5.  Kapitel

Es war immer noch warm, als Fygen sich in Eckerts Begleitung nach der Siesta auf den Weg in die Bodega machte, aber die Sonne hatte ihre stechende Kraft verloren und warf lange Schatten auf die Plaza Mercado. Die Händler hatten ihre Marktstände abgebaut, doch das Treiben in den Gassen war nicht weniger geworden.

Fasziniert blickte Fygen in geschminkte Gesichter, etwas, das man zu Hause nicht oft sah, und sog den Duft schwerer Parfums ein. Das lebhafte Gewirr von fremdländischen Sprachen drang ihr in die Ohren, und am liebsten hätte sie sich auf einem Treppenabsatz niedergelassen und dem Treiben zugeschaut, so aufregend anders waren diese Stadt und ihre Bewohner.

Nach de la Vegas Beschreibung sollte es nicht allzu schwierig sein, die Bodega der Gesellschaft zu finden. In der Nähe der Llotja verließen Fygen und Eckert den Markt durch die Puerta de Tudela, einen Durchbruch in der Mauer, und bogen zielstrebig in die Puerta nueva ein.

Die Gasse war gesäumt von Geschäften, die Lebensmittel feilboten. Ihre farbig gestrichenen Türen standen offen, und der Duft nach fremden Gewürzen drang heraus und durchzog die Straße. Offene Säcke mit Reis, Kisten mit Orangen, Körbe mit blassgrünen Kohlköpfen, Rüben und Gemüse, deren Namen Fygen nicht zu nennen wusste, standen in heillosem Durcheinander bis auf die Gasse hinaus. Es gab Früchte, die waren in Größe und Farbe Hühnereiern nicht unähnlich, andere lockten prall-rot mit glänzender Schale und waren nur murmelgroß, wieder andere dunkelgrün oder hellgelb und gebogen. Fygen hatte sie nie zuvor gesehen. Doch sie hatte davon reden hören, dass man in der Neuen Welt fremdartige Gemüsesorten gefunden hatte, die es hier nicht gab. Und dass die Seeleute Pflanzen mitgebracht hätten, damit die Bauern sie hier anbauten. Vielleicht stammten diese Früchte ja von dort?

In den Geschäften drängten sich die Käufer unter Bündeln von zu Strängen geflochtenen Zwiebeln und Knoblauch, die von der Decke baumelten.

Gewissenhaft zählte Fygen die Türen ab. Die fünfte Tür nach der Puerta de Tudela sollte es sein. Grün gestrichen. Dort! Da musste es sein. Valencia war die einzige Stadt, in der die Ravensburger Handelsgesellschaft neben dem Gelieger, in dem die großen Geschäfte abgeschlossen wurden, auch noch einen Kleinverkauf unterhielt – eben die Bodega.

Sie lag wirklich in allerbester Geschäftslage, dachte Fygen und trat ein. Überrascht von der Größe des Raumes, blieb sie an der Tür stehen und blickte sich um. Anders als in den Läden, an denen sie soeben vorbeigekommen war, herrschte in der Bodega der Oberdeutschen eine peinliche Ordnung.

Ringsum erklommen Regale aus dunkel poliertem Holz die Wände des Raumes bis hinauf zur hohen Decke. Davor standen schwere Verkaufstische, gefertigt aus demselben Holz wie die Wandregale. Glänzende Töpfe, Tiegel, Kannen und Pfannen, die den weiten Weg aus Nürnberg oder Flandern hinter sich hatten, hingen ordentlich an Haken aufgereiht und warteten auf Käufer. Kisten und Körbe waren in Reihen ausgerichtet wie mit der Schnur gezogen, die Ballen mit Ulmer und Augsburger Leinwand sorgfältig gestapelt.

Es befanden sich einige Kunden in der Bodega, doch Fygen hatte kaum einen Schritt in den Raum hineingemacht, als sich bereits aufmerksame Vogelaugen auf sie richteten. Sie gehörten einem dunkelhäutigen, kleinwüchsigen Mann mit pechfarbenem Haar und auffallend großen Ohren, der hinter einem der wuchtigen Verkaufstische stand. Aus der Bestimmtheit, mit der er nun einen Gehilfen zu sich winkte, um diesem seinen Kunden zu überlassen, schloss Fygen, dass es der Obmann der Bodega, wenn nicht gar Herr Alexander selbst war.

Mit einem freundlichen Lächeln, den Kopf höflich geneigt, trat der Mann auf Fygen zu. »¡Bona nit senyora! ¿Com podría servir-vos?«

Fygen verstand die Worte nicht, doch es war offensichtlich, dass der Obmann nach ihrem Begehr gefragt hatte.

»Senyor Alexander?«, fragte sie.

»¿Jo? ¡No!« Der Obmann winkte ab. »¡Un moment si us plau!« Diensteifrig eilte er quer durch den Raum davon. Fygen sah, wie er zu einer Gruppe von drei wohlhabend wirkenden Herren trat, zwei kleineren, untersetzten – der Ähnlichkeit ihrer rötlichen Gesichter nach mochte es sich um Brüder handeln – und einem hochgewachsenen Mann, der ihr den Rücken zuwandte. Die Herren schienen in ein lebhaftes Gespräch vertieft, das der Obmann nun mit einer Verneigung unterbrach.

Er flüsterte dem Großgewachsenen etwas zu, woraufhin dieser den Kopf wandte und ihr zunickte. Senyor de la Vega!

Fygen blinzelte überrascht. War das ein Zufall, fragte sie sich, oder war der Spanier ihretwegen hier? Doch es musste ein Zufall sein. Er hatte ja gesagt, er sei mit Herrn Alexander bekannt. Fygen wusste nicht, ob sie sich darüber freute, ihn hier anzutreffen, oder nicht. Gebrauchen konnte sie ihn bei ihrer Unterredung mit Herrn Alexander sicher nicht.

