3. Kapitel
Es gibt keine Rohseide«, beschied man Clairgin an der städtischen Kraut- und Seidwaage im Kaufhaus auf dem Malzbüchel.
Verständnislos schüttelte die junge Seidmacherin den Kopf. Das konnte doch gar nicht sein! So kurz nach der Messe mussten die Lager doch bersten vor Rohseide. »Wie meint Ihr das? Keine Seide?«, fragte sie den Gehilfen des städtischen Zinsmeisters entgeistert.
»Genau so, wie ich es sage – keine Seide, alles verkauft. Kann ich Euch noch in anderer Weise behilflich sein, sonst entschuldigt mich.« Der Tonfall des jungen Mannes ließ Ungeduld erkennen.
Keine Rohseide! Als hätte man ihr auf den Kopf geschlagen, stand Clairgin da, die Handflächen zur Decke gerichtet. Was sollte sie denn verweben, fragte sie sich. Ihre Garnvorräte neigten sich dem Ende zu.
Clairgins Ratlosigkeit schien dem schnoddrigen Gehilfen eine Spur von Mitgefühl zu entlocken, und bereits im Fortgehen fügte er hinzu: »Ich hab reden hören, Heinrich Vurberg erwartet in Bälde eine Lieferung.«
Grübelnd verließ Clairgin das Kaufhaus. Die Frühlingssonne wärmte ihr das Gesicht, als sie auf die Straße trat, und für einen Moment blieb sie unschlüssig stehen. Seit eh und je pflegte sie ihren Bedarf an Rohware an der Kraut- und Eisenwaage zu decken, und nicht, wie einige andere Seidmacherinnen es taten, in Frankfurt Rohseide zu kaufen und selbst nach Köln einzuführen. Das Importieren lohnte sich nicht für die verhältnismäßig geringen Mengen, die sie und ihre Lehrmädchen verarbeiteten. Nie wäre Clairgin auf die Idee gekommen, dass es im Kaufhaus plötzlich keine Seide geben könnte. Kurzerhand beschloss sie, auf dem Heimweg einen kleinen Umweg zu machen.
»Ach du liebe Zeit! Hier sieht es ja aus, als wären die Truppen Karls des Kühnen doch bis Köln vorgedrungen!«, sagte Clairgin, als sie wenig später in Lisbeths Werkstatt trat.
Im Haus der Freundin in Sankt Alban herrschte rege Betriebsamkeit. Behende wich Clairgin einem kräftigen Lehrmädchen aus, das mit einem Stapel Kammladen auf den ausgestreckten Armen seinen Weg zwischen den Kisten und Bündeln hindurch zum Karren im Hof suchte. An den getünchten Wänden lehnten in scheinbarer Unordnung hölzerne Balken und Leisten – die in ihre Einzelteile zerlegten Webstühle.
Lisbeth ließ den Korb mit Weberschiffchen zu Boden gleiten und strich sich den Schweiß aus dem geröteten Gesicht. »Ja, es ist ein heilloses Durcheinander. Doch ich hoffe, dass wir den Umzug in ein paar Tagen geschafft haben.«
Man war übereingekommen, dass sie und Mertyn zu Katryn in die Obermarspforte ziehen sollten, ins Haus Zur Roten Tür, denn die großzügigen Werkstattgebäude im Hof würden die zusätzlichen Webstühle von Lisbeth ohne weiteres aufnehmen können. Seit Stephan in die Wolkenburg gezogen war, fühlte Katryn sich ohnehin recht allein in dem riesigen Haus.
Clairgin nickte mitfühlend, doch dann platzte es aus ihr heraus: »Stell dir vor, an der Waage gibt es keine Rohseide!« In kurzen Worten berichtete sie Lisbeth, was ihr gerade widerfahren war.
»Wie angenehm«, witzelte Lisbeth zerstreut und schenkte der Freundin ein spitzbübisches Lächeln. »Dann kannst du dir ja ein paar ruhige Tage machen.«
Die steile Falte über Clairgins Nasenwurzel vertiefte sich für einen Moment, dann lachte sie mit Lisbeth, doch die Bemerkung der Freundin war nicht dazu angetan, das ungute Gefühl zu vertreiben, das von Clairgin Besitz ergriffen hatte.
Lisbeth entging die Sorge der Freundin. So vieles schwirrte ihr durch den Kopf, so viele Dinge, an die sie denken musste. Es war ja nicht nur die Werkstatt, sondern auch der gesamte Hausstand umzusiedeln. Und was würde aus den Lehrmädchen? Wenn sie Katryns Betrieb fortführte, dann hätte sie auf einen Schlag acht statt der gestatteten vier Lehrtöchter. Aber sie konnte doch keines der Mädchen einfach auf die Straße setzen!
Abwesend hob Lisbeth den Korb vom Boden auf und erwiderte Clairgins Gruß, mit dem die Freundin sich verabschiedete, um sie ihren Kisten und Bündeln zu überlassen. Sie würde zu Brigitta van Berchem gehen, der amtierenden Amtsmeisterin, beschloss sie. Vielleicht könnte man eine Ausnahme machen, nur für die Zeit, bis die Mädchen ihre Prüfung abgelegt hätten?
Lisbeth stellte den Korb wieder ab. Am besten, sie ginge jetzt gleich. Das war wichtiger, als Kisten zu schleppen. Das konnten die Mädchen auch allein, dabei brauchte sie ihnen nicht zu helfen.
