2. Kapitel
Ich würde mich in Grund und Boden schämen, so etwas zum Verkauf anzubieten!«, raunte Lisbeth ihrer Freundin Clairgin zu.
Seit jenem lang vergangenen Tag, an dem Clairgin zu ihnen in die Wolkenburg gekommen war, um bei Fygen das Seidenhandwerk zu lernen, verband die beiden Frauen eine enge Freundschaft.
Clairgin van Breitbach stammte aus Xanten. Allein und auf sich gestellt, ohne einen einzigen Verwandten in der Stadt zu haben, war sie, damals zwölfjährig, nach Köln gekommen. Rasch hatte sie sich an die gleichaltrige Lisbeth angeschlossen, und bis auf den heutigen Tag fühlte Lisbeth sich mit Clairgin enger verbunden als mit ihren Schwestern, denn mit ihr teilte sie ihre Liebe für das Seidmachen.
Sosehr sich die beiden Frauen im Äußeren unterscheiden mochten – die dunkle Lisbeth mit ihrem frischen Teint und den wilden Locken, die ihr meist unter der Haube hervorzurutschen drohten, und die blasse, stets adrette Clairgin mit den wasserblauen Augen, der auch jetzt das ordentlich gescheitelte, glatte Blondhaar nicht weiter unter der weißen Haube hervorlugte, als es die Schicklichkeit gebot – so verschieden waren sie auch dem Wesen nach. Mit ihrer stillen, ausgleichenden Art war Clairgin stets der ruhige Gegenpol zu der lebhaften Lisbeth gewesen.
Clairgin war nicht augenfällig schön, doch ihr ovales Gesicht mit den gleichmäßigen Zügen war in einer zurückhaltenden Weise anziehend, und dass Lisbeth die Auffälligere von beiden war, tat der Freundschaft keinen Abbruch. Im gleichen Jahr hatten sie ihre Prüfung vor dem Seidamt abgelegt, und Lisbeth hatte Mertyn noch im selben Jahr geheiratet, Clairgin ihren Mathias im Jahr darauf.
Hätte man die beiden jungen Frauen je gefragt, was sie so zueinander hinzog, so wären sie wohl zu dem Schluss gekommen, dass es neben der Seidenweberei genau jene Gegensätze sein mochten, die sie aneinander schätzten.
»Bitte?«, fragte Clairgin. Sie hatte Lisbeths Flüstern nicht verstanden.
»Ich würde mich in Grund und Boden schämen, so etwas zum Verkauf anzubieten!«, wiederholte Lisbeth ihre Worte nun etwas lauter.
»Tut sie auch«, gab Clairgin zurück und deutete mit dem Kinn auf Irma van Neyll.
Mit gesenktem Kopf, das Gesicht von der Farbe eines Puters und die Hände verlegen in den Stoff ihrer Schürze gekrallt, stand die stämmige Seidmacherin vor den Versammelten.
Grade einmal eine Woche war es her, dass man aus Frankfurt zurückgekehrt war, und kaum, dass man sich wieder eingerichtet und – so man noch welche hatte – die unverkaufte Ware zurück in die Lager getragen hatte, hatten die Zunftvorsitzenden, die beiden Damen und die beiden Herren vom Seidamt, das gemeine Amt einberufen, die allgemeine Meisterversammlung.
Wie in jedem Jahr war die Zunft der kölnischen Seidmacherinnen nahezu geschlossen zur Messe gereist, bot doch die Fastenmesse in Frankfurt die besten Möglichkeiten, ihre Waren an den Mann zu bringen. Zwar verkaufte man einen Großteil der Seide gleich in Köln, wo nicht nur der Bischofshof in seinem Glanz nach dem edlen Tuch verlangte, sondern wo durch den wachsenden Wohlstand der Stadt seidene Stoffe nicht mehr nur für die Allerreichsten erschwinglich waren. Dennoch war der Bedarf auch dieser prachtvollen Stadt nicht groß genug, all die Seide aufzunehmen, welche die regsamen Seidenweberinnen des kölnischen Seidamtes herzustellen vermochten.
In Frankfurt kamen alle zusammen, die im großen Stil zu kaufen und zu verkaufen trachteten. Händler der Hanse aus Nord und Ost, Kaufleute aus Flandern und London und nicht zuletzt die Vertreter der großen Oberdeutschen Handelshäuser, die ihre verzweigten Netze bis in den Mittelmeerraum spannten. Und die Geschäfte gingen gut, denn kölnische Seide hatte einen ganz ausgezeichneten Ruf in der bekannten Welt.
Dieser Ruf, von dem ihr aller Wohl abhing, war es, der die Seidmacherinnen heute hatte zusammenkommen lassen. Denn eine von ihnen hatte diesen Ruf in Gefahr gebracht.
Nicht alle achtunddreißig eingetragenen Meisterinnen, Hauptfrauen der Seidmacherzunft, waren erschienen. Doch jene, die ihr Gewerbe tatsächlich betrieben und nicht nur dem Papier nach Seidmacherin waren, wie Lisbeths Schwestern Agnes und Sophie, hatten sich eingefunden. Bald dreißig Meisterinnen waren es daher, die sich um den langen Tisch im großen Saal des Hauses von Johann Kyndorp drängten, auf den nun zwei Knechte ballenweise Seide luden. Da die Zunft immer noch eines eigenen Zunfthauses ermangelte, war man im Haus des amtierenden Zunftmeisters zusammengekommen.
Prüfend befühlten einige der Frauen die Stoffe, die sich auf dem Tisch stapelten, und ihre Mienen drückten höchstes Missfallen aus. Die Gewebe waren an vielen Stellen fehlerhaft, dort, wo Garn neu angesetzt worden war, hatten sich dicke Knoten gebildet, und die Ränder der Stoffe waren lappig und wellten sich. Das Urteil war längst gefallen. Man war sich einig – diese Seide verdiente den Namen nicht.