Reserviert erwiderte sie daher seinen Gruß, doch er verabschiedete sich von seinen Gesprächspartnern und kam auf sie zu. Ein strahlendes Lächeln breitete sich über seine Züge. »Senyora van Bellinghoven! Wie schön, Euch wiederzusehen.«

»Senyor de la Vega, welch ein Zufall, Euch hier anzutreffen«, entgegnete sie so distanziert wie möglich, und es gelang ihr zum ersten Mal, seinen Namen korrekt auszusprechen.

»Nun, einen Zufall würde ich es nicht nennen. Eher eine kleine List. Es erschien mir der einfachste Weg, Euch wiederzusehen.« De la Vega schmunzelte jungenhaft, ganz so, als sei ihm ein besonderer Streich gelungen. »Mein vollständiger Name lautet Alejandro Martinez de la Vega. Oder, weil es für unsere deutschsprachigen Handelspartner einfacher ist: Herr Alexander. Entschuldigt die kleine Maskerade.«

Fygen sog scharf die Luft ein. Der Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft in Valencia, jener Herr Alexander, war niemand anders als ihre zufällige Reisebekanntschaft Senyor de la Vega!

Vor Verblüffung blieb Fygen der Mund offen stehen. Was für ein unverschämter, impertinenter, betrügerischer Mistkerl!

Unbewusst ballte sie die Fäuste, ihre Fingernägel gruben sich in die Handflächen, während sie de la Vega anstarrte.

Sie wiederzusehen! Was für eine Frechheit! Nur mit Mühe konnte Fygen sich beherrschen, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Sie atmete zweimal tief durch, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann wurde ihr klar, dass er nicht wissen konnte, wer sie war, geschweige denn, was sie von ihm wollte. Seine Galanterie mochte also der Wahrheit entsprechen.

Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, und mit aller Leichtigkeit, die sie aufzubringen vermochte, sagte sie: »Nun, Senyor de la Vega. Das trifft sich nicht schlecht. Dann müsst auch Ihr mir eine kleine List verzeihen. Bellinghoven ist der Name meines Vaters. Ich bin eine verheiratete Lützenkirchen und führe seit dem Tod meines Mannes die Faktorei der Ravensburger Handelsgesellschaft in Köln.«

Mit einem Anflug von Genugtuung beobachtete sie, wie sich zuerst Erstaunen, dann Unglauben auf de la Vegas Züge zeichnete. Die Farbe seiner Haut hellte sich um eine Nuance auf. Dann verschloss sich sein Gesicht zu einer abweisenden Maske, kein Muskel rührte sich mehr darin. »Ich wüsste nicht, was ich mit einer Lützenkirchen zu besprechen hätte«, presste er hervor. »Entschuldigt mich, meine Kunden warten.« Brüsk wandte de la Vega sich ab und wollte Fygen stehenlassen, doch geistesgegenwärtig erwischte sie ihn am Ärmel und hielt ihn fest. »Aber ich wünsche mit Euch zu sprechen!«, zischte sie. »Wenn Ihr jetzt geht, wird Eure Bodega eine Szene erleben, die alles andere als erbaulich ist für Eure Kunden. Das verspreche ich Euch!«

»Demá – morgen. Kommt morgen in die Faktorei«, versuchte de la Vega Fygen abzuwimmeln.

Fygen hatte das valencianische Wort für »morgen« mehr als satt. »Nichts Demá! Jetzt! Am Markt zu Ravensburg werden die Herren Regierer Hinderofen und Humpis sicherlich befremdet sein, zu erfahren, dass einer ihrer Faktoren dem anderen aus Profitgier Schaden zufügt. Zu Lasten der Gesellschaft«, drohte sie.

Der Kaufmann biss die Zähne zusammen und nickte. Seine Kiefer malmten schweigend, als er sie an den Verkaufstischen vorbei zu einer Tür in der rückwärtigen Wand führte.

Eckert, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, schickte sich an, ihnen zu folgen, doch mit einem kurzen Blick gab Fygen ihm zu verstehen, dass sie seine Anwesenheit bei diesem Gespräch nicht wünschte.

Hinter dem Verkaufsraum lag ein Kontor, das zwar beengt war, aber von der gleichen Aufgeräumtheit wie die Bodega selbst.

Nachlässig wies de la Vega auf einen Stuhl, bevor er sich hinter dem Arbeitstisch niederließ.

»Also?«, fragte Fygen kühl.

»Also was?«, knurrte de la Vega.

»Warum habt Ihr mir diese lausige Rohseide geschickt?«

»Es war Seide aus Valencia! So wie Ihr sie bestellt hattet«, verteidigte de la Vega sich knapp.

»Ja, das habe ich inzwischen auch verstanden«, gab Fygen zu. »Beim ersten Mal. Dennoch hättet Ihr meinem Schreiben entnehmen müssen, dass ich eine bessere Qualität erwartet hatte.«

De la Vega öffnete den Mund zu einer Entgegnung, doch Fygen ließ sich nicht unterbrechen. »Redet Euch jetzt nicht auf sprachliche Missverständnisse heraus. Wie ich inzwischen mehrfach die Gelegenheit hatte zu vernehmen, seid Ihr durchaus in der Lage, Euch in meiner Sprache sehr gewählt auszudrücken. Stattdessen habt Ihr abermals Seide aus Valencia geschickt. Und die dritte Lieferung war schlicht eine Frechheit!« Fygen machte ihrem Ärger Luft. »So schlampig verpackt, dass alles verschimmelt in Köln ankam.« Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten, und die Erregung hatte ihr eine leichte Röte auf die Wangen getrieben.

