4. Kapitel
Lautes Schwätzen aus gut einem Dutzend Kehlen empfing Lisbeth, als sie in ihre neue Werkstatt trat. Der großzügige Raum nahm die ganze Breite des davorliegenden Hauses ein und maß an die zehn Schritt im Geviert. Lisbeth hatte die Wände und die Deckenbalken, die das flache Dach trugen, neu tünchen lassen. Durch die geöffneten Klappläden der Fenster fluteten genügend Licht und ein warmer Lufthauch herein.
Ordentlich standen die Webstühle, mittlerweile zehn an der Zahl, nebeneinander, drei, drei und in der hinteren Reihe vier. Der Anblick der Werkstatt erfüllte Lisbeth mit Stolz.
Doch sogleich verflog ihre gute Stimmung, denn an den Webstühlen ruhte die Arbeit. Die Frauen – fünf angestellte Weberinnen und alle acht Lehrmädchen – standen in trauter Gemütlichkeit beisammen und schwatzten, als gelte es, einen Preis zu erringen.
Wie gewohnt führte Stina Lommerzheim das Wort, das Becken vorgeschoben, die Fäuste beidseitig in die Hüften gestemmt wie ein Landsknecht. Einzig die kurzsichtige Gertrud, die bereits Fygen zur Hand gegangen war, und eine andere Helferin stapelten Rohseide in eines der hölzernen Regale, die an der Werkstattwand angebracht waren.
Vom Eintreten ihrer Dienstherrin schienen die Weberinnen keinerlei Notiz zu nehmen, oder wenn doch, so war es ihnen nicht Grund genug, wieder an ihre Arbeit zu eilen. Lisbeth krauste verärgert die Nase. Sie hatte nichts dagegen, wenn die Frauen sich bei der Arbeit unterhielten. Vielmehr nahm sie es als Zeichen dafür, dass sie sich untereinander gut verstanden, was ihrer Arbeit nur zugutekam. Doch es konnte nicht angehen, dass sie einfach ihre Arbeit einstellten, sobald Lisbeth den Raum verließ.
Lisbeth räusperte sich, und mit aufreizender Gemächlichkeit wandten sich die Lehrmädchen wieder ihren Aufgaben zu. Die beiden Ältesten, die ihre Lehre noch bei Fygen begonnen hatten und bereits so erfahren waren, dass ihre Gewebe Lisbeths Anforderungen genügten, setzten sich hinter ihre angestammten Webstühle, die anderen sechs fuhren darin fort, die beiden zurzeit unbestückten Webstühle aufzuscheren und von einem dritten das fertige Tuch herunterzuschneiden.
Doch Stina Lommerzheim dachte gar nicht daran, ihren gemütlichen Plausch zu unterbrechen. Lisbeth den Rücken zugewandt, redete sie einfach weiter.
In Lisbeth stieg Ärger auf. Denn dies geschah keineswegs zum ersten Mal. Sie hatte Stina von Katryn übernommen, bei der sie seit Jahren um Lohn gewirkt hatte. Stina war kräftig und konnte zupacken, und sie wusste um ihre Qualitäten als Seidmacherin. Doch es mangelte ihr einfach an Respekt.
Und Stinas Respektlosigkeit hatte – wen nahm es wunder – bereits auf die anderen Seidmacherinnen abgefärbt. Weder die von Katryn noch ihre eigenen wollten hinter Stina zurückstehen. Selbst die Lehrtöchter gehorchten Lisbeth nicht wie früher. Lisbeth verlangte keine übertriebene Höflichkeit, doch sie erwartete, dass die Frauen ihre Arbeit taten – nicht mehr und nicht weniger.
Bereits zwei Mal hatte sie versucht, Stina auf freundliche Weise dazu anzuhalten, fleißiger zu sein. Doch es hatte nicht gefruchtet. Von einer Dienstherrin, die gerade einmal halb so alt war wie sie selbst, wollte Stina sich nichts sagen lassen.
Lisbeth wusste, dass sie sich Respekt verschaffen musste, wollte sie dem faulen Treiben nicht weiterhin zusehen, doch zugleich fürchtete sie die offene Konfrontation mit der Älteren. In ihrer Ratlosigkeit hatte Lisbeth sogar schon daran gedacht, Katryn um Hilfe zu bitten. Doch ihr war klar, dass das Eingreifen ihrer Schwiegermutter die Sache nur umso schlimmer machen würde.
»Ich bedaure sehr, eure traute Runde zu stören. Aber meint ihr nicht, es sei an der Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen?«, fragte sie sarkastisch.
Langsam, mit an Unverschämtheit grenzender Lässigkeit, setzte Stina sich in Bewegung.
Am liebsten hätte Lisbeth Stina an den Armen gepackt, sie ordentlich durchgeschüttelt und zu ihrem Webstuhl gezerrt. Doch sie zwang sich zur Ruhe. Im Stillen zählte sie bis zehn, während sie Stina zu deren Webstuhl folgte. Wenn sie jetzt die Fassung verlor und anfing zu schreien, so würde ihr das erneut als Schwäche ausgelegt.
Lisbeth warf einen flüchtigen Blick auf Stinas Webstuhl. Der schmale Streifen gewebter Seide, der sich um den Warenbaum wand, hatte seit dem Morgen kaum an Länge zugelegt, und das Stück, das entstanden war, zeugte keinesfalls von hoher Kunstfertigkeit. Mit entnervender Umständlichkeit machte Stina Anstalten, sich auf die Bank hinter ihren Webstuhl zu zwängen.
Lisbeth packte die Wut. Ihre braunen Augen färbten sich schwarz vor Zorn. Genug war genug! Das hier war ihre Weberei. »Du brauchst dich gar nicht mehr hinzusetzen«, sagte sie und war selbst überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.
Lisbeths Worte ließen Stina in der Bewegung innehalten, gekrümmt wie ein Fragezeichen, ihr Mund vor Überraschung geöffnet. Plötzlich war es ganz still in der Werkstatt. Auch das Klappern, mit dem die Kammladen an die Warenbäume schlugen, war verstummt. Der pausbäckigen Rita, ihrem jüngsten Lehrmädchen, fiel vor Schreck die Schere, mit der sie Kettfäden auf die rechte Länge zugeschnitten hatte, aus der Hand und rutschte mit metallischem Scheppern über die Bodendielen.
Lisbeth wand die Finger ineinander, damit niemand bemerkte, wie ihre Hände zitterten. »Komm morgen früh in mein Kontor, damit ich dir deinen Lohn auszahle«, fuhr sie fort, als die Schere zum Liegen gekommen war.
»Aber …« Stina suchte nach Worten. Verblüfft starrte sie ihre Brotherrin an.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, schnitt Lisbeth ihr das Wort ab. »Und nun geh!« Lisbeth wandte sich ab, drehte den Frauen den Rücken zu und machte sich an dem Regal zu schaffen, in dem die Rohseide gestapelt wurde. Eine Weile gab sie vor, darin Ordnung zu schaffen, doch tatsächlich rang sie mit ihrer Fassung. Sie hoffte inständig, keine der Frauen möge erkennen, wie es in ihrem Innern aussah.