Brigitta van Berchem war klein gewachsen, doch niemandem würde je der Fehler unterlaufen, die drahtige Amtsmeisterin mit den markanten Gesichtszügen zu übersehen. Ihre Nase sprang spitz hervor, und tiefe Furchen zogen sich von den Mundwinkeln herab zu einem scharfkantigen Kinn. Und so wandten sich auch jetzt die Blicke aller Anwesenden der energischen Person in den Dreißigern zu, die soeben, flankiert von ihrer Schwester Gunda, nach vorn trat.
Lisbeth stieß Clairgin mit dem Ellbogen an und deutete verstohlen mit dem Kinn auf die Schwestern. »Die Berchem wie gewohnt mit ihrem Schatten«, flüsterte sie.
Clairgin kicherte leise.
Die Nichten von Bürgermeister Johann van Berchem traten immer gemeinsam in Erscheinung. Gunda war das um wenig größere, breitere und um nur weniges jüngere Abbild von Brigitta, doch ihre Gesichtszüge waren etwas weicher. Und sie war immer dort, wo auch Brigitta war, in diesem Fall vor den versammelten Mitgliedern des Seidamtes, obwohl sie gar nicht dem Zunftvorstand angehörte.
Brigitta van Berchem warf einen wachen Blick aus dunklen Augen in die Runde, und das Tuscheln erstarb, als sie Irma eine Schere in die Hand gab. Schweigend, teilweise mit strafender Miene, starrten die Frauen auf die Schuldige, und während zwei von ihren Lehrmädchen den ersten Ballen abwickelten, setzte Irma die Schere an, die Lippen fest zusammengekniffen. Mit einem grässlichen Geräusch fuhren die Klingen in den Stoff, schnitten ihn entzwei, Elle für Elle. Das Werk von Wochen, ja, Monaten ging in Fetzen, glitt über die Tischkante hinab und kringelte sich wie welkes Laub auf den Bodendielen.
Es fiel keine böse Bemerkung, keine Häme troff auf Irma herab. Aber andererseits verspürte auch keine der Anwesenden Mitleid mit der Seidenweberin. Wer so schlechte Seide zu verkaufen suchte, gefährdete den Ruf aller und hatte Strafe verdient.
Ruchbar war die Sache bereits in Frankfurt geworden, als ein rotbezopfter flämischer Händler an Clairgins Stand in den Römerhallen getreten war. Kurz hatte er Clairgins Seide betrachtet, befühlt und dann mit Posaunenstimme ausgerufen: »Ja, das ist kölnische Seide! Nicht solch ein Gelumpe wie dort drüben!« Mit ausgestrecktem Arm hatte der Flame auf den Verkaufsstand von Irma van Neyll gewiesen.
Lisbeth, die ihren Stand gleich neben dem von Clairgin hatte, ein paar andere Seidmacherinnen und darüber hinaus leider auch einige Käufer waren Zeuge dieses Zwischenfalls geworden.
Clairgin hatte die Sache nicht zum Nachteil gereicht, denn das überschwengliche Lob des Seidenhändlers hatte andere Käufer an ihren Stand gelockt und ihr gute Umsätze eingetragen.
Später am Tag, als sich ihnen die Gelegenheit bot, hatten Lisbeth und Clairgin Irmas Seide unauffällig in Augenschein genommen. Sie konnten dem Flamen nur zustimmen: Die Qualität war gänzlich unbefriedigend.
Gleich nach ihrer Rückkehr waren die Damen und Herren vom Seidamt dann ihrer Pflicht nachgekommen und hatten, ganz so, wie es der Zunftbrief vorsah, Irmas Betrieb besichtigt und die von ihr hergestellte Seide näher untersucht. Alles, was nicht den Anforderungen genügt hatte, und das war das meiste, war beschlagnahmt worden, und zur Strafe musste Irma es nun vor den Augen des versammelten Seidamtes eigenhändig zerschneiden.
»Ich bin sicher, Irma wird künftig viel Sorgfalt auf ihre Weberei verwenden«, bemerkte Clairgin, als sich die Versammlung auflöste und sie mit Lisbeth das Haus des Seidenhändlers Kyndorp verließ. Es dunkelte bereits, doch der Abend war milde, und das Versprechen des nahen Frühlings lag schon in der Luft.
»Was sagst du?«, fragte Lisbeth abwesend.
»Ich meine, diese Blamage wirkt mehr als die Geldstrafe, die Irma an die Zunft zu zahlen hat.«
Lisbeth nickte beiläufig. Ihre Gedanken weilten längst nicht mehr bei der säumigen Seidmacherin. Prüfend blickte sie zum Himmel. Eben stieg der volle Mond über die Dächer am Alter Markt. Wenn sie sich beeilte, wäre sie zu Hause, bevor es gänzlich finster wurde. Mertyn würde ihr Fehlen ohnehin nicht auffallen, er pflegte bis spät im Kontor über seinen Büchern zu sitzen.
Flüchtig verabschiedete sie sich von Clairgin, zog ihren Umhang über den Schultern zusammen und wandte sich zum Gehen. Doch zur Verwunderung der Freundin schlug sie nicht den Weg nach Sankt Alban ein, wo die Ime Hofe und andere wohlhabende Seidmacher ihre Häuser hatten, sondern wandte sich nach Norden.
Schnell kroch die Dunkelheit aus den Winkeln, und Lisbeth beschleunigte ihren Schritt, denn obschon die Nachtwächter ihre Runden drehten, waren die Straßen zur Nachtzeit nicht immer sicher. Ein ums andere Mal wandte sie forschend den Kopf, doch die Schatten verschluckten die Gestalt, die ihr in einigem Abstand folgte.