Eine wirklich beeindruckende Frau, dachte de la Vega. Sie besaß ein Feuer, das ihn an die hiesigen Frauen erinnerte. Nicht an die blutleeren Töchter der gehobenen Kaufmannschaft und des städtischen Adels, sondern eher an jene vom Schlag seiner Mutter. Wie beherzt sie war, eigens nach Valencia zu reisen, um ihn zur Rede zu stellen! Und wie hartnäckig!

»Wir lassen unsere Ware immer sehr sorgfältig verpacken«, entgegnete er hochmütig.

»Genau das habe ich auch vernommen«, stimmte Fygen zu. »Mein Eidam Hans Her – er führt die Rechnung im Gelieger zu Antwerpen – sagt, er hätte über Eure Lieferungen nie zu klagen. Und wenn ich sehe, mit welcher vorbildlichen Ordnung Ihr diese Bodega führt, so kann ich mir nicht denken, dass Schlamperei zu Euren Fehlern zählt. Warum also?«

De la Vega schwieg einen Moment. Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die er nicht erwartet hatte und die ihm ganz und gar nicht behagte.

»Lützenkirchen aus Köln!«, sagte er schließlich halblaut, so als käme der Name aus verschütteten Tiefen der Vergangenheit auf seine Lippen. Er hatte gedacht, all das läge weit hinter ihm, doch als Fygens Order – die Order der Faktorei Lützenkirchen – bei ihm eintraf, hatte sie an die alte Wunde gerührt, von der Alejandro geglaubt hatte, sie sei längst vernarbt. Der alte Groll war wieder in ihm erwacht und hatte ihn dazu hingerissen, die Bestellung zwar nicht zu sabotieren, sie jedoch auch nicht mit der üblichen Sorgfalt zu behandeln. Doch das konnte er ihr unmöglich erklären! Müde rieb er sich mit der Hand über das Gesicht.

Doch dann durchfuhr Alejandro ein gänzlich anderer Gedanke. Was, wenn es mehr als eine Familie mit dem Namen Lützenkirchen in Köln gab? Wenn diese Frau hier überhaupt nichts mit ihm und seinem Vater zu schaffen hatte? »Ihr seid verwandt mit Wilhelm Lützenkirchen?«, fragte er.

Fygens Stirn umwölkte sich. Woher kannte der Spanier den Namen ihres Schwiegervaters? Sie nickte irritiert. »Er war der Vater meines Mannes. Aber was hat das mit Eurer Seidenlieferung zu tun?«

»Habt Ihr ihn gut gekannt?«

»Den alten Lützenkirchen?«, fragte Fygen mit Befremden und konnte nicht verhindern, dass Bitternis in ihr aufstieg. Sie hatte es nie beweisen können, doch sie war sicher, dass Peters Vater die Schuld am gewaltsamen Tod ihres eigenen Vaters trug. »Nein, ich bin ihm nie begegnet. Er starb, als ich noch ein Kind war«, entgegnete sie mit ungewollter Heftigkeit.

Alejandro blickte Fygen abschätzend an. Sie mochte ein wenig jünger sein als er selbst. Er schüttelte den Kopf. »Er starb vor zehn Jahren. Hier in seinem Haus in Valencia«, verbesserte Alejandro sie. »Ich war dabei.«

Erstaunt blickte Fygen ihn an, doch was de la Vega da sagte, konnte durchaus der Wahrheit entsprechen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie Peters Mutter ohne das Wissen ihres Mannes besucht hatte, um herauszufinden, welche Rolle Peters Vater damals beim Tod ihres, Fygens, Vaters gespielt hatte.

Fygen seufzte. So lange war das alles schon her. »Kurz nach dem gewaltsamen Tod meines Vaters hat Wilhelm Lützenkirchen Köln verlassen und sich angeblich auf eine Handelsreise nach Valencia begeben. Dort sei er jedoch nie angekommen, hieß es, und er ist auch nicht nach Köln zurückgekehrt. Seitdem gilt er als tot. Das war im Jahr 1470

»In dem Jahr kam er nach Valencia zurück«, bestätigte Alejandro.

Fygen biss sich auf die Lippe. Hierher hatte Peters Vater sich also verdrückt, um sich der Gerichtsbarkeit seiner Heimatstadt zu entziehen, dachte sie empört. Er hat sich einfach aus dem Staub gemacht, hatte munter zwanzig Jahre hier gelebt und sie alle im Glauben gelassen, er sei tot! Wie sich wohl Augusta gefühlt haben würde, wenn sie das erfahren hätte? »Was für ein Mistkerl, einfach seine Familie im Stich zu lassen!«, brach es aus Fygen heraus.

»Er hatte hier auch eine Familie«, entfuhr es Alejandro gegen seinen Willen hitzig.

Fygen starrte ihn entgeistert an. Das war ja wohl der Gipfel der Verderbtheit! Nicht nur, dass der feine Herr Lützenkirchen sich der Verantwortung für sein schändliches Tun entzog und seine Familie zurückließ, nein, er hatte zudem auch noch hier in Valencia eine neue Familie gegründet … Fygen stutzte. Etwas an de la Vegas Worten hatte sie irritiert. »Wieso zurückgekommen?«, fragte sie. »War er denn vorher schon hier?«

De la Vega blieb ihr die Antwort schuldig. Stattdessen schnaubte er verächtlich durch die Nase und strich eine Haarsträhne beiseite, die ihm in die Augen fiel.

Es war eine kurze Handbewegung, nur, doch die Geste ließ Fygen erstarren. So hatte Peter sich die widerspenstige Locke aus dem Gesicht gestrichen, wenn ihn etwas aufgeregt hatte. Fygen blickte Alejandro in die Augen, und ihr Gesicht verlor alle Farbe. Es waren Augen von unverschämtem Blau, die ihren Blick erwiderten. Augen, die von jeher vermocht hatten, sie zu verwirren. Es waren Peters Augen – die Augen ihres Mannes!