Immer noch war es still in der Werkstatt, sogar das Atmen schienen die Frauen eingestellt zu haben. Einzig die kurzsichtige Gertrud, die neben Lisbeth am Regal werkelte, schien von der Angelegenheit keine Notiz zu nehmen. Verstohlen zwinkerte sie Lisbeth zu und fuhr unbeirrt damit fort, Lage um Lage der Seidenstränge auf die Regalböden zu schichten.
Dann störte ein Schnaufen die Stille. Lisbeth vernahm klappernde Schritte in hölzernen Trappen und schließlich das Klappen der Werkstatttür, die hinter Stina ins Schloss fiel.
Gertrud hatte derweil das Bündel geleert. Mit festem Schritt durchmaß sie die Werkstatt.
Als sei dies das Zeichen gewesen, auf das alle gewartet hatten, nahmen die Frauen und Mädchen ihre Arbeit wieder auf, und alsbald schallte das gewohnte Klappern der Webstühle auf den Hof hinaus. Lisbeth mochte sich täuschen, doch in ihren Ohren klang es heute emsiger als gewohnt.
Es war eine sehr kleinlaute Seidmacherin, die am nächsten Morgen in Lisbeths Kontor erschien. Inständig bat Stina die Frau Ime Hofe, weiterhin in ihren Diensten bleiben zu dürfen. Über Nacht schien ihr eingefallen zu sein, was sie an ihrer Dienstherrin hatte. Lisbeth zahlte pünktlich ihren Lohn und ließ ihre Weberinnen nicht zu schwer arbeiten.
»Mehr als zehn Jahre habe ich für die Frau Zur Roten Tür gearbeitet. Und nie hatte sie Grund zur Klage. Ihr könnt sie fragen«, beendete Stina die Aufzählung ihrer Qualitäten.
»Nun, ich habe sehr wohl Grund zur Klage«, entgegnete Lisbeth mit unbewegter Miene.
Zerknirscht blickte Stina zu Boden. »Wovon sollen wir denn leben?«, fragte sie leise. Man kannte sich im Seidamt, und Stina konnte sicher sein, dass sich der Grund für ihre Entlassung in Windeseile herumsprechen würde – beileibe keine gute Empfehlung für eine neue Anstellung.
Stina brauchte das Geld. Ihr Mann war einer von der faulen Sorte. Schnell mit dem Mundwerk, den Kopf voller hochfliegender Pläne. Doch von schönen Worten wurde niemand satt. Und wenn es ans Arbeiten ging, dann ließ sich der Herr Lommerzheim stets bitten. Die Kinder waren zwar schon erwachsen, doch während die drei Mädchen – allesamt fleißig und anstellig – verheiratet und aus dem Haus waren, wohnten die beiden Jungen zu Stinas Leidwesen immer noch bei ihr. Sie gerieten dem Vater nach, und auch sie hatten beide das Arbeiten nicht erfunden.
Stina seufzte und biss sich auf die Lippe. Sie brauchte die Arbeit bei Frau Ime Hofe. Wie sollte sie denn sonst die Familie ernähren?
»Das hättest du dir ein wenig früher überlegen müssen. Hier ist dein Lohn«, sagte Lisbeth und schob den kleinen Stapel abgezählter Münzen über den Tisch.
Stina zögerte, ihn zu nehmen. »Bitte, Frau Ime Hofe!«, wagte sie einen letzten Versuch.
Im Grunde war Stina eine gute Arbeiterin, dachte Lisbeth, und wenn sie es künftig nicht an Respekt und Fleiß mangeln ließe, hätte sie nichts dagegen, Stina weiterhin in ihren Diensten zu behalten. Streng blickte Lisbeth sie an. »Also gut. Aber ich will mich nie wieder über dich ärgern müssen!«
Stina blickte ihrer Dienstherrin fest in die Augen. »Das verspreche ich«, sagte sie ernsthaft.
Als Stina das Kontor verlassen hatte, ließ Lisbeth sich in ihren Sessel zurückfallen. Es war einfacher gewesen, sich Respekt zu verschaffen, als sie gedacht hatte. Nur hatte sie dafür erst einmal richtig in Wut geraten müssen, stellte sie verwundert fest und fragte sich, wer von ihnen beiden mehr aus der Sache gelernt hatte, Stina oder sie? Nun blieb zu hoffen, dass Stina sich künftig angemessen verhielt, doch darin war Lisbeth voller Zuversicht.
»Demá!«, schnaubte Fygen verärgert. Soeben war Eckert in ihre Herberge zurückgekehrt, zum dritten Mal ohne Erfolg!
Dabei hatte Fygen es sich ganz einfach vorgestellt. Sie hatte Eckert zur Faktorei der Ravensburger geschickt, um ihren Besuch avisieren zu lassen, bei dem sie dann dem Herrn Alexander gehörig auf den Zahn fühlen wollte.
Dass jener sie nicht empfangen würde, ja, dass Eckert nicht einmal bis zu seinem Kaufmannsgehilfen vordringen würde, hatte sie nicht erwartet. Stets hatte man ihm das Tor vor der Nase zugeschlagen. Demá – hatte man ihm beschieden – morgen. Er solle morgen wiederkommen. Morgen sei der Herr zugegen …
Das war schon eine grobe Frechheit, befand Fygen verärgert. Dieser Herr Alexander schien ein rechter Ausbund an Liebenswürdigkeit zu sein.
Vor einigen Tagen bereits waren sie in Valencia angekommen. Nach dem unerfreulichen Ereignis an Deck der Karavelle hatten sie ohne weitere Zwischenfälle zunächst den Hafen Port de Bouc, am Étang de Caroute, links des Rhônedeltas erreicht. Während ihres nur wenige Tage dauernden Aufenthalts in Martigues, einer Stadt, von Wasserläufen zerschnitten und von Brücken wieder zusammengefügt, hatte sich das Wetter beruhigt, und von da an hatte sich auch das Meer von seiner besten Seite gezeigt. So hatten sie eine und eine halbe Woche später in Valencia, genauer gesagt im Hafen Grao, ein Stück südlich der Stadt, denn Valencia selbst lag nicht am Meer, an Land gehen können.
Fygen kniff die Augen zusammen und musterte Eckert mit kritischem Blick. Sein Gesicht war noch immer von den Spuren der Schlägerei gezeichnet. Während die Schwellung an Fygens Wange bereits nach zwei Tagen abgeklungen war, hatte Eckerts Gesicht für Tage einem nachlässig geformten Brotteig geglichen. Auch jetzt noch war seine rechte Wange dicker als gewohnt und blau-gelb verfärbt. Das Auge hatte sich zwar wieder an die ihm angestammte Stelle zurückgezogen, doch es hatte einen vollendeten violetten Kranz zurückbehalten, der nur ganz allmählich verblasste.