Längst hatte Lisbeth den Dom passiert und erreichte Sankt Lyskirchen an der Ecke zur Trankgasse. Sie eilte die Johannisstraße entlang, bis sie endlich den gedrungenen Bau von Sankt Kunibert vor sich sah. Wie ein riesiges schlafendes Tier mutete die Kirche in der Dunkelheit an, und Lisbeth schauderte. Kurz hielt sie inne. Am liebsten wäre sie umgekehrt und unverrichteter Dinge heimgekehrt in die warme Sicherheit ihres Hauses.
Doch dann nahm sie ihren Mut zusammen, holte tief Luft und schalt sich einen Hasenfuß. Wenn sie es heute nicht fertigbrachte, würde ein weiterer Monat vergehen, bis der Mond sich aufs Neue rundete, bis sie es wieder versuchen könnte. Ein langer Monat voller Hoffen, und am Ende würde doch nur wieder schmerzliche Enttäuschung stehen.
Lisbeth straffte die Schultern, dann erklomm sie die wenigen Stufen zum Portal, drückte das Tor auf und trat in das Gotteshaus.
Düsternis umfing sie im Innern der Kirche. Nur hier und dort brannte auf einem Altar ein ewiges Licht. Beherzt nahm Lisbeth ein Wachslicht aus einer Halterung an der Wand. Flackerndes Licht fiel auf die Skulptur des heiligen Quirinus und ließ das Antlitz des Heiligen zu einer Fratze geraten. Lisbeth erschrak, und ohne noch einmal nach rechts oder links zu schauen, strebte sie der schmalen Treppe zu, die zur Krypta hinabführte, die unter dem Chor lag.
Als Lisbeth den ersten Fuß auf die Stiege gesetzt hatte, vermeinte sie Schritte hinter sich zu hören. Sie spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken kroch und eine feine Gänsehaut zurückließ. Abermals hielt sie inne. Warum war sie auch allein hergekommen?
Weil die Schwestern nie den Mut aufgebracht hätten, sie zu begleiten, gab sie sich selbst die Antwort. Ihre Mutter war wohl längst jenseits der Alpen, Clairgin hätte sie nicht fragen mögen, denn die hatte wahrlich andere Sorgen, und Mertyn … Lisbeth mochte sich seinen spöttischen Kommentar gar nicht vorstellen. Er hätte dieses Unterfangen zumindest als groben Schwachsinn bezeichnet. Aber Mertyn schien die ganze Sache ohnehin nicht so zu schmerzen wie sie.
Nein, das hier war ihre Angelegenheit, und sie musste sie allein durchstehen. Lisbeth nahm allen Mut zusammen, biss sich fest auf die Lippe, und ohne sich umzuwenden, stieg sie hinab.
Modriger Geruch umfing Lisbeth, und sie hob das Licht. Die Stiege hatte sie in ein saalartiges Gewölbe geführt, dessen Decke von einer einzelnen Säule getragen wurde.
Langsam umrundete Lisbeth den Pfeiler. Da war der Brunnenschacht! Lisbeth sank vor dem Pütz auf die Knie und stellte das Licht neben sich auf dem Lehmboden ab. Vorsichtig wagte sie einen Blick in den tiefen Schacht hinein, doch außer finsterer Schwärze konnte sie nichts darin erkennen.
Ehrfürchtig faltete Lisbeth die Hände und sprach ein stummes Gebet zur Mutter Gottes. Dann griff sie entschlossen nach dem Eimer, der neben dem Brunnen stand, und ließ ihn an seinem langen Strick in den Schacht hinab. Hohl und überlaut tönte das Scheppern, mit dem der Eimer an der gemauerten Brunnenwand anstieß, durch das Gewölbe.
Der Eimer klatschte auf die Wasseroberfläche, und behende zog Lisbeth ihn wieder zu sich herauf. Mit hohler Hand schöpfte sie Wasser und trank davon, wieder und wieder. Schließlich ließ sie den Eimer fahren und schlug die Hände vors Gesicht. »Mutter Gottes«, flehte sie leise, »mach, dass ich endlich schwanger werde!«
Das Wasser des Kunibertspütz, so ging die Legende, vermochte das Wunder zu vollbringen, Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit zu befreien. Am Grunde des Brunnens, wo es hell und warm war, wie es hieß, hütete die Mutter Gottes die ungeborenen Kinder, spielte mit ihnen und fütterte sie mit Brei. Trank eine Frau in der Vollmondnacht von dem Wasser, so erfuhr die Jungfrau Maria davon, und nach neun Monaten hielt die junge Mutter ihr Kind in den Armen.
Die Vorstellung von den vielen kleinen Kindern im Brunnen ließ Lisbeth die Kehle eng werden. Wenn es doch diesmal gelingen würde, hoffte sie, und ein bitteres Schluchzen ließ ihren Leib erzittern.
Sie fühlte sich so wertlos. Was, wenn nicht die Freuden der Mutterschaft, waren einer Frau Bestimmung und Erfüllung?
Stets gab es ihr einen Stich, wenn sie in die pausbäckigen Gesichter von Agnes’ Kindern blickte. Insbesondere die vierjährige Sophie mit ihrem verschmitzten Lächeln und den dunklen Kringellocken könnte sie ständig an sich drücken und herzen. Wenn sie eine Tochter hätte, würde sie Sophie vielleicht ähneln …
Lisbeth liefen die Tränen über das Gesicht. Wie oft hatte sie schon die zuständigen Schutzheiligen angerufen, den heiligen Gregor, den heiligen Albert. Und am Tag der heiligen Anna vergaß sie nie, der Mutter Marien eine Kerze anzuzünden. Doch all ihre Gebete hatten bislang keine Folgen gezeitigt.
Was hatte sie denn getan? Welche schwere Sünde hatte sie auf sich geladen, die eine solche Strafe Gottes verdient hätte?
Plötzlich spürte Lisbeth eine Bewegung neben sich. Mit leisem Schrei zuckte sie zusammen und sprang auf. Sie hatte sich allein in der schauerlichen Krypta gewähnt.