Für einen Moment nur loderte der Gedanke in ihr auf, doch sogleich verwarf sie ihn wieder. Sie musste sich irren!

Ihre Trauer um Peter schien sie zu narren.

Doch da war die auffällige Art, wie de la Vega die Brauen hochzuziehen pflegte, eine ungewöhnliche Mimik, wie sie auch Peter beherrscht hatte. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? All das mochte Erbteil des alten Lützenkirchen sein.

Doch nein, das war unmöglich, schalt Fygen sich, das war absurd! Aber dann schlichen sich de la Vegas Worte in ihren Kopf zurück: »Er hatte hier auch eine Familie … eine Familie!«

Fygens Mund war wie ausgetrocknet, und sie vermochte kaum zu sprechen. Es klang wie das Rascheln von Papier, als sie kaum vernehmlich flüsterte: »Ihr … Ihr seid sein Sohn?«

Alejandro blickte ihr fest in die Augen, und sie kannte die Antwort, bevor er nickte.

In Fygens Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Dieser Mann hier, Senyor de la Vega, war Herr Alexander, der Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft in Valencia. Und zugleich war er Peters Halbbruder!

Wieder einmal hatte der alte Lützenkirchen es geschafft, in ihrem Leben für Ungemach zu sorgen, dachte Fygen. Wie viel Unheil mochte er in Valencia angezettelt haben? Und was mochte er de la Vega angetan haben? Dessen Reaktion nach konnte er nicht der treusorgende Vater gewesen sein, den sich ein Sohn erhoffte … Doch das war er auch für Peter nicht gewesen.

Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass zwischen Peter und ihm eine Beziehung, eine Blutsverwandtschaft bestand. Allein schon um Alejandros schwarzes Haar und des dunklen Teints willen nicht. Doch jetzt, da sie es wusste, erklärte es ihr manches. Seine auffällig blauen Augen, die so gar nicht zu seinem dunklen Äußeren passen wollten, und vor allem die seltsame Vertrautheit, die sie bereits bei seinem Anblick an Bord der Karavelle verspürt hatte. Doch es erklärte ihr immer noch nicht, warum er ihr schlechte Seide geliefert hatte.

Verstohlen musterte Alejandro Fygen unter gesenkten Lidern. Scheinbar ruhig saß sie da, versuchte das Unfassbare, was er ihr soeben offenbart hatte, zu verstehen. Sie jammerte oder keifte nicht, wie es viele Frauen getan hätten, und war auch nicht einer Ohnmacht nahe.

Fygen Lützenkirchen. Die Frau seines Bruders … des Mannes, den er einst so glühend beneidet hatte. Um seinen Namen, um seine eheliche Geburt. Und dem zu allem Glück auch noch diese beeindruckende Frau gehörte, wie er nun feststellen musste. Wieder spürte Alejandro den Neid in sich aufsteigen.

Doch hatte sie nicht erwähnt, dass ihr Gatte verstorben war? Welcher Ehemann, der seine Sinne beieinanderhatte, ließe eine solche Frau durch die Welt reisen?

Aus freien Stücken hätte Alejandro ihr seine Identität sicher nicht preisgegeben. Doch sie war scharfsinnig genug, selbst darauf zu kommen. Es hatte nur der Erwähnung des alten Wilhelm bedurft, und ihr hatte sich der Zusammenhang erschlossen. Vielleicht gab es mehr Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Bruder, als er gedacht hatte? Halbbruder, verbesserte er sich in Gedanken.

Laut sagte er: »Sein Bastard!«

So viel Bitterkeit lag in den Worten, Verächtlichkeit und auch Schmerz, dass es Fygen einen Stich versetzte. Eine Woge von Mitleid überflutete sie. Mitleid mit diesem stolzen Mann, der seinen Vater geliebt und zugleich gehasst haben musste. Und mit einem Mal verstand sie. Einem Impuls nachgebend, legte sie ihre Hand auf die seine. »Und deshalb sabotiertet Ihr meine Seidenlieferung?«, sagte sie sanft. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Alejandro blickte zu Boden. Am liebsten wäre ihm, wenn sich die Erde unter ihm auftun und ihn verschlucken würde, so peinlich war ihm die Angelegenheit mit einem Mal. Er kam sich kindisch vor und schämte sich vor dieser Frau, die beherzt genug war, durch die Welt zu reisen, um dem Misslingen ihrer Geschäfte auf den Grund zu gehen. Wie kleinmütig sein Handeln gewesen war, wie gänzlich unbedacht.

Wie hatte er sich nur so eine Blöße geben können? Noch dazu vor dieser Frau. Was mochte sie von ihm denken? Gewöhnlich pflegte er sich nicht sehr darum zu scheren, was die Menschen von ihm dachten. Doch aus einem unerfindlichen Grund war es ihm plötzlich wichtig, was sie von ihm hielt.

Alejandro hob den Kopf und blickte Fygen forschend an. Ihre Augen hatten die Farbe von warmem Sand. Kein Hohn lag darin, keine Häme, nur Verstehen und ehrlich empfundenes Mitgefühl.

In Alejandro kämpfte ein seltsames Gemisch aus Gefühlen. Doch nach und nach wich die Scham, machte der Erleichterung Platz, und nach einer Weile hatte er seine Fassung zurückerlangt. Er hob die Augenbrauen, diesmal beide zugleich, und seine Miene spiegelte Zerknirschung. »Nun, Frau Schwägerin«, sagte er mit einem bedauernden Lächeln, »mir scheint, ich bin Euch einiges schuldig!«

»Zweitausendfünfhundert Pfund beste Seide aus Almeria«, antwortete Fygen und erwiderte sein Lächeln.