Alles in allem machte Eckert beileibe keinen vertrauenerweckenden Eindruck, das hatte Fygen unschwer an der Miene der Wirtsfrau ablesen können, als sie die Herberge bezogen hatten. Wenn ein Fremder, noch dazu offensichtlich aus fernen Landen, mit einer so zerschundenen Visage an das Tor der Wolkenburg klopfte, so würde es auch kein Leichtes für ihn sein, zu ihr vorgelassen zu werden, dachte Fygen.
Doch ganz gleich, ob Eckerts ramponierte Erscheinung der Grund dafür war, weshalb man ihm die Tür zur Faktorei gewiesen hatte, ihre Geduld mit dem freundlichen Herrn Alexander war nun am Ende. Entschlossen ergriff sie ein leichtes Umschlagtuch, warf es sich um die Schultern und machte sich selbst auf den Weg. Vielleicht würde das Auftreten einer Dame den Bediensteten von Herrn Alexander mehr Respekt abverlangen.
Nicht allzu lang darauf blickte Fygen stirnrunzelnd an dem hohen Haus empor, das die Faktorei der Ravensburger Handelsgesellschaft beherbergte. Mit seinen kleinen Fensterluken wirkte es trutzig und abweisend. Doch diese Bauweise machte Sinn, hatte Fygen in den vergangenen Tagen in ihrer düster anmutenden Herberge erfahren dürfen. Denn die engen Fensteröffnungen ließen nur wenig von der sengenden Mittagshitze ins Innere der Häuser.
Jetzt am Vormittag war es noch angenehm kühl in der schmalen Gasse unweit des Turia, in dessen Beuge sich die Stadt schmiegte. Doch je höher die Sonne am azurnen Himmel steigen würde, desto heißer würde es werden.
Dumpf erklang der Widerhall im Innern des Hofes, als Fygen den schweren Klopfer gegen das Tor schlug, und nach einer Weile näherten sich schlurfende Schritte. Die in den mächtigen Torflügel eingelassene Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein kleinwüchsiger, bereits vom Alter gebeugter Diener mit spitzen Schuhen und langem weißem Hemd streckte vorsichtig seine Hakennase hindurch. Abschätzend legte er das dunkle Gesicht in Falten und musterte sie.
»Ich wünsche deinen Herrn zu sprechen!«, beschied Fygen ihm mit einer gehörigen Portion Herablassung.
Der Diener verbeugte sich und nickte. »Demá«, sagte er.
»Nichts Demá! Jetzt, hier und sofort!«, befahl Fygen. »Verstehst du mich?«
Der Diener nickte abermals und trat einen Schritt zurück. Fygen ihrerseits machte einen Schritt auf die Tür zu, in der Erwartung, der Diener würde ihr Einlass gewähren. Doch stattdessen schloss er die Tür mit einer flinken Bewegung.
Das war unfassbar! Fygen spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. Hatten denn die Menschen hier keinerlei Benehmen?
Doch zur Ehrenrettung der Valencianos öffnete sich alsbald die Tür erneut. Es war ein anderes Gesicht, das im Rahmen erschien, weit jünger und wie frisch gewaschen. Ein junger Bursche mit hellem Blondschopf lächelte sie an. »Senyora, so leid es mir tut: Herr Alexander ist nicht zugegen. Wenn Ihr morgen wiederkommen wollt?« Höflich und in bestem Deutsch mit schwäbischem Einschlag posaunte er die Worte hervor, augenscheinlich ein Lehrling aus Ravensburg, in die Fremde geschickt, um das Kaufmannshandwerk zu erlernen.
Fygen starrte ihn fassungslos an.
»Versteht Ihr mich?«, fragte der Bursche. »Heute nicht! ¡Avui no! ¡Demá!«
Fygen nickte, und bevor sie noch etwas erwidern konnte, hatte sich die Tür wieder geschlossen.
Demá! – es war zum Auswachsen! Fygen entfuhr ein Fluch, doch um Schicklichkeit brauchte sie sich hier wahrlich nicht zu bemühen. Außer Eckert wäre kaum jemand in der Lage zu verstehen, was ein Hundsfott war, und der war von seiner Brotherrin manche Merkwürdigkeit gewohnt.
Entsprechend überrascht fuhr Fygen herum, als sie in ihrem Rücken dennoch ein spitzes Kichern vernahm. Ein junges Ding grinste sie breit an, und es dauerte einen Moment, bis Fygen in ihm Filomena erkannte, die junge Frau, die sie an Bord des Schiffes aus ihrer prekären Situation gerettet hatte.
Filomena war offensichtlich guter Dinge und schien dem Rotgesichtigen nicht länger nachzutrauern, zumal sie einen würdigen Ersatz für ihn gefunden hatte. Der Kerl, der mehr haltsuchend als besitzergreifend seinen Arm um ihre halbnackten Schultern gelegt hatte, dünstete den Wochenumsatz eines mittleren Weinzapfes aus.
Manche verstanden es wohl nicht besser, als sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen, dachte Fygen. »Kennst du den Herrn Alexander?«, fragte sie, mehr, um ihrem Ärger Luft zu machen, als dass sie glaubte, Filomena würde ihr helfen können.
»Wen?«
»Den Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft«, sagte Fygen und deutete mit dem Kinn auf das Haus.
Filomena bedachte Fygen mit einem schrägen Blick aus halb geschlossenen Augen. »¡Fill de mala mare!«, zischte sie leise und spuckte aus. Doch dann entsann sie sich der Münze, die Fygen ihr an Bord der Karavelle geschenkt hatte. »Sicher …«, antwortete sie daher respektvoll.
»Weißt du vielleicht, wo ich ihn finden kann?«, beeilte Fygen sich sie zu fragen. Es war nur ein geringer Hoffnungsschimmer.
»Wenn ich einen von den Pfeffersäcken suchen würde, dann würde ich in die Llotja gehen«, hob Filomena zu einer Antwort an, unterbrach sich jedoch mit einem Quietschen. Den Betrunkenen langweilte das Gespräch der Frauen, und unvermittelt griff er in Filomenas großzügiges Mieder. Halbherzig schob sie ihn von sich, doch der Betrunkene drückte ihr einen feuchten Kuss auf das Ohr und zog sie mit sich fort.
Die Llotja de la Seda. Ohnehin hatte Fygen beabsichtigt, das neue Seidenkaufhaus aufzusuchen, es würde also nicht schaden, sogleich dorthin zu gehen.
Auf ihrem Weg ins Herz der Stadt begegneten Fygen und Eckert nur vereinzelt Menschen in den Gassen. Als sie jedoch den gedrungenen Bau der Kathedrale erreichten, sahen sie sich gezwungen, einen Bogen zu schlagen. Vor dem Apostelportal der Kathedrale hatte sich eine Versammlung gebildet. Einfache Leute waren es zumeist, gekleidet in die schlichten Kittel der Bauern. Man schien zu Gericht zu sitzen, denn einzeln oder zu zweien traten die Landbewohner vor, um einer Gruppe würdig wirkender Herren ihr Begehr vorzutragen.