Neben ihr stand eine Gestalt, gerade einmal einen Schritt entfernt. Ihr Gesicht verbarg sich in den Schatten des Umhangs, den sie sich über das Haupt gezogen hatte. Lisbeth war starr vor Schreck, unfähig, sich zu bewegen oder um Hilfe zu rufen.
Jetzt trat die Gestalt nah zu ihr, streckte die Hand nach ihr aus.
»Scht, Lisbeth, ich bin es«, flüsterte eine sanfte Stimme. Die Gestalt streifte den Umhang vom Kopf, und erst jetzt, als das Licht Clairgins Züge der Düsterheit der Krypta entriss, erkannte Lisbeth ihre Freundin. Aufschluchzend ließ sie den Kopf an deren Brust sinken und weinte bitterlich.
Clairgin legte sachte den Arm um Lisbeths Schultern. Es war für sie ein Leichtes gewesen, den Grund für Lisbeths nächtlichen Besuch in Sankt Kunibert zu erraten. »Sei nicht so verzweifelt«, suchte sie die Freundin zu trösten. »Du bekommst sicher noch Kinder. Du bist ja gerade einmal zwanzig. Das ist doch kein Grund für solch einen Kummer.«
»Was verstehst du denn davon? Du hast zwei wundervolle Töchter!«, fuhr Lisbeth auf.
»Da hast du recht. Davon verstehe ich nichts«, sagte Clairgin leise. »Aber vom Kummer verstehe ich eine ganze Menge.«
Lisbeth schwieg betroffen. Von Kummer verstand Clairgin wirklich eine Menge. Denn Clairgin war bereits Witwe. Erst vor Jahresfrist hatte sie Mathias zu Grabe getragen – vielmehr: Sie hätte ihn gerne beerdigt, um ein Grab zu haben, an dem sie ihn hätte betrauern können, doch die Fluten des Rheines hatten ihn behalten.
Mathias war Weinhändler gewesen, und auf einer seiner Reisen den Rhein hinauf war er bei Bingen ertrunken, just, als Clairgin mit ihrer zweiten Tochter in Umständen war. Seither musste die junge Witwe den Widrigkeiten des Lebens allein entgegentreten, denn außer einem unfreundlichen Schwager hatte sie keine Verwandten in Köln.
Lisbeth trocknete ihre Tränen. Die Freundin hatte recht. Sie brauchte ihr gar nicht zu sagen, welches Glück sie hatte. Sie hatte einen Beruf, der ihr Freude bereitete und ein nicht geringes Einkommen verschaffte, ein hübsches Haus in Sankt Alban und einen Mann, den sie liebte. Gut, in letzter Zeit hatte Mertyn wenig Zeit für seine junge Frau erübrigen können. Er arbeitete viel und interessierte sich darüber hinaus für die Belange der Stadt.
Doch nein, sie durfte nicht unzufrieden sein.
»Der heilige Kunibert wird es schon richten. Warte es ab«, tröstete Clairgin. »Und nun komm, wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen.«
Ein letzter Schluchzer entfuhr Lisbeth. Dann nickte sie tapfer und folgte der Freundin die Stiege hinauf. Der heilige Kunibert würde es richten!
Als sie das Haus betrat, saß Mertyn nicht mehr über seinen Büchern. Darin hatte Lisbeth sich geirrt. Aus der Stube drangen aufgeregte Stimmen und herzhaftes Männerlachen. Neugierig öffnete sie die Stubentür, um zu sehen, wer die späten Gäste waren, denn Mertyn hatte keinen Besucher erwartet.
Noch in Reisekleidung, mit derbem Wams und ledernen Beinlingen, saßen zwei Männer bei Mertyn am Tisch, vor sich einen Krug mit Wein und gut gefüllte Becher. Ehe ihr Mann Lisbeth begrüßen konnte, war einer der Gäste, ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit wirrem Blondschopf, aufgesprungen, hatte sie um die Mitte gefasst und schwenkte sie ausgelassen im Kreis.
Herman! Herman war heimgekehrt. Glücklich drückte Lisbeth ihren Stiefbruder an sich.
Als Herman seine Schwester endlich zu Boden ließ, wandte sie sich dem anderen Besucher zu. »Dann müsst Ihr Alberto sein«, schloss sie mit einem freundlichen Lächeln.
Der Südländer erhob sich und nickte. Weiß blitzten seine Zähne in dem sonnengebräunten Gesicht, und als er ihr Lächeln erwiderte, traf sie sein samtiger Blick unter dunklen Wimpern hervor. Neben dem großgewachsenen Herman wirkte Alberto beinahe zierlich, doch dieser Eindruck täuschte. Der Italiener war drahtig, und unter dem fein gefältelten Hemd, das er unter dem groben Wolltuch trug, zeichneten sich deutlich die Stränge seiner Muskeln ab. Er musste einige Jahre älter sein als Herman, die Mitte der dreißig hatte er sicherlich überschritten, schätzte Lisbeth. Auf jeden Fall hatte er die längsten Wimpern, die sie je bei einem Mann gesehen hatte.
»Komm, setz dich und trink einen Becher Wein mit uns«, sagte Mertyn. »Schließlich kommt dein Bruder nicht alle Tage aus Lucca zu Besuch.« Seine dunklen Augen blickten freundlich, und seine Züge blieben unbewegt. Einzig an der Weise, wie Mertyn den linken Mundwinkel verzog, erkannte Lisbeth den feinen Spott.
So ganz hatte Mertyn seinen Groll dem Schwager gegenüber noch nicht überwunden. Denn schließlich war es nicht wenig Geld gewesen, das er in Hermans Versuch, bei Rheinbach Seidenraupen zu züchten, gesteckt hatte. Dass dieser nach seinem tragischen Scheitern ohne ein Wort des Abschiedes oder einer angemessenen Entschuldigung Köln verlassen und nach Lucca gegangen war, um sich vor der Verantwortung zu drücken, hatte er ihm lange verübelt.