 

»Zweihundertfünfzig Pfund Talayer?« Heinrich Vurberg legte sein längliches Gesicht in Falten. »Das soll ein Witz sein, nehme ich an. Warum kauft Ihr solch kleine Mengen nicht an der Waage?«

»Weil dort alles vergriffen ist«, entgegnete Clairgin ruhig.

»Nun, ich habe auch keine Rohseide.«

»Ich weiß, doch ich hörte, Ihr erwartet in Bälde eine Lieferung.«

»So, hörtet Ihr!« Vurberg trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch in seinem Kontor. Er hatte Wichtigeres zu tun, als mit einer unbedeutenden Seidmacherin über fruchtlose Geschäfte zu reden. »Das stimmt. Ist aber alles schon vorbestellt.«

Das konnte nicht sein, dachte Clairgin. Der alte Seidenhändler wollte nur nicht. »Zweihundert Pfund würden auch reichen«, sagte sie, seine Unhöflichkeit ignorierend.

»Eben! Da liegt das Problem. So kleine Mengen lohnen den Aufwand nicht, das Wiegen, das Abpacken … Andere kaufen ganze Lieferungen. Hylgen Byrken, Adelheid Liblar, Lisbeth Ime Hofe, Mettel van Hielden, die Schwestern Berchem«, zählte Vurberg die Seidenweberinnen mit den großen Webereien auf. »Sie alle kaufen Posten von bis zu zweieinhalbtausend Pfund.«

»Dann in Gottes Namen fünfhundert Pfund. Mehr kann ich mir nicht leisten.« Wie eine Bittstellerin kam Clairgin sich vor, dabei wollte sie mit Vurberg doch nur ein ganz gewöhnliches Geschäft tätigen.

»Aber keine Talayer!«

»Metzenese?«

»Nichts aus Sizilien!«

»Venedig? Genua?«

Vurberg nickte. »Aber zehn Zentner müsst Ihr schon nehmen.«

Clairgin zögerte. Zehn Zentner – tausend Pfund – war die Menge, die sie gewöhnlich in einem ganzen Jahr verarbeitete! Nach den guten Verkäufen in Frankfurt konnte sie die Ware zwar bezahlen, doch es würde ihre ganzen Reserven aufbrauchen. Clairgin seufzte. Das war das Dumme mit der Seidenweberei – man brauchte flüssige Mittel. Sie hatte die Rohware anzuschaffen, die Löhne für Spinnerinnen und Färber zu zahlen und den Unterhalt für die Lehrmädchen zu bestreiten. Und erst, wenn die Ware schließlich verkauft war, erhielt sie selbst den Lohn für ihre Mühe. Einen guten Lohn zwar, doch auch sie musste bis dahin leben.

Vurbergs Finger trommelten lauter auf die Tischplatte. »Sonst fragt bei Johann von Düsseldorf oder bei Geryt van Harffe nach«, empfahl er ihr gleichgültig einige unbedeutendere Seidenhändler. »Oder bei Tilman Wedich.« Letzterer war dafür bekannt, dass er sich, was die Qualität seiner Ware anging, bisweilen nicht ganz an die Zunftvorschriften hielt.

Clairgin biss sich auf die Lippe und nickte widerstrebend. »Gut. Zehn Zentner«, stimmte sie leise zu. Was sollte sie auch anderes tun? Ihre Vorräte waren beinahe verbraucht. Wenn sie nicht bald Seide bekäme, säßen sie und die Mädchen tatenlos herum. Sie würde eine Zeitlang den Gürtel enger schnallen müssen, bis wieder Geld in die Kasse kam.

»Alter Muuzepuckel!«, brummte Clairgin leise vor sich hin, als sie auf die Straße trat – aus ihrem Mund ein grober Schimpf für den Geizhals. Zu allem Übel hatte es auch noch zu regnen begonnen.

Die dichten Fäden des Regens durchdrangen Clairgins leichten Umhang, als sie sich auf den Heimweg nach Sankt Peter machte. Das Kirchenspiel Sankt Peter, zwischen Sankt Cäcilien und dem Blaubach, war längst nicht so vornehm wie Sankt Alban, wo die Seidenhändler und die wohlhabenderen Seidmacherinnen ihre Häuser hatten, doch es war eine anständige Wohngegend. Viele Seidspinnerinnen wohnten hier, und die Seidfärber hatten ihre Werkstätten in den Gassen nahe den Bächen.

Als Clairgin das gemietete Haus erreicht hatte, in dem sie mit ihren beiden Töchtern und zwei Lehrmädchen wohnte und arbeitete, war sie bis auf die Haut durchnässt. Doch wenn sie geglaubt hatte, dass es damit genug des Ärgers wäre für einen Tag, so musste sie sich eines Besseren belehren lassen.

Kaum dass sie die Tür ihres Hauses aufgestoßen hatte, kam Barbara, ihr älteres Lehrmädchen, aufgelöst auf sie zugestürzt.

»Gut, dass Ihr kommt!«, stieß sie hervor, die Augen schreckgeweitet. »Jacoba redet wirres Zeug!« Kaum konnte Clairgin ihre Worte verstehen, so sehr schlugen die Zähne des Mädchens aufeinander.

Clairgin seufzte. Jacoba, Clairgins jüngere Lehrtochter, war schon seit ein paar Tagen krank. Es hatte mit Husten und einer laufenden Nase begonnen, die Clairgin mit den gewohnten Hausmitteln zu kurieren versucht hatte. Doch nun schien das Fieber Jacoba ernstlich gepackt zu haben. Sie phantasierte und schlug im Fieberwahn um sich.

Ergeben nahm Clairgin ein paar Schillinge aus ihrem Beutel. Heute hatte sich wirklich alles gegen sie verschworen, dachte sie, doch dann ließ sie die Münzen zurückgleiten, um zwischen den Pfennigen nach einer Kölnischen Mark zu suchen. Für Klimpergeld wäre Meister Conrad sicher nicht bereit, bei diesem Wetter das Haus zu verlassen.