Als Fygen und Eckert wenig später den Plaza Mercado erreichten, war kaum mehr ein Fortkommen. Dicht drängten sich die Marktbesucher um Stände, auf denen feilgeboten wurde, was dem fruchtbaren Umland der Stadt erwuchs. Fygen betrachtete fasziniert das lebhafte Treiben zwischen den Marktständen, die sich bunt bis in die anliegenden Gassen hineinzogen.
Der Markt war groß. In seiner Ausdehnung gemahnte er sie bald mehr an eine Messe denn an einen gewöhnlichen Markt. Neugierig geworden, bog Fygen, von Eckert gefolgt, in eine Gasse zwischen Marktständen ein, auf denen Säcke voller Reis aus den Anbaugebieten von la Albufera, einem Süßwassersee südlich der Stadt, ihrer Käufer harrten.
Eine Weile ließ sie sich von den Marktbesuchern treiben und genoss die verschwenderische Farbenpracht der üppigen Auslagen mit Obst und Gemüse. Zwischen den Ständen waren immer wieder Orangen zu hüfthohen Bergen aufgestapelt und verströmten ihren unvergleichlich süßen Duft.
Auf einmal spürte Fygen, wie etwas an dem ledernen Beutel zerrte, der an ihrem Gürtel hing. Die schmutzigen Finger eines jungen Diebes waren noch nicht versiert genug, als dass er den Beutel hätte unbemerkt von Fygens Gürtel lösen können. Geistesgegenwärtig griff sie nach dem Strolch, der ihr gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Doch der wartete nicht so lange ab, bis Fygen ihn hätte packen können, sondern suchte sein Heil in der Flucht. Behende bückte er sich und tauchte zwischen zwei Mägden mit prall gefüllten Körben vor ihr hindurch.
»Haltet den Dieb!«, rief Fygen. Doch sie erntete nur verständnislose Blicke um sich herum, denn natürlich verstand niemand ihre deutschen Worte.
Eckert schob sich an ihr vorbei und nahm sofort die Verfolgung auf, doch der Knabe war wendig und schnell. Zwischen einem Stand mit getrockneten Trauben von den Weinbergen an der Küste und einem mit Datteln aus Murcia hindurch flitzte er in die nächste Gasse. Dort hastete er um einen Berg von Wolle herum, wuselte zwischen Stapeln von Leder und ganzen Vliesen von Schafen aus den Bergen hindurch und verschwand schließlich auf Nimmerwiedersehen hinter Haufen von Halfa, einem Gras, das sich vorzüglich für die Fertigung von Seilen, Tauen, Schuhen und Packtuch eignete.
Erst nach geraumer Zeit kehrte Eckert zurück, schwitzend und außer Atem. Weit länger, als den Dieb entwischen zu lassen, hatte er dafür benötigt, in dem Gewühl seine Dienstherrin wiederzufinden.
Die hatte sich derweil vom Marktgeschehen ab- und der Llotja zugewandt, ihrem eigentlichen Ziel auf der Plaza Mercado. Übermächtig und von dem ganzen Treiben unberührt, ragte die Seidenbörse über dem Markt auf, mit ihren dicken, von Zinnen gekrönten Mauern und dem wuchtigen Turm einer Festung gleich. Ein Eindruck, den auch die reichverzierten Spitzbögen und die Steinreliefs nicht zu mildern vermochten, und erst recht nicht die steinernen Wasserspeier, die sich entlang der Dachfront zogen. Fygen erkannte Untiere, Fabelwesen und menschliche Gestalten in höchst unschicklichen Posen.
An der Ecke des Gebäudes lehnten Gerüste. Die Bauarbeiten schienen noch nicht abgeschlossen zu sein, doch zweifelsohne war die neue Seidenbörse, die einheimischen wie fremden Händlern als Verkaufshalle diente, der zu Stein gewordene Ausdruck von der Stärke und Handelsmacht der Stadt.
Ein beeindruckendes, doch keinesfalls einladendes Bauwerk, befand Fygen und trat durch das hohe Eingangstor. Dann jedoch, als sie in den Sala de Contractatión trat, sog sie überrascht die Luft ein. Der Anblick, der sich ihr hier bot, war gänzlich anders, als das Gebäude von außen hatte erwarten lassen. Die Verkaufshalle war von beeindruckender Eleganz. Imposanter noch als der Gürzenich, die gute Stube der Kölner daheim.
Bestimmt vierzig Schritt in der Länge und mehr als zwanzig Schritt in der Breite mochte er messen. Zwei Reihen von je vier schlanken Säulen, die sich wie Spiralen in die Höhe wanden, trugen die schwindelnd hohe Decke und teilten den großen Saal in drei Schiffe. Die Wände waren schlicht gehalten, die Türrahmen und Fensterstürze jedoch waren herrliche Zeugnisse hervorragender Steinmetzkunst. Den Boden hatte man mit hellem und dunklem Marmor belegt.
Zwischen den Säulen waren Verkaufstische plaziert. Männer standen dahinter, davor, zu zweien, in kleinen Gruppen. Man sprach, man handelte, doch anders als auf dem bäuerlichen Markt draußen unter freiem Himmel herrschte hier eine gelassene, der Würde dieses Saales angemessene Geschäftigkeit.
Die Morgensonne flutete durch die Fenster und überzog den Saal und alles darin mit einem goldfarbenen Schimmer, als wüsste sie um die Wichtigkeit der Geschäfte, die hier abgeschlossen wurden.
Ein Künstler war damit zugange, in Höhe der Kapitelle ein die vier Wände umlaufendes Spruchband zu malen. Fygen entzifferte die goldenen Lettern auf dunklem Grund. »Inclita domus sum, annis edificata quindecim. Gustate et videte, concives, quoniam bona est negotiatio, quae non agit dolum …«
»Ein stattlich Bauwerk bin ich, in fünfzehn Jahren errichtet worden. Ihr Bürger, prüft und sehet selbst, wie gut der Handel ist, der keinen Betrug im Munde führt, der dem Nächsten seine Schuld bezahlt und nicht säumig wird, und der sein Geld nicht zu Wucherzinsen verleiht«, übersetzte eine Stimme mit weichem Akzent die lateinischen Worte ins Deutsche.
De la Vega. Sie hatte die Stimme des großgewachsenen Spaniers sogleich erkannt. Fygen runzelte die Stirn. Sie wusste nicht recht, was sie von diesem Mann zu halten hatte. Sein Benehmen schwankte zwischen größter Höflichkeit und unfreundlicher Abwehr, und sein bisweilen unerträglicher Hochmut brachte sie auf.
Gleichwohl war etwas an ihm, das Fygen anzog. Sie vermochte nicht zu sagen, was es war, doch jede Begegnung mit ihm hinterließ in ihr ein beunruhigendes, ja, verwirrendes Gefühl. Und so war sie ihm nach dem unglücklichen Zwischenfall auf dem Schiff bewusst aus dem Weg gegangen.
Jetzt kam ihr seine Anwesenheit jedoch zupass. Fygen wandte sich um und schaute ihm in die Augen, die so überraschend hell in seinem dunklen Gesicht aufblitzten. »Ein hehrer Anspruch, will ich meinen«, sagte sie.