»Und, wie steht es mit den Seidenraupen?« Mertyn konnte sich nicht verkneifen, danach zu fragen, während Lisbeth sich neben Herman auf der Bank niederließ.
»Gut, dass du es erwähnst«, antwortete Herman mit einem breiten Lächeln, band ein schweres Ledersäcklein vom Gürtel und reichte es Mertyn über den Tisch hinweg. »Sie fühlen sich in Lucca einfach wohler als hier!«
Mertyn nickte. Wortlos, und ohne das Geld nachzuzählen, knotete er den Beutel an seinen eigenen Gürtel. Dann lächelte er Herman offen an. Für ihn war die Angelegenheit damit aus der Welt geschafft.
»Wieso bist du zurück?«, wollte Lisbeth von Herman wissen, während sie sich einen Becher Wein einschenkte.
Hermans Miene spannte sich an, und er zögerte einen Moment. Dann breitete er theatralisch die Arme aus und kniff die Augen zu einem schalkhaften Lächeln zusammen. »Ich hatte Sehnsucht nach euch allen«, sagte er gedehnt. »Nein, im Ernst: Ich dachte mir, in Köln ist genug Platz für einen weiteren Seidenhändler.«
»Das heißt also, du bleibst hier?«, hakte Lisbeth nach. Ihr Blick streifte Alberto. Täuschte sie sich, oder überzog eine feine Röte das Gesicht des Italieners?
»Ja. Und ich denke, es ist kein Schaden, wenn jemand sich um die Geschäfte kümmert, zumal jetzt, da Mutter auf Reisen ist.«
»Du weißt es schon? Also warst du bereits in der Wolkenburg?«
Herman nickte. »Ja, Stephan sagte es mir.« Er schüttelte den Kopf, als er an seine kurze Begegnung mit Mertyns Stiefbruder dachte. Der junge Mann hatte auf ihn sehr angespannt gewirkt, und einen Moment lang war es Herman so vorgekommen, als sei die überschwengliche Herzlichkeit, mit welcher der Jüngere ihn begrüßt hatte, nicht ehrlich gewesen. Doch rasch schob er den Gedanken beiseite. Natürlich war der Junge angespannt. Die Verantwortung, die Fygen ihm übertragen hatte, wog sicher nicht leicht auf seinen Schultern. Abermals schüttelte Herman den Kopf, heftiger jetzt. Dass seine Mutter es aber auch fertigbrachte, zu verreisen und das Geschäft in den Händen eines Lehrjungen zurückzulassen – mochte der auch noch so versiert sein!
Spät am Abend beim Zubettgehen, nachdem man Hermans Rückkehr mit einem ausgiebigen Nachtmahl würdig begangen hatte, hallten noch ein paar Fetzen des Gesprächs in Lisbeth nach, und kurz fragte sie sich, ob Herman ihr tatsächlich den wahren Grund genannt hatte, weshalb er nach Köln zurückgekehrt war. Doch sie war viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Pflichtschuldig, bereits im Halbschlaf, sprach sie ihr Nachtgebet, das wie stets damit endete, dass sie den Herrgott um eine sichere Heimkehr für ihre Mutter bat.
Vielleicht waren es Lisbeths Gebete, die dafür gesorgt hatten, dass Fygens Reise bisher ohne unangenehme Zwischenfälle verlaufen war. Von Frankfurt aus war sie gar nicht erst nach Köln zurückgekehrt, sondern in Begleitung des alten Eckert weiter den Rhein hinaufgereist, kaum dass die Fastenmesse nach Ostern ihr Ende gefunden hatte.
Nie wäre sie auf die Idee gekommen, den mittlerweile betagten Kaufmannsgehilfen mit auf die Reise zu nehmen. Doch da hatte sie die Rechnung ohne den alten Eckert gemacht. Störrisch wie eh, hatte er die Arme vor der Brust verschränkt und das Kinn vorgereckt. Ob sie sich höflich daran erinnern möge, dass der selige Herr Lützenkirchen einmal einen unerfahrenen Reiseknecht nach London mitgenommen hätte, und welch unermesslicher Schaden ihm daraus erwachsen war …
Fygen hatte sich höflich erinnert. Unermesslicher Schaden traf den Sachverhalt in keiner Weise. Es hatte nicht viel gefehlt, und Peter hätte in einem schrecklichen Verlies im Tower von London sein Leben gelassen.
In aller Selbstverständlichkeit hatte Eckert in der Folge die Vorbereitungen getroffen, sein Bündel gepackt, und als Fygen sich anschickte, nach Frankfurt zu fahren, hatte er bereitgestanden. Wenn Fygen ehrlich war, so war es ihr ganz recht, den erfahrenen Kaufmannsgehilfen an ihrer Seite zu wissen.
In Lindau waren sie dann mit Hans Her dem Älteren zusammengetroffen, dem Vater ihres Eidams, der für die Ravensburger englische Wolltuche und Barchent aus Oberdeutschland über die Alpen brachte. Seit Jahren schon stand der stiernackige Mann mit der wettergegerbten Haut in Diensten der Gesellschaft. Er gehöre nicht in eine Schreibstube, hatte er ihr gutmütig grinsend erklärt. Er fühle sich am wohlsten auf der Straße, und so zuverlässig er stets die Waren beförderte, so sicher geleitete er auch Fygen und Eckert immer höher hinauf, mitten hinein in das hohe, ehrfurchtgebietende Gebirge.
Auf den Spitzen der Gipfel, die ihren Weg säumten, an ihren Nordflanken und in schattigen Tälern lag noch tiefer Schnee, doch der solide gebaute Saumweg war weitgehend schneefrei und durchgängig passierbar. Er hatte an den steilen Stellen Pflästerung und Stufen und führte sie durch eine hügelige Landschaft mit kleinen Mooren hinauf auf die Höhen des Bernhardinpasses.