»Lauf schnell zu Bader Conrad. Du weißt, wo die Badestube ist? Gerade die Gasse hinunter und dann links in Richtung Bach. Du kannst das Haus nicht verfehlen. Er hat bunte Tafeln an der Fassade angebracht mit Bildern von gebrochenen Knochen und ausgerissenen Zähnen, um Reklame für seine Kuren zu machen.« Clairgin drückte dem Mädchen die Münzen in die Hand, legte ihm einen Regenumhang um die Schultern und schob es zur Tür hinaus. Es machte nichts, wenn Barbara ein wenig nass wurde, doch die Aufgabe, die ihre Lehrherrin ihr aufgetragen hatte, würde ihre Angst vertreiben.

Sieben Tage lang pflegte Clairgin ihr Lehrmädchen und wachte des Nachts an seinem Bett, bis die Kuren von Bader Conrad endlich fruchteten und Jacobas Fieber sank. Nach zwei weiteren Wochen war sie um noch ein paar Schillinge ärmer geworden, doch glücklich und erleichtert darüber, dass ihr Lehrmädchen endlich gesundet war und wieder seiner Arbeit in der Werkstatt nachgehen konnte.

 

Anders als Bader Conrad würde Doktor Nicolas Gremberg sich für eine Kölnische Mark kaum außer Haus begeben. Da mussten es schon ein paar Gulden sein. Doch dafür war Gremberg auch ein studierter Medicus.

Er hatte in Heidelberg seine Studien begonnen, in Bologna gelernt und promoviert und später in Nürnberg und Ulm als Stadtarzt praktiziert. Schließlich war er dem Gesuch des ehrenwerten Rates der Stadt Köln nachgekommen und hatte sich um nicht geringer Vergünstigungen willen vor einigen Jahren in der Gasse Vor den Augustinern niedergelassen.

Doktor Gremberg war ein angesehener Mann in den Vierzigern. Er hatte es nicht nötig, sich bei schlechtem Wetter zu seinen Patienten zu begeben, und so hatte der Medicus abgewartet, bis sich die Wolken verzogen und einen milchweißen Himmel zurückgelassen hatten, bevor er sich auf den Weg machte.

»Ihr findet die Herrin in der Werkstatt«, beschied ihm die Magd, die ihm die rote Tür geöffnet hatte. »Es ist gleich geradeaus durch den Flur und über den Hof. Ihr könnt es nicht verfehlen.«

Gremberg runzelte die Stirn und maß die Magd mit strengem Blick. Üblicherweise wurde er in der Stube empfangen, so der Patient nicht bettlägerig war. In eine Werkstatt hatte man ihn noch nie geschickt.

Verstehend schlug die Magd sich vor die Stirn. Natürlich! Sie konnte den Herrn Doktor schlecht wie einen Färbergesellen in den Hof schicken. »Ich führe Euch hin«, sagte sie und versuchte, ihren Schnitzer mit einem respektvollen Knicks wettzumachen.

Der Herr Doktor nickte gnädig und folgte ihr gemessenen Schrittes zur Werkstatt.

 

Was machten die beiden denn da? Lisbeth schloss für einen Moment entnervt die Augen, als sie sah, wie Klara und Rita mit den Kettfäden hantierten.

Seit Stunden schon waren die beiden jüngsten Lehrmädchen damit beschäftigt, einen Webstuhl aufzuscheren, zum ersten Mal, ohne dass ihnen eine der Älteren dabei zur Seite stand. Sie hatten die langen Fäden zugeschnitten, am Warenbaum befestigt und knüpften gerade die losen Enden der letzten Fäden an den Kettbaum. In seiner vollen Länge spannte sich das weiße Garn durch die ganze Werkstatt. Doch die Mädchen hatten eine wesentliche Sache übersehen. Die Zeit drängte, der Webstuhl musste bald fertig werden, sonst säße eine der Weberinnen den Rest des Tages müßig herum. Soeben wollte Lisbeth sie auf ihr Versehen hinweisen, als sie sich eines anderen besann.

Stina Lommerzheim war den Blicken ihrer Meisterin gefolgt und hatte den Fehler gleichfalls bemerkt. Die stämmige Seidmacherin unterbrach ihre Arbeit, legte das Schiffchen beiseite und erhob sich von der Bank hinter ihrem Webstuhl, um die beiden unwissenden Hühnchen für ihr Fehlen zu rügen.

Mit einer raschen Bewegung hielt Lisbeth sie zurück und legte den Finger auf die Lippen. »Fest anziehen!«, rief sie Klara und Rita zu, die sich eben daranmachten, den Kettbaum aufzurollen. Die Fäden mussten dabei straff gespannt werden, damit das Gewebe später keine Beulen bekam.

Kräftig zogen die Mädchen an den Fäden.

»Noch fester!«, befahl ihre Lehrherrin.

Schweiß trat den beiden Mädchen auf die Stirn. Sie keuchten hörbar und legten ihr ganzes Gewicht gegen die Fäden, während sie langsam den Kettbaum drehten, so dass sich die Fäden straff um den Holm wickelten.

Mit einer letzten Anstrengung schoben sie die überstehenden Enden des Kettbaums in die dafür vorgesehenen Halterungen am Webstuhl und schüttelten prustend die angespannten Muskeln ihrer Arme aus.

»So«, sagte Lisbeth mit einem freundlichen Lächeln, »nun dürft ihr zur Belohnung auch weben!«

Stina entfuhr ein unterdrücktes Schnauben, und sie musste sich abwenden, um nicht laut herauszuprusten, als sie verstand, was die Meisterin bezweckte.

»Stina, bring Rita ein Schiffchen!«, befahl Lisbeth.