»Es kann nicht schaden, die Kaufleute gelegentlich an ihre Redlichkeit zu gemahnen«, antwortete er mit einem Lächeln. Das Goldlicht im Saal färbte seinen Blick violett.
»Wie wahr!«, stimmte Fygen zu. Ob sich jener impertinente Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft dieses Satzes bewusst war?
Ihr Blick streifte Eckerts gerötetes Gesicht. Die Wärme schien dem alten Mann zuzusetzen. »Ich benötige deine Hilfe im Moment nicht«, sagte sie. »Hier bin ich unter ehrbaren Kaufleuten.«
Unschlüssig trat Eckert von einem Fuß auf den andern. Seit dem Zwischenfall auf der Karavelle hatte er seine Herrin kaum aus den Augen gelassen. Doch in de la Vegas Gesellschaft war seine Herrin gut aufgehoben, das hatte jener bereits hinlänglich bewiesen.
Die Erinnerung an seinen verlorenen Kampf gegen den rotgesichtigen Halunken stach in Eckerts Ehrgefühl wie ein Dorn. Doch andererseits hatte er auch nichts dagegen, sich im Weinzapf auf dem Markt eine Erfrischung zu genehmigen …
Die Entscheidung fiel zugunsten des Weinzapfes, und mit einer steifen Verbeugung verließ der Alte die Llotja.
»Ihr seht mich erstaunt, Euch hier anzutreffen, Senyora Bellinghoven.« De la Vega betonte die Worte wie eine Frage.
Um Fygens Mundwinkel zuckte es belustigt. »Erwähnte ich nicht, dass ich in Geschäften hier bin?«, fragte sie und bedachte ihn mit einem maliziösen Lächeln. »Und wie ich höre, ist dies der rechte Ort für Geschäfte in dieser Stadt.«
De la Vega zog eine Augenbraue hoch und deutete eine Verbeugung an. »Da habt Ihr recht gehört. Und welcher Art sind die Geschäfte, die Euch hierherführen? Datteln, Mandeln, Feigen, Rosinen?« Mit ausholender Geste wies der Spanier in die Runde. In der Llotja wurde beileibe nicht nur Seide gehandelt, obwohl sie einen so großen Anteil stellte, dass sie der Kaufhalle den Namen gab. »Nur Öl sucht Ihr hier vergebens. Das wird nach wie vor in der alten Llotja verkauft.«
Fygen schüttelte den Kopf. »Seide. Ich kaufe Rohseide.«
De la Vega nickte. »So gestattet mir, Euch zu begleiten. Vielleicht kann ich Euch als Tolmetsch behilflich sein?« De la Vega wartete gar nicht ab, bis Fygen ihr Einverständnis gegeben hatte, sondern fasste sie leicht am Arm und führte sie zu einem der Verkaufstische. Darauf waren Stränge von Rohseide zu einem ansehnlichen Berg getürmt.
Kritisch begutachtete Fygen die Seide, nahm einen der Stränge auf und prüfte ihn zwischen den Fingern. Es war Seide von mittlerer Qualität. Fygen fand keinen direkten Fehl daran, doch die Farbe war einen Stich zu gelblich, und die Fäden waren nicht von der Feinheit, die sie sich gewünscht hatte. Rohseide dieser Qualität erhielt sie in Köln ohne Schwierigkeiten aus Venedig. Enttäuscht schüttelte Fygen den Kopf. »Das ist es nicht, was ich suche.«
»Nun, es ist Seda de la tierra y del regno di Valencia, die Seide, die hier in der Umgebung von Valencia gewonnen wird.« De la Vega hob die Schultern.
»Nein, die Seide von Valencia ist besser. Sie steht in ganz außergewöhnlichem Ruf.« Fygen schritt zum nächsten Stand. Der Händler führte die gleiche Qualität. Ebenso sein Nachbar und die drei folgenden. Fygens Mut begann zu sinken. »Aber es muss sie doch geben. Ich habe sie selbst gesehen – die feinste Seide, die ich je in Händen gehalten habe. Und sie stammte aus Valencia!«, sagte sie mehr zu sich selbst als an ihren Begleiter gerichtet.
Ein Lächeln schlich sich auf de la Vegas Züge, und beinahe eilig zog er sie von dem Stand fort. Quer durch den Saal führte er sie und steuerte geradewegs auf einen bestimmten Verkaufstisch zu. Ein Mann in langem, weißem Hemd stand dahinter. Er neigte höflich den Kopf und legte zum Gruß die Hand auf das Herz. Auch vor ihm stapelte sich die Rohseide. Fygen ergriff eine Strähne, und ihr Herz machte einen kleinen Hopser. »Das ist sie! Die Seide, die ich gesucht habe!« Sie strahlte de la Vega an.
De la Vegas Brauen hoben sich beide zugleich, und zum ersten Mal lag Respekt in seinem Blick. »Diese Seide kommt aus Almeria«, sagte er. »Sie ist in der Tat viel feiner als jene aus Valencia.«
»Almeria?«
»Für Euch im Norden mag sie durchaus Seide aus Valencia sein, wenn sie von hier verschifft wurde. Dies hier ist jedoch Seide aus Almeria.«
Der Händler hatte sich höflich zurückgehalten, doch als er den Namen seiner Heimatstadt vernahm, nickte er eifrig und deutete auf seine Auslage. »Sí, sí! Almeria!«
»Die Seide aus Almeria ist sehr kostspielig, aber sicherlich die beste, die es zu kaufen gibt. Es liegt wohl am Futter. Sie geben den Raupen dort die Blätter des Gebirgsmaulbeerbaumes«, erklärte de la Vega, und diesmal trug seine Stimme keine Spur von Arroganz in sich. »Almeria wurde erst vor zehn Jahren aus maurischer Herrschaft befreit.«
Fygen hörte ihm nurmehr mit einem Ohr zu. Almeria! Seide wurde oft nach ihrem Verschiffungsort benannt. Das würde die Missverständnisse mit dem Faktor der Ravensburger erklären. Seine Schlamperei entschuldigte es jedoch nicht.
In blumigen, doch leider für Fygen unverständlichen Worten begann der fremdländische Händler auf sie einzureden. Doch de la Vega winkte ab. »Potser la propera vegada, senyor. Ein andermal.«
Leise raunte er Fygen zu: »Wenn ich Euch einen Rat geben darf, so kauft bei einem anderen Händler. Dieser hier hat nicht den besten Ruf …« Wie selbstverständlich ergriff er ihren Arm und führte sie durch eine rückwärtige Tür aus dem Saal der Säulen hinaus in einen großzügigen Patio.