Scharen von Vögeln, die auf ihrem Zug nach Norden hier Rast einlegten, begrüßten sie, eine jede nach ihrer Art mit Gesang oder Gekreisch, und Fygen konnte gut verstehen, dass dieser Pass Vogelberg geheißen hatte, bevor man ihm den Namen des heiligen Bernhard gab.
Als sie das Joch erreicht hatten, zwang ein anhaltendes Unwetter sie, ihre Reise zu unterbrechen und im Hospiz Bernhards auf dem Berg, das Reisenden unentgeltlich Unterkunft bot, für einige Tage Quartier zu nehmen. Sie nutzten die Gelegenheit, sich von den Strapazen der Reise auszuruhen und in der Kapelle, die man zu Ehren des Heiligen errichtet hatte, für ihre sichere Weiterreise zu beten.
Sankt Bernhard schien ihnen gewogen, denn das Unwetter blieb die einzige Unbill, die sie auf ihrem Weg zu erdulden hatten. Obzwar die heftigen Regenfälle den Boden aufgeweicht hatten, trafen weder Lawinen noch Steinschläge ihren Zug oder verbauten ihnen den Pfad.
So anstrengend die Reise über die hohen Berge auch war, immer wieder belohnte das Gebirge die Reisenden mit unerwarteten Ausblicken auf schneebedeckte Gipfel, die in der Sonne wie Juwelen glitzerten, streute ihnen farbenprächtige, nie gesehene Blumen auf den Weg, versorgte sie mit frischem Wasser und verwöhnte sie mit köstlichem Fisch aus seinen eisklaren Bächen.
Endlich hatten sie die schroffen Höhen des Gebirges hinter sich gelassen, und ihr Weg führte sie stetig bergab, den sonnigen Hängen Oberitaliens zu.
In Chum hätte Fygen gern länger Aufenthalt genommen, um sich die Seidenwirkereien der Stadt anzuschauen, doch das Reisewetter war günstig, und so drängte Hans Her zu ihrem Bedauern auf eine baldige Weiterreise.
Als sie Mailand erreichten, empfing sie eine frühsommerliche Wärme. Sie hatten es beinahe geschafft. Auf ihrem Weg nach Genua hatten sie nur noch die – verglichen mit den Alpen – niedrigen Ausläufer des Ligurischen Apennin zu überqueren.
Von seinen Höhen aus erblickte Fygen zum ersten Mal das Mittelmeer, und ihr war es, als hätte sie nie zuvor etwas Schöneres gesehen. Mit den bleifarbenen Wassern der Nordsee hatte dieses Meer nur den Namen gemein. Tiefblau, schimmernd wie feinstes Seidentuch, lag es unter ihr, und seine Ränder verwoben sich im milchigen Dunst mit dem nicht minder blauen Himmel.
Wenige Tage nur hatten sie Aufenthalt in Genua genommen, doch die hatten ausgereicht, dass Fygen ein Stück ihres Herzens an die lebhafte Hafenstadt verlor. An den Fuß der steil ansteigenden Berge des Apennin geklammert, schien sie sich ganz dem Meer zugewandt zu haben und war von einer wehrhaften Mauer umgeben, die sich auf den Bergrücken oberhalb der Stadt entlangzog.
Die Menschen, die hier lebten, waren freundlich – auch zu Fremden. Sie redeten laut, lachten laut und sangen laut. Und manchmal stritten sie nicht minder laut. Doch gleichgültig, was sie taten, es geschah mit einer Leidenschaft und Herzlichkeit, die Fygen rasch für sie eingenommen hatte.
Sie hatte das Treiben auf der Via di San Lorenzo, der pulsierenden Lebensader der Stadt, genossen, wenn des Abends die Hitze wich und Handel getrieben wurde, mit Öl, Wein, Thunfisch, Leder und Seife, und sie hatte sich nicht satt essen können an den schmackhaften Gerichten, die zumeist aus fadenförmigen Mehlspeisen bestanden, laganelle genannt, die in Wasser gekocht und mit roten oder grünen, scharf gewürzten Saucen übergossen waren, an aromatischem Käse und an flachen Broten, die noch warm serviert wurden.
»Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihr nicht wünscht, dass Euer Eintreffen in Valencia allzu zeitig bekannt wird«, hatte Eckert augenzwinkernd gesagt, kaum dass sie in Genua angekommen waren. Er war zum Hafen geeilt und hatte ihre Passage unter »Van Bellinghoven« gebucht, Fygens Mädchennamen, und heute nun am frühen Morgen – viel zu bald, wenn es nach Fygen ging – hatten sie sich auf einer venezianischen Karavelle eingeschifft.
Vom Deck des Schiffes aus blickte Fygen gebannt auf das geschäftige Treiben auf den Kais. Tief sog sie den Geruch des Hafens in sich auf, jene unverwechselbare Mischung aus Salz und Seetang, die sich mit dem Gestank von verderbendem Fisch vereinte. Das Lärmen, das untrennbar zum Leben im Hafen gehörte, drang zu ihr herauf: das Fluchen der Schauerleute, das Ächzen von Tauen und Seilwinden. Übertönt wurde es vom Kreischen der Möwen, die über den Booten kreisten, in der Hoffnung, einer der Fischer würde ihnen ein bequemes Mahl bereiten.
Derweil schritt das Beladen ihrer Karavelle fort. Eines nach dem anderen verschwanden Fässer und Ballen im dunklen Bauch des Zweimasters. Eben mühten sich zwei Männer mit dem breitbeinigen Gang der Seeleute die Planke zum Schiff hinauf, ein ausladendes Bündel auf den massigen Schultern. Als die Schauerleute an Fygen vorbei dem Abgang zum Frachtraum zustrebten, erkannte sie, dass das Bündel eines der ihren war.