Vor dem Haus Zum Kleinen Schönwetter blockierte ein Fuhrwerk die Straße. Einen nach dem anderen luden Knechte Ballen von Rohseide ab, trugen sie durch das weit geöffnete Tor und schafften sie in einen Lagerschuppen neben der van Berchemschen Werkstatt.
Lisbeth klopfte an die Tür des benachbarten Haus Xanten. Hier war das Kontor der Geschwister van Berchem untergebracht. Die verwitwete Brigitta und ihre unverheiratete Schwester Gunda van Berchem führten ihre Weberei gemeinsam.
Eine junge Magd öffnete Lisbeth die Tür, bat sie ins Haus und hieß sie, vor dem Kontor zu warten. Die Herrinnen würden sie gleich empfangen. Die Magd knickste und ließ sie allein. Ein wenig verloren trat Lisbeth in dem zugigen Flur von einem Fuß auf den anderen.
»Das ist eine wahre Schlamperei!« Sie vernahm die empörten Worte durch die geschlossene Tür des Kontors hindurch – unverkennbar die schnarrende Stimme Brigitta van Berchems.
»Eine Schlamperei!«, erklangen als etwas leiseres, aber dennoch gut verständliches Echo die Worte ihrer Schwester.
Lisbeth wusste, es gehörte sich ganz und gar nicht, zu lauschen, doch bei der Lautstärke, in der das Gespräch geführt wurde, konnte sie gar nicht vermeiden, zum heimlichen Zuhörer zu werden.
»Wenn du dir nicht mehr Mühe gibst, dann weiß ich nicht, ob ich dir noch einmal Seide zum Weben geben kann. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.« Das war wieder Brigitta.
»Einen guten Ruf!«, echote Gunda.
Auweia! Da wurde einer Seidmacherin gerade gründlich der Kopf gewaschen, dachte Lisbeth. Wohl einer, die für die van Berchems um Lohn webte.
Die zerknirschte Antwort der gescholtenen Seidenweberin drang nur leise durch die Füllung der Tür: »Ja, Frau van Berchem. Ich werde mir Mühe geben.«
Lisbeth überlegte, wer die Gescholtene sein könnte, doch sie vermochte es nicht, der Stimme ein Gesicht zuzuordnen.
»Das will ich meinen!« Brigitta klang nur um weniges besänftigt. Diesmal blieb das Echo aus, doch Lisbeth war sicher, dass Gunda zumindest bekräftigend mit dem Kopf nickte.
Sie überlegte gerade, ob es nicht geraten wäre, mit ihrem Anliegen an einem anderen Tag wiederzukommen, wenn die Berchems besserer Stimmung wären, als das Gekeife abrupt endete und sich die Tür öffnete. Ertappt wich Lisbeth zurück und starrte überrascht in das verkniffene Gesicht von Grete Elner.
Beinahe hätte sie die schwerfällige Seidmacherin nicht erkannt. Die Base ihrer Mutter war zwar immer noch beleibt, aber das Fleisch hing lose an ihr, und sie war längst nicht mehr so massig, wie Lisbeth sie in Erinnerung hatte. Gretes Gesicht war faltig, und unter dem Kinn hingen weiche Hautlappen, die ehedem von Fett gepolstert waren.
Lisbeth hatte wohl gehört, dass Gretes Mutter, die alte Mettel, sich aus dem Geschäft zurückgezogen habe und seitdem nur noch an Gretes Tisch säße und sich von ihrer Tochter rund füttern ließe. Doch dass Grete mit der Weberei nicht mehr genug verdiente, sondern für die van Berchems im Verlag weben musste, war ihr neu.
Recht geschah es ihr, dachte Lisbeth. Die Base ihrer Mutter war ein mieses Weib. Aus reiner Missgunst und Bosheit hatte sie ehedem dem Seidamt verraten, dass Fygen nicht von ehelicher Geburt war. Um dem Ausschluss aus der Zunft vorwegzukommen, hatte Fygen daraufhin ihren Betrieb Lisbeth übergeben, doch es hatte ihr schier das Herz gebrochen, alles, was sie in jahrelanger Mühe und mit Liebe aufgebaut hatte, aufzugeben.
Grete hatte sofort erkannt, dass Lisbeth die demütigende Schelte, die sie erhalten hatte, mitbekommen hatte. Wütend presste sie die schmalen Lippen zusammen und bedachte die junge Seidmacherin mit einem giftigen Blick aus wässrig blauen Augen.
»Lisbeth Ime Hofe – wie nett, dass Ihr uns besuchen kommt, mein Kind!«, schnarrte Brigitta, kaum dass sie Lisbeth durch die geöffnete Tür entdeckt hatte.
Ob der plötzlichen Liebenswürdigkeit ihrer Arbeitgeberin entfuhr Grete ein grimmiges Schnauben. Ohne ein Wort rauschte sie an Lisbeth vorbei dem Portal zu.
Lisbeth trat in den Raum. »Guten Morgen, Frau van Berchem. Frau van Berchem«, begrüßte sie die Schwestern mit dem gebotenen Respekt.
»Was führt Euch zu uns?«, fragte Brigitta und nötigte Lisbeth auf einen Stuhl mit hoher Lehne.
»Die Mutter meines Mannes …«
»Katryn Zur Roten Tür«, unterbrach Brigitta sie, »will sich zur Ruhe setzen. Das haben wir schon gehört.«
»Und Ihr führt Katryns Weberei fort«, fügte Gunda hinzu.
Lisbeth nickte. »Ja, aber was mache ich mit den Lehrmädchen? Es sind mit einem Mal acht statt vier. Ich kann sie doch nicht auf die Straße setzen.«
Einmütig nickten die Berchem-