Den luftigen Innenhof umstanden blühende Orangenbäume, in deren Schatten steinerne Bänke darauf warteten, ermüdeten Kaufleuten nach ihren Geschäften Erholung zu bieten. De la Vega geleitete Fygen zu einer dieser Bänke und entschuldigte sich: »Ihr gestattet, dass ich mich um eine Erfrischung bemühe?«
Sieh an, dieser hochmütige Mann konnte doch sehr zuvorkommend sein, dachte Fygen und ließ sich nieder. In der Mitte des Hofes kühlte plätschernd ein Brunnen die Luft. Ein leichter Windhauch strich unter den Bäumen hindurch und hüllte sie in den süßen, fremdländischen Duft, den die weißen Blüten verschwenderisch verströmten. Für einen Moment schloss Fygen die Augen und überließ sich dem betörenden Duft.
»Wo weilt Ihr mit Euren Gedanken?«
Fygen hatte nicht gehört, dass de la Vega zurückgekommen war. Ihr war Hermans vergeblicher Versuch, Seide am Rhein zu züchten, in den Sinn gekommen. »Ich dachte gerade an die Seidenzuchten. Zu gerne würde ich eine besichtigen.«
»Nun, vielleicht lässt sich das einrichten …« De la Vega wandte sich dem Diener zu, der ihm in den Hof gefolgt war und auf einem Tablett zwei Becher und eine flache Schale mit länglichen Gebäckstücken balancierte.
Während der Diener die Schale auf der Bank abstellte, nahm de la Vega einen der gekühlten Becher vom Tablett und reichte ihn Fygen. Er war gefüllt mit einem cremefarbenen, milchigen Getränk.
Fygen schnupperte daran. Es roch nach Nüssen.
»Horchata, Erdmandelmilch. Habt Ihr sie schon versucht? Es gibt keine bessere Erfrischung!«, schwärmte de la Vega.
Fygen nahm einen Schluck. Es schmeckte süß. Ein wenig eigenwillig, aber gut, fand Fygen. Dann krauste sie die Nase. Die Horchata hinterließ einen leicht pelzigen Geschmack auf der Zunge.
De la Vega reichte ihr die Schale, und Fygen nahm sich eines der fingerlangen, noch warmen Gebäckstücke. »Die Horchata wird erst mit Fartons wirklich zu einem Genuss«, sagte er und griff ebenfalls zu. Bedächtig tunkte er das Gebäck in seinen Becher, bevor er es sich genüsslich in den Mund schob.
Fygen tat es ihm gleich.
»Wundervoll!«, schwärmte sie mit einem Lachen. »Mit dieser Köstlichkeit sollte man Handel treiben!«
Der Gedanke erinnerte sie an den Grund, der sie eigentlich in die Llotja geführt hatte: die Suche nach dem Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft. Jetzt konnte sie auf diesen Halunken pfeifen. Sie würde auch ohne ihn diese wundervolle Seide aus Valencia nach Köln bringen. Vielleicht konnte ihr de la Vega dabei behilflich sein, überlegte sie. Dennoch sollte der feine Herr Alexander nicht ungeschoren davonkommen. Zumindest wollte sie den Schaden, den er ihr zugefügt hatte, ersetzt bekommen.
Wie beiläufig fragte sie: »Ist Euch ein Herr Alexander bekannt? Er ist Obmann der Ravensburger Handelsgesellschaft.«
De la Vega blickte sie für einen Moment verblüfft an. Wieder zog er eine einzelne Augenbraue empor, doch dann umspielte ein amüsiertes Lächeln seine Lippen, und er nickte. »Ihr kennt Herrn Alexander? Ein ehrenwerter Kaufmann. Ich kenne ihn gut. Was wollt Ihr von ihm?«
Fygen zog es vor, ihre wahre Meinung über den Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft für sich zu behalten. »Ich habe Geschäftliches mit ihm zu besprechen. Soweit ich weiß, handelt er mit Seide. Man sagte mir, er sei vielleicht hier in der Llotja anzutreffen.«
»Nun, er ist öfter hier.« De la Vega nickte. Dann hielt er inne und schien zu überlegen. »Nein«, fuhr er fort, »heute habe ich ihn hier noch nicht gesehen. Am besten, Ihr geht in seine Bodega. Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, doch nach der Siesta werdet Ihr ihn dort sicher antreffen.«
»Herein!«, sagte Lisbeth. Sie stand am Fenster in ihrer Schreibstube, mit dem Rücken zum Raum, die Hand unbewusst auf den Unterleib gelegt. In Gedanken weilte sie noch beim vergangenen Abend. Es war eine schöne Feier gewesen, obschon der Tag mit einem Missklang begonnen hatte.
Bei der Morgensuppe hatte Lisbeth Mertyn daran erinnert, dass es seine Aufgabe wäre, die benötigten Gewürze für den Maitrunk zu kaufen. Seit alters her war es Sitte, dass der Herr des Hauses dies am Morgen des Maiumtrunks in höchsteigener Person tat.
Mertyn hatte abwesend genickt, und Lisbeth war davon ausgegangen, dass er sich der Sache annehmen würde. Doch weit gefehlt! Als die Köchin um die Sext bei ihr anfragte, ob der Hausherr die Kräuter besorgt habe – schließlich musste der Maitrunk einige Stunden ziehen –, suchte sie Mertyn in seinem Kontor auf.
Er habe zu tun, hatte er ihr knapp beschieden, kaum dass er den Kopf von seinen Büchern gehoben hatte. Schließlich müsse er ans Geldverdienen denken und könne sich nicht um solchen Firlefanz kümmern. Solle sie doch eine Magd schicken oder selbst gehen, wenn ihr so viel daran liege.
Zunächst war Lisbeth verärgert gewesen, doch dann hatte sie beschlossen, sich von Mertyn nicht den Abend verderben zu lassen. Sie war selbst auf den Domhof und zu Sankt Johann gegangen, hatte Karneel, Ingwer, Nelken und Galgan, ein sehr erhitzendes Gewürz, gekauft. Dazu, obwohl es ein kostspieliges Vergnügen und er eigentlich für den Geschmack nicht vonnöten war, noch etwas Zimt in Stangen. Dann machte es wenigstens Sinn, dass ihr Gatte sich so ausgiebig ums Geldverdienen kümmerte, dachte Lisbeth, nicht ohne einen Anflug von Bosheit.
Die Köchin hatte derweil den Wein, einen leichten von der Mosel, in die blaugraue Rumpfkanne gefüllt. Eigenhändig hatte Lisbeth die Gewürze abgemessen und mit einer großen Menge Honig in die Kanne gegeben, die daraufhin mit einer Schweinsblase luftdicht verschlossen wurde.
Bereits am frühen Abend waren die Gäste erschienen. Man hatte die Fenster zum Saal im Obergeschoss weit geöffnet, um die milde Frühlingsluft hereinzulassen, und an der Tafel herrschte eine freudige Stimmung. Jeder sehnte sich nach dem Frühjahr, und als Lisbeth Platten mit gebratenen Maifischen auftragen ließ, erhob sich beifälliges Gemurmel. Von jeher galt das Auftauchen der schmackhaften Seefische, die den Rhein heraufkamen, um zu laichen, als Beweis dafür, dass es nun endlich Frühling wurde.