»Sehr wohl, Frau Ime Hofe. Sofort«, antwortete Stina und beeilte sich, das Gewünschte zu holen.

Ritas rundliche Wangen erröteten vor Freude. Mit einem breiten Grinsen reichte Stina ihr ein Schiffchen, in dem bereits eine Spule lag, auf die Schussgarn gewickelt war.

Mittlerweile hatten alle Frauen, ausgelernte Weberinnen wie Lehrmädchen, ihre Arbeit unterbrochen und sich um den Webstuhl geschart, hinter dem Rita nun voller Stolz Platz nahm. In ihrer Aufgeregtheit merkte das Lehrmädchen nicht, wie die Frauen einander mit den Ellbogen anstießen. Gespannt beobachteten sie, wie Rita sich auf der Bank zurechtsetzte und die langen, weizenblonden Zöpfe über die Schultern zurückwarf.

Ritas Füße suchten das Pedal, und wie sie es bei den anderen gesehen hatte, trat sie es fest durch, in der Erwartung, dass sich nun ein Teil der Kettfäden heben und sich ein Fach öffnen würde, zwischen das sie das Schiffchen führen könnte.

Doch auf ihr Treten hin öffnete sich kein Fach, die Fäden blieben, wo sie waren. Rita runzelte die Stirn, und ein vereinzeltes Kichern schlich durch die Werkstatt. Wieder trat Rita auf das Pedal, fester nun, doch wiederum zeigte sich keine Wirkung. Verdutzt blickte sie ihre Lehrherrin an. Die verbiss sich ein Lachen und wies auf die Litzen, die leer von ihrem Holm herabbaumelten.

Ritas Blick folgte Lisbeths ausgestrecktem Finger, und sie erkannte ihren Fehler. Die Schnüre, die mit dem Pedal verbunden waren, hoben die Litzen an, doch die Mädchen hatten beim Aufscheren vergessen, die Kettfäden durch die Litzen zu fädeln. Ritas bereits gerötetes Gesicht färbte sich purpurn, und die Frauen begannen ausgelassen zu kichern.

Nach einem Moment fielen Rita und Klara in die allgemeine Heiterkeit ein, und auch Lisbeth lachte mit ihnen. Diese Lektion hatte zwar etwas Zeit gekostet, doch Lisbeth war sicher, den Fehler würden die Mädchen nicht wieder begehen.

Das Klopfen an der Tür ging in dem haltlosen Gelächter unter. Gewichtigen Schrittes, von der Magd gefolgt, trat Doktor Gremberg in die Werkstatt und blickte konsterniert auf das kichernde Weibsvolk. Doch keine der Frauen bemerkte seine Anwesenheit. »Frau Ime Hofe?«, fragte er schließlich in das Gelächter hinein, denn er wusste nicht zu sagen, welche von den kichernden Frauen hier die Hausherrin war.

Ein wenig ratlos strich der Doktor über seinen spitzen Bart, dessen Enden sich bereits silbern färbten. Hatte man sich einen Scherz mit ihm erlaubt? Es war ganz offensichtlich, dass hier niemand erkrankt war und eines Arztes bedurfte. »Frau Ime Hofe?«, fragte er abermals, bestimmter jetzt.

Das Gelächter verstummte, und die Frauen musterten den Eindringling neugierig. Was, um alles in der Welt, hatte denn ein Arzt bei ihnen in der Werkstatt zu suchen?

Auch Lisbeth wandte sich zu ihm um, und als sie seinen langen dunklen Arztmantel erblickte, erstarb ihr das Lachen in den Augen. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt«, sagte sie zu Klara und Rita. Dann begrüßte sie den Doktor und führte ihn sogleich in die Stube, ganz so, wie der honorige Mann es gewohnt war.

»Nun, wo ist der Patient?«, fragte Doktor Gremberg bemüht, die Routine einer gewöhnlichen Konsultation wiederherzustellen. Er wandte sich um, als rechne er damit, dass man jeden Moment einen Kranken zu ihm führte. »Ist eines Eurer Kinder erkrankt?«

»Ich wünschte, es wäre so!«, entfuhr es Lisbeth.

Gremberg musterte sie mit Befremden. Welche Mutter wünschte ihren Kindern Krankheit?

Hastig verbesserte Lisbeth sich: »Ich fürchte, ich bin Euer Patient.«

Der Arzt zog die buschigen Brauen hoch. »Sehr krank wollt Ihr mir nicht erscheinen«, entfuhr es ihm ganz entgegen seiner Gepflogenheit, zunächst den Dingen auf den Grund zu gehen, bevor er sich zu einer diagnostischen Äußerung hinreißen ließ.

Lisbeth nickte traurig. »Ich fühle mich auch nicht krank. Jedenfalls nicht krank im herkömmlichen Sinne … Es ist vielmehr … vielmehr …« Es fiel ihr schwer, ihren Kummer in Worte zu fassen.

Unbewegt stand der Arzt da und musterte sie aus kühlen grauen Augen, die Hände abwartend vor der Brust gefaltet. Vor seinem prüfenden Blick hatte Lisbeth das Gefühl zu schrumpfen. Dieser Doktor war keiner der Menschen, denen man vertrauensvoll sein Herz ausschüttete, dachte sie. Doch er stand in gutem Ruf. Schließlich hatte sie ihn herbestellt, um ihn um Hilfe zu bitten, da konnte sie jetzt nicht kneifen, so schwer es ihr auch fiel. Und sie bedurfte seiner Hilfe so sehr.