Fygen führte nur wenige Waren mit sich, um ihre Reise nicht unnötig zu verlangsamen, und vor allem keine sehr kostbaren Güter. Dieses Bündel enthielt schmale Ravensburger Leinwand, die der alte Hans Her für Valencia mitgenommen hatte. Unverkennbar prangte darauf neben dem Handelszeichen der Ravensburger nun ihr eigenes: ein stilisiertes »F«, dessen unteres Ende sich verzweigte nach links in ein »L« und nach rechts in das bekannte, jedoch viel kleinere Kreuz aus Peters Handelszeichen.
Peters Emblem, ein Kreuz, das über ein Quadrat gelegt war und dieses in der Mitte teilte, machte sie traurig. Zu sehr gemahnte es sie an einen Sarg. Und obschon es unter den Kaufleuten bekannt war, hatte Fygen sich ein neues Handelszeichen zugelegt, als sie die Geschäfte übernommen hatte, auch als Symbol dafür, dass eine neue Zeit angebrochen war.
Für einen Moment ruhte Fygens Blick auf der dunklen Prägung. Das »L« sah aus wie ein Stiefel. Ja, das ganze Zeichen wirkte wie ein Männlein, das mit großen Schritten vorwärtseilte, unbekannten Gefilden entgegen. Wieso war ihr das bisher noch nicht aufgefallen? Das Zeichen war wirklich passend, dachte Fygen, und ein angeregtes Kribbeln durchströmte sie.
»Senyora!« Ein breitschultriger Mann hatte die schmale Planke erklommen und verbeugte sich knapp in ihre Richtung. Er war hochgewachsen für einen Südländer, stellte Fygen fest. Seit sie die Alpen überquert hatten, schien es ihr, als seien die Menschen um sie her geschrumpft. Doch dieser Reisende überragte den Kapitän der Karavelle, die Männer der Besatzung und die Hafenarbeiter fast um Haupteslänge.
Kurz traf sie ein Blick aus azurnen Augen, und Fygen senkte rasch den Kopf. Augen wie diese hatten von jeher vermocht, sie zu verwirren.
Sicheren Schrittes strebte der Mann dem Achterkastell zu, und Fygen musterte ihn verstohlen unter halb gesenkten Augenlidern hervor. Er mochte ein paar Jahre älter sein als sie, vielleicht vier oder fünf, denn sein nachtschwarzes, ordentlich frisiertes Haar war an den Schläfen bereits von silbernen Strähnen durchwoben. Obschon es ein warmer Tag zu werden versprach, trug er einen schweren Reiseumhang um die Schultern, sichtlich aus gutem Tuch gefertigt.
Für einen Moment vermeinte Fygen etwas in seinen sonnengebräunten Zügen zu erblicken, das ihr seltsam vertraut war, obwohl sie sicher war, dem Mann nie zuvor begegnet zu sein. Dann hatte der Reisende das Achterkastell erreicht und verschwand im Aufgang zu den Kajüten.
Plötzlich erfasste hastige Betriebsamkeit die Männer der Besatzung. Die letzten Frachtstücke wurden festgezurrt und die Segel gesetzt. Die Schauerleute verließen das Schiff, und gerade, als man die Ladeplanken auf den Kai stoßen wollte, eilten zwei späte Passagiere herbei: ein feister, rotgesichtiger Kerl in beflecktem Wams und eine magere junge Frau. Sie war fast noch ein Kind, doch bereits in gesegneten Umständen. Unordentlich lugten ihr die Haare unter der Haube hervor, und ihr linkes Auge war wie von einem Schlag blau unterlaufen.
Fygen beobachtete, wie der Kapitän auf die beiden zutrat, die Arme gewichtig in die Hüften gestützt. Ein paar Münzen wechselten verstohlen den Besitzer. Der Kapitän wies mit ausgestrecktem Arm auf das Ruderhaus, und die beiden Gestalten schlichen mit ihren Bündeln in die angegebene Richtung davon.
Langsam, und zunächst nur mit geringer Segelfläche, setzte sich die Karavelle in Bewegung. Als sie jedoch das schützende Hafenbecken verlassen hatte, setzte man weitere Segel, und begleitet vom Schreien der Möwen, nahm das Schiff Fahrt auf.
Rasch wurden die Menschen auf den Kais kleiner, verschmolzen mit den Häusern, und kurz darauf hatten auch diese sich mit den bewaldeten Hügeln zu einer blaugrünen Silhouette gefügt. Die Wogen rollten stärker, jetzt, da sie das offene Meer erreicht hatten, und der Wind nahm zu.
Eine geraume Weile stand Fygen da, genoss das Auf und Ab des Schiffes und den frischen Wind auf der Haut. Doch als sie schließlich ihren Blick von der Küstenlinie abwandte, musste sie feststellen, dass sich am Horizont bleifarbene Wolken zusammenballten. Unwillkürlich krampften sich ihre Finger um das vom Salzwasser ausgelaugte Holz der Reling. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre beiden früheren Seereisen, und sie hoffte inständig, diesmal von der Seekrankheit verschont zu bleiben.
Nicht ohne Grund hatte sie die weitaus anstrengendere Route mit dem Wagen über die Alpen gewählt, anstatt von Köln aus den Rhein hinab nach Antwerpen und dann weiter mit einer Nau um Portugal herum über San Lucar nach Valencia zu reisen. Sie wollte das Atlantische Meer mit seinen rauhen und unberechenbaren Wettern meiden und hatte stattdessen die Schlaglöcher und den Staub der Straßen in Kauf genommen. Doch nun musste sie feststellen, dass auch dieses wunderschöne Meer seine Tücken hatte.
Fygen spürte, wie ein leichtes Unwohlsein von ihr Besitz ergriff, und um sich abzulenken, richtete sie ihren Blick auf das verluderte Paar, das sich mit seinen schmuddeligen Bündeln mittschiffs in der Nähe des Ruderhauses auf den Planken niedergelassen hatte.