Mit großem Appetit machten sich die Gäste über die Fische her, doch als der Hausherr daran ging, von dem Maitrunk in den Wibbel, einen großen grünen Glashumpen, zu schenken, wurde es ruhig im Saal. Bedächtig setzte Mertyn den Deckel auf den Humpen. Am Knauf des Deckels war ein elastischer Draht befestigt, an dessen Ende ein silbernes Vögelchen angebracht war, das nun lebhaft hin und her wibbelte.
Mit unschuldiger Miene reichte Mertyn Herman den Wibbel, wobei er im letzten Moment wie zufällig dem Vögelchen einen Stups versetzte, der dieses in wildes Zucken versetzte.
Herman lachte gutmütig, nahm den Deckel vom Wibbel und legte ihn vor sich auf dem Tisch ab. Der Vogel wibbelte an seinem Draht hin und her. Dann fasste Herman den Humpen mit beiden Händen, legte Daumen und Mittelfinger in die hierfür vorgesehenen Vertiefungen im Glas, setzte den Humpen gemächlich an die Lippen und begann zu trinken. Denn es galt: Wer an der Reihe war, der musste trinken, solange der Vogel wibbelte.
Unter aufmunternden Zurufen leerte Herman den Wibbel weit über die Hälfte, bis das Vögelchen schließlich zur Ruhe kam.
Lisbeth beobachtete, wie Herman den Deckel wieder auf den Krug setzte und ihn an Clairgin weiterreichte, die Lisbeth nicht ohne Hintergedanken neben ihn gesetzt hatte.
Clairgin sah heute besonders hübsch aus, dachte Lisbeth. Ihr enganliegendes Kleid mit den weiten Ärmeln und der hochangesetzten Taille, das in einer kurzen Schleppe auslief, brachte die zierliche Gestalt der Freundin zur Geltung, und der hellblaue Atlas unterstrich die Farbe ihrer Augen aufs Vortreffliche. Sie gäbe bei Gott eine Gemahlin ab, derer sich ein Lützenkirchen nicht zu schämen brauchte.
Herman bemühte sich, den Vogel nicht heftiger in Zuckungen zu versetzen als nötig – eine recht brüderliche Geste. Herman kannte Clairgin aus der Zeit, als diese bei ihnen in der Wolkenburg lebte, wie Fygens andere Lehrtöchter auch.
Clairgin dankte. Mit ruhiger Hand legte sie den Deckel vor sich ab und nahm einen Schluck von dem gewürzten Maiwein. Rasch kam der Vogel zur Ruhe, und Clairgin reichte den Krug weiter.
Clairgin wäre wirklich eine gute Frau für Herman, dachte Lisbeth. Ihr ruhiges, bedachtes Wesen könnte sicher ausgleichend auf Hermans Sprunghaftigkeit wirken. Während sie noch überlegte, wie sie es anstellen sollte, die beiden einander näherzubringen, und der Wibbel die Tafel hinaufwanderte, hatten Mertyn, Herman und ihr Schwager Hans Her sich ihrer liebsten Beschäftigung zugewandt: sich des Langen und Breiten über ihre Geschäfte auszutauschen.
»Die Seidenmanufakturen in Venedig, Genua und Florenz werden immer stärker«, drangen Hermans warnende Worte an Lisbeths Ohr, und sie horchte auf. »Und in Neapel, Mailand und Turin sind neue entstanden.«
»Das mag wohl stimmen«, erwiderte Hans Her. »Doch die italienischen Erzeugnisse stehen nicht mit den kölnischen im Wettbewerb, denn sie finden kaum den Weg auf die Märkte nach Frankfurt oder Antwerpen, dorthin, wo wir den größten Teil unserer Ware absetzen.«
»Auch spanische Seidwaren stehen in gutem Ruf«, ergänzte Stephan. »Vornehmlich die aus Toledo und Sevilla. Doch weder in Antwerpen noch in Frankfurt sind sie mir bisher untergekommen.«
Lisbeth hatte sich in Frankfurt genau umgeschaut, vor allem an den Ständen der Seidmacher aus anderen Städten. »Aus Ulm, Augsburg und Nürnberg haben wir nichts zu befürchten«, sagte sie nicht ohne Stolz. »Vor denen haben wir Kölnischen einen deutlichen Vorsprung, was die Qualität angeht.«
Die Herren und auch Clairgin nickten zustimmend.
»Paris ist nicht zu unterschätzen«, warf Andreas Imhoff wichtig ein, doch Hans winkte ab. »Mit den Franzosen teilt man sich seit langem schon die Käufer. Nein. In den Niederlanden lauert die Konkurrenz. In Gent, Brügge und Antwerpen fertigt man besonders kostbare Erzeugnisse wie Sammet, Atlas und Brokat. Und das zu erschreckend günstigen Preisen.«
Die Herren nickten abermals.
»In Frankfurt hat gerade ein flämischer Händler Clairgins Ware gelobt«, warf Lisbeth ein, vornehmlich, um Hermans Aufmerksamkeit auf die Freundin zu lenken.
Das Lob rötete Clairgins Teint, und verlegen schlang sie ihre Finger ineinander.
Herman nickte Clairgin anerkennend zu, doch er ging nicht weiter darauf ein.
»Gleichwohl. Ihr müsst künftig darauf achten, nur erstklassige Ware herzustellen. Und achtet auch auf die Kosten, damit eure Waren nicht zu teuer werden«, empfahl Hans Lisbeth und Clairgin eindringlich.
Der Wibbel machte weiter seine Runde um die Tafel. Bei Bedarf wurde er von der Schankmagd neu gefüllt, und die Stimmung wurde ausgelassener. Das Gespräch der Herren wandte sich dem Handel mit Eisenwaren zu.
Später am Abend, als man die Tafel aufgehoben hatte und sich mit gefüllten Bechern im Saal verteilte, trat Lisbeth zu ihrem Bruder.
»Und, wie gefällt sie dir?«, wollte Lisbeth von Herman wissen. Die meisten Männer waren ja in Liebesdingen ein wenig schwerfällig. Und statt sich in Andeutungen zu ergehen oder Situationen einzufädeln, in denen die beiden sich begegnen würden, hatte sie beschlossen, Herman geradewegs auf Clairgin anzusprechen.
»Wer?« Ehrlich erstaunt blickte Herman seine Schwester an.
»Clairgin«, antwortete Lisbeth und richtete ihren Blick auf die Freundin, die ein paar Schritt entfernt stand und gerade über einen von Rudolfs Scherzen schmunzelte.
»Clairgin? Wieso?«, fragte Herman und folgte begriffsstutzig Lisbeths Blick.
»Nun, ein erfolgreicher Kaufmann braucht eine Gattin, die ihm zur Seite steht. Du bist im rechten Alter. Es wäre an der Zeit, sich nach einer Braut umzusehen. Clairgin ist …«
»Nein!«, unterbrach Herman sie heftig und so laut, dass die Umstehenden sich zu ihnen umwandten. »Schlag dir das aus dem Kopf und kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten!«
Verblüfft starrte Lisbeth ihren Bruder an. Seine Miene hatte sich von einem Moment zum nächsten verdüstert, und über seiner Nasenwurzel stand eine Zornesfalte. So barsch hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie beide dem Kindesalter entwachsen waren.
