbeth, was ist mit dir, du bist ganz blass«, rief Mertyn besorgt. Er fuhr aus dem Sessel hoch und konnte Lisbeth gerade noch auffangen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
Als Lisbeth erwachte, sah sie durch das Fenster in ihrer Kammer den abnehmenden Mond. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, denn es begann gerade erst zu dämmern, und von der Obermarspforte drang noch geschäftig der Lärm von Karren und Fuhrwerken herauf. Lisbeth fühlte sich frisch und ausgeruht und gar nicht krank. Doch warum war ihr schwindelig geworden? Sie hatte noch nie davon gehört, dass man vor Freude ohnmächtig wurde.
Energisch schob Lisbeth das Federbett beiseite. Sie verspürte einen ordentlichen Appetit und dachte sogleich an den eingelegten Kappes, der in seinem Fass im Keller ihrer harrte. Seltsam, dass sie daran solchen Gefallen fand. Gewöhnlich gehörte er nicht zu ihren Leibspeisen. Dann plötzlich verbanden sich die einzelnen Gedanken in ihrem Kopf und fügten sich wie die Bruchstücke eines zerbrochenen Topfes zu einem Ganzen. Der Kappes, die Ohnmacht.
Mit einem Ruck setzte Lisbeth sich auf und warf einen Blick zu dem eisgelben Mond in ihrem Fenster hinauf. Er sah aus, als hätte ein Riese ein gutes Stück davon abgebissen. Der Vollmond war vorübergegangen, und ihre monatliche Blutung hatte nicht eingesetzt! Über der Geschäftigkeit der vergangenen Wochen hatte sie es gar nicht bemerkt. Konnte es sein, dass sie in Umständen war?
Angestrengt versuchte sie, sich zu entsinnen, wann sie zuletzt ihre Blutung gehabt hatte. Genau konnte sie sich nicht erinnern, doch es musste schon recht lange her sein. Mit der flachen Hand schlug Lisbeth sich vor die Stirn. »Ja, wie blind bist du denn, Frau Ime Hofe!«, schalt sie sich laut.
Eine unbändige Freude durchströmte Lisbeth. Endlich! Endlich würde ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen! Sie hätte jauchzen und tanzen können vor Glück!
Doch ihre ungetrübte Freude währte nicht lange. »Freu dich nicht zu früh«, ermahnte sie sich streng. Schon einmal hatte sie sich voreilig Hoffnung gemacht, um dann den bitteren Schmerz der Enttäuschung zu erleben.
Entschlossen erhob Lisbeth sich von ihrer Bettstatt. Sie würde erst einmal abwarten, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Wenn sie ganz sicher wäre, dass sie gesegneten Leibes war, bliebe noch genug Zeit, sich auf ihr Kind zu freuen.
Doch die Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Und mit jedem Tag, der verstrich, glaubte Lisbeth ein kleines Stück mehr daran, dass ihr Traum diesmal wirklich wahr wurde.