Eben trat ein bulliger Matrose zu den beiden und sprach sie an. Mit ausgestreckter Hand wies er dabei auf die Frau, die vehement den Kopf schüttelte. Zornig blies der Rotgesichtige die Backen auf und brüllte die Frau an. Was er ihr allerdings vorwarf, konnte Fygen nicht verstehen, denn er wechselte in rascher Folge vom Deutschen in eine Sprache, von der Fygen annahm, dass sie in südlichen Ländern gesprochen wurde, vielleicht sogar dort, wohin sie reisten.
In schrillem Ton keifte die Frau zurück und stemmte die Arme in die Hüften.
Der Rotgesichtige reckte sich, holte unvermittelt aus und schlug der Frau mit dem Handrücken ins Gesicht. Die Wucht des Schlages warf sie auf die Planken, wo sie sich zusammenkrümmte und kläglich greinend liegen blieb.
Ohne aufzustehen, streckte der Rotgesichtige dem Matrosen die Hand hin, und abermals wechselte ein Geldstück den Besitzer. Dann packte der Seemann die Frau am Arm, zerrte sie auf die Beine und verschwand mit ihr hinter dem Ruderhaus, während der Rotgesichtige seinem Bündel einen Krug entnahm, sich lang ausstreckte und, auf seinen Ellbogen gestützt, daraus trank.
»Pack schlägt sich – Pack verträgt sich!«, murmelte Eckert.
Fygen wandte den Blick ab. Diese Szene war eher dazu angetan, die Übelkeit zu verstärken, die in ihr aufstieg, als sie zu zerstreuen. Vielleicht sollte sie sich doch besser in ihre Kabine begeben? Nur ungern würde sie sich die Blöße geben, sich vor den Augen der Mannschaft über die Reling hinweg erleichtern zu müssen. Fygen seufzte ergeben. So würde sie abermals eine Seefahrt damit verbringen, einen Spuckeimer im Arm zu halten.
Als sie dem Achterkastell zuschritt, kam ihr der hochgewachsene Reisende mit den blauen Augen entgegen, den Mantel immer noch lose um die Schultern gelegt. Darunter trug er ein nachtblaues Wams über einem sauberen weißen Hemd. Unter seinen enganliegenden Beinlingen zeichneten sich sehnig die Stränge seiner Muskeln ab und verschwanden im ledernen Schaft seiner hohen Stiefel.
»Martinez de la Vega«, sagte er mit angedeuteter Verbeugung.
»Das kann ja kein Mensch aussprechen«, murmelte Fygen leise für sich, in der Annahme, de la Vega sei ihrer Sprache unkundig. Doch zu ihrer Überraschung zog jener eine Augenbraue abschätzend hoch, als hätte er ihre Worte verstanden.
»Fygen Lü…, Fygen van Bellinghoven«, stellte Fygen sich ihrerseits vor. Ein seltsames Gefühl, nach so vielen Jahren, in denen sie Peters Namen getragen hatte, nun ihren Mädchennamen zu nennen. Es mochte wohl seinen Sinn haben, doch es fühlte sich an wie ein kleiner Verrat.
De la Vega nickte. »Ihr reist zu Eurem Gatten, Senyora?« Er sprach die deutsche Sprache mit einem wohlklingenden Akzent, der die Worte mit hartem Laut beginnen, jedoch weich enden ließ, und Fygen errötete.
»Nein. Ich bin in Geschäften unterwegs«, entgegnete sie. Nie hätte sie es zugeben mögen, doch sie genoss den Nachhall dieser Worte. In Geschäften unterwegs …
De la Vega zog die zweite Augenbraue hoch. »In Geschäften!« Trotz des Akzents war die Herablassung in seinem Ton deutlich zu vernehmen. Seine Miene ließ jedoch nicht erkennen, ob seine Missbilligung ihrer Tätigkeit galt, oder ob er Fygens Behauptung schlicht für aus der Luft gegriffen hielt. In jedem Fall geruhte er nicht weiter auf ihre Entgegnung einzugehen. »Ihr solltet unter Deck gehen. Es kann ungemütlich werden hier draußen«, riet er.
Was für ein arroganter Kerl, dachte Fygen. Doch wen nahm es wunder? Der Spanier war nicht der Einzige, der sich ob ihrer Idee, auf Reisen zu gehen, irritiert gezeigt hatte.
Fygen musste schmunzeln, wenn sie sich daran erinnerte, wie die Familie auf ihre Entscheidung reagiert hatte. Wie sogar Katryn versucht hatte, ihr die Sache auszureden. Es war ungewöhnlich für eine Frau, eine solch weite Reise zu unternehmen, ja. Aber was war überhaupt gewöhnlich in ihrem Leben? Ihr Beruf als Faktor sicher auch nicht.
Einzig Lisbeth hatte die Neuigkeit mit einem schalkhaften Zwinkern quittiert. Sie hatte verstehen können, dass es Fygen wichtig war, den Dingen in Valencia auf den Grund zu gehen. Doch das war es nicht allein. Ihre Jüngste kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es nicht minder die Lust am Abenteuer war, welche die Mutter reizte. Jene Lust, die sie ihrem Mann insgeheim stets vorgeworfen hatte, wenn er sein Leben auf seinen Handelsreisen aufs Spiel gesetzt hatte.
»Ihr entschuldigt mich?« Mit knapp bemessenem Nicken, das seinem Hochmut in nichts nachstand, wandte sie sich ab und schritt mit gerafften Röcken an de la Vega vorbei, dem Achterkastell zu.
In dem Moment erfasste eine besonders heftige Böe das Schiff, und die Krängung ließ Fygen straucheln. Breitbeinig musste sie Halt auf den Planken suchen, was ihren würdevollen Abgang deutlich beeinträchtigte.
»Senyora!« Abermals deutete de la Vega eine Verbeugung an. Nur mit Mühe unterdrückte er ein breites Grinsen.