»Entschuldige bitte! Ich habe es nur gut ge…«, sagte sie, doch Herman wandte sich ab und ließ sie einfach stehen.
Verärgert schüttelte Lisbeth den Kopf. »Holla, was ist denn in den gefahren?«, brummte sie halblaut und blickte ihrem Bruder empört hinterher, als dieser sich zu Mertyn und Alberto gesellte. Wieso reagierte er so heftig auf diese harmlose Frage?
Wenn er Clairgin nicht mochte, so hätte er ihr das auch freundlicher zu verstehen geben können, dachte sie aufgebracht. Wobei sie sich nicht vorstellen konnte, welche Einwände er gegen ihre Freundin haben könnte. Doch selbst wenn er sie hätte, so war das noch längst kein Grund, sie anzufahren.
Seit wann war es denn ein Vergehen, wenn man sich um das Wohl des eigenen Bruders sorgte, vor allem jetzt, wo Mutter auf Reisen war und seine Schwester Agnes genug mit ihrer eigenen großen Familie zu tun hatte. Und Tante Fya scherte sich ohnehin um niemanden außer um sich selbst.
Ein erneutes Klopfen an der Tür riss Lisbeth aus ihren Gedanken an den vergangenen Abend und brachte sie zurück in ihre Schreibstube. Der Besucher schien ihre Antwort nicht gehört zu haben. »Herein!«, rief sie abermals, lauter diesmal. In diesem Moment spürte sie ein heftiges Ziehen im Unterleib. Ein allzu bekanntes Ziehen, das dem Schmerz vorausging, der ihre Monatsblutung begleitete. Jenes verhasste Ziehen, das ihr sagte, dass es auch in diesem Monat nicht geschehen war, dass ihr Schoß leer geblieben war.
Tränen der Enttäuschung schossen Lisbeth in die Augen. So hatte auch der heilige Kunibert ihr nicht zu helfen vermocht, dachte sie bekümmert und strich traurig mit der Hand über ihren Bauch.
Lisbeth biss sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzudrängen, und wandte sich um. Niemand brauchte ihr schließlich den Kummer anzumerken.
»Hier ist Apolonia Loubach für Sie, Frau Ime Hofe«, sagte die Hausmagd und knickste.
Seit langem schon spann Apolonia Seide für Lisbeth, so wie ihre Mutter Barbara einst für Fygen gearbeitet hatte, und stets zu ihrer Zufriedenheit. Doch heute hatte sie Ernstes mit ihr zu besprechen.
Sie tat es nicht gern, doch eingedenk der Worte, die ihr Schwager Hans über den Handel mit Seidentuchen gesagt hatte, musste sie versuchen, die Kosten für die Herstellung zu senken. Am Einkaufspreis für Rohseide konnte sie nicht viel ändern. Wohl aber an dem, was sie den Spinnerinnen und den Färbern zahlte. Und darum hatte sie Apolonia für heute bestellt.
Im Moment stand Lisbeth der Sinn zwar nicht nach geschäftlichen Verhandlungen, doch zumindest würden diese sie von ihrem Schmerz ablenken, dachte sie und gab der Magd Zeichen, Apolonia in die Stube treten zu lassen. Doch darin hatte Lisbeth sich gründlich geirrt. Denn die junge Seidspinnerin schob einen ansehnlichen Bauch vor sich her, und es war nicht zu übersehen, dass Apolonia in gesegneten Umständen war.
Lisbeth gab es einen neidvollen Stich. Reichte ihr Kummer denn nicht aus? Musste man denn auch noch das Messer in der Wunde herumdrehen, dachte sie bitter. Warum bekam Apolonia ein Kind und nicht sie? Warum?
Nicht, dass Lisbeth es der Seidspinnerin nicht gegönnt hätte. Von ihr aus konnte Apolonia ein ganzes Dutzend Kinder haben, aber sie wollte auch eines.
Krampfhaft presste Lisbeth die Lippen zusammen, bemüht, nicht auf Apolonias Bauch zu schauen, und schroffer, als beabsichtigt, sagte sie: »Ich kann dir künftig nur noch zehn Albus pro Pfund zahlen.«
Bestürzt starrte Apolonia sie an. »Aber Ihr gebt mir meist Talayer Seide, die feinste überhaupt. Die Lohntaxe hierfür ist vierzehn Albus«, brachte sie hervor.
»Die Beginen nehmen acht«, erwiderte Lisbeth.
»Aber es ist untersagt, den Beginen Seide zu bringen«, sagte Apolonia leise.
Das stimmte. Laut Zunftbrief war es nach wie vor verboten, den geistlichen Frauen Seide zum Spinnen zu überlassen, doch anders als zu Zeiten von Lisbeths Mutter, als dieses Vergehen als Strafe den Ausschluss aus der Zunft nach sich gezogen hatte, scherte sich heute niemand mehr darum. Alle machten es. Das wusste Apolonia so gut wie Lisbeth.
Die Beginen – zumindest die vom Annenkonvent – arbeiteten gut. Sie waren zwar nicht so schnell wie die zünftigen Seidspinnerinnen, vermutlich weil sie einen nicht geringen Teil ihrer Zeit im Gebet zubrachten, dachte Lisbeth. Doch da der Lohn pro Pfund entrichtet wurde, konnte ihr das gleich sein.
Das einzige Problem war, dass die zwölf Frauen im Annenkonvent nicht annähernd die Möglichkeiten hatten, all die Seide zu verarbeiten, die Lisbeth kaufte. Doch das brauchte Apolonia Loubach nicht zu wissen.
»Zwölf?«, fragte Apolonia zaghaft und presste die Lippen abwartend aufeinander.
Lisbeth zögerte einen Moment. Hatte sie Apolonia eben noch beneidet, so verspürte sie jetzt Mitleid mit der jungen Frau. Die Seidspinnerinnen waren beileibe nicht so wohlhabend wie die Seidenweberinnen. Die Rohseide, die sie bearbeiteten, war nicht ihr Eigentum, und trotz aller Fertigkeit blieben sie stets Lohnarbeiter für die Seidmacherinnen und brachten es selbst nie zu richtigem Wohlstand. Und anders als sie, die einen wohlhabenden Kaufmann zum Manne hatte, war Apolonia auf den Ertrag ihrer Hände Arbeit angewiesen, das wusste Lisbeth wohl. Und bald hätte sie ein weiteres Menschlein zu füttern …
Doch Lisbeth wusste auch, dass manch andere Seidmacherinnen noch härter mit ihren Spinnerinnen umsprangen, sie mit Stoffen entlohnten anstatt mit Geld, für welche die Frauen, wenn sie sie verkauften, weniger erhielten als den vereinbarten Lohn. Für einen Moment getraute Lisbeth sich, ihren Blick auf Apolonias Bauch ruhen zu lassen. »Also gut«, entschied sie schließlich. »Um unserer langen Zusammenarbeit willen: zwölf.«