»Ich kann keine Kinder bekommen«, sagte Lisbeth leise und biss sich auf die Lippe. Dies auszusprechen tat richtig weh. Es fühlte sich an wie das Eingeständnis eines Versagens. »Ich wünsche mir so sehr ein Kind, aber ich werde einfach nicht schwanger.«

Im Gesicht des Arztes zeigte sich keine Regung. »Hm!«, brummte er in seinen Bart, öffnete seine kastenförmige Ledertasche und entnahm ihr ein dünnwandiges, tropfenförmiges Gefäß aus hellem Glas. Es mochte nicht mehr fassen als ein herkömmliches Trinkgefäß, doch unterschied es sich davon deutlich in der Form, denn nach oben hin verjüngte es sich, um dann in einem breiten, flachen Rand zu enden. Gremberg reichte Lisbeth die Matula. »Wenn ich Euch um Euren Urin bitten dürfte?«

»Urin? Äh, ja sicher.« Mit ausgestrecktem Arm nahm Lisbeth das Gefäß entgegen. »Ihr entschuldigt mich einen Moment?«, sagte sie und verließ die Stube in Richtung der Latrinen im Hof.

Es dauerte eine Weile, bis Lisbeth mit dem Gewünschten zurückkehrte. Ein wenig schamhaft reichte sie dem Arzt das gefüllte Schauglas. Sie hätte nichts Besonderes an diesem Urin finden können. Für sie war es schlicht und einfach gewöhnlicher Urin.

Aufmerksam beobachtete Lisbeth, wie Gremberg die Matula gegen das Licht hielt, das durch die Fenster in die Stube fiel, und eingehend das Produkt ihrer Ausscheidung betrachtete. Welche schlimmen Geheimnisse, die sich in ihrem Körper verbergen mochten, würde der Arzt darin entdecken können, fragte sie sich bang. Doch seiner ausdruckslosen Miene war nichts zu entnehmen.

Klar war der Urin, befand der Arzt, und von hellem Gelb. Allenfalls fand sich ein leichter Stich ins Rot darin. Gremberg nickte wie zur Bestätigung seiner Gedanken. Mit routinierter Handbewegung schwenkte er die Matula, dass der Urin darin in Bewegung geriet, und wartete dann ruhig ab, bis die blasse Flüssigkeit zur Ruhe kam. Doch es senkten sich keine festen Partikel, auf dem Boden des Glases bildete sich kein Satz. Schließlich hob er das Schauglas an die Nase und schnüffelte hörbar daran.

Abermals nickte der Arzt. Die Urinbeschau hatte seinen ersten Eindruck bestätigt. Der Urin war in keiner Weise auffällig, wies nicht auf eine Erkrankung hin. Der Arzt stellte die Matula beiseite und richtete seinen Blick wieder auf die Patientin. Deren Augen waren klar, die Haut hatte eine frische Farbe, und ihr fröhliches Lachen, das er in der Werkstatt vernommen hatte, zeugte nicht von Schwermut.

Nein, sein erster Eindruck hatte Gremberg nicht getäuscht. Diese Frau hier war nicht krank. Sie war so gesund und lebendig wie eine junge Katze. Vielleicht ein wenig zu lebendig, befand der Arzt, denn ihr lebhaftes Temperament ließ auf ein Übermaß an gelber Galle schließen.

»Kalte Bäder würden Euch guttun«, sagte er bedächtig. »Mischt die Rinde von Weide und Birke hinein und eine Handvoll getrockneter Taubnessel. Das wird Eure Säfte abkühlen. Doch aus medizinischer Sicht sehe ich keinen ernstlichen Grund, der es Euch verwehrt, Kinder zu bekommen«, erklärte er.

Beinahe ungläubig starrte Lisbeth Gremberg an. Das war alles? Ein paar kalte Bäder? Mehr nicht? Das klang ihr fast zu einfach, doch sie wollte es ihm allzu gerne glauben. Der Doktor war schließlich ein studierter Mann!

Kaum konnte sie abwarten, dass der Arzt das Haus Zur Roten Tür verließ. Wenn es wirklich nur einiger Bäder bedurfte, damit sie endlich schwanger würde, so wollte sie keinen weiteren Moment mehr verlieren.

Eilig schickte sie eine Magd zum Apotheker, um die Rinden zu kaufen, und trug einer anderen auf, ihr die Badestube zu richten. Denn es gehörte zu den Vorzügen dieses herrschaftlichen Hauses, dass es in den Räumen neben dem Küchentrakt eine eigene Badestube besaß. Zur Verwunderung der Magd wies sie diese an, den Ofen nicht zu heizen, sondern den Zuber mit kaltem Wasser aus dem Brunnen zu füllen.

Die Mägde eilten sich, und so dauerte es nicht lange, bis alles bereit war. Lisbeth ging in die Badestube und zog sich ungeduldig das Kleid über den Kopf.

Die kalte Luft in dem ungeheizten Raum ließ sie frösteln, denn nach ein paar vielversprechenden Tagen im Frühjahr ließ der Sommer in diesem Jahr auf sich warten. Ein heißes Bad wäre sicher angemessener, dachte Lisbeth und probierte die Temperatur des Wassers mit der Hand.

Das Wasser war wirklich kalt. Doch wenn es ihr helfen würde, wenn sie als Lohn dafür endlich ein Kind bekäme, so hätte sie nichts dagegen, wenn das Wasser in dem Badezuber mit einer Schicht Eis überzogen wäre, dachte sie.

Tief schöpfte Lisbeth Luft und hielt den Atem an. Dann stieg sie tapfer in die Wanne. Beinahe schmerzhaft stach ihr die Kälte in die Waden.

Lisbeth gönnte sich einen Moment des Zauderns, dann fasste sie sich ein Herz und tauchte mit dem ganzen Körper unter. Die Kälte nahm ihr fast den Atem, doch nach wenigen Augenblicken begann ihre Haut sich daran zu gewöhnen.

Solange es eben ging, harrte Lisbeth in dem kalten Wasser aus, und erst als ihre Glieder steif waren vor Kälte und sich ihre Lippen blau gefärbt hatten, gestattete sie sich, aus dem Zuber zu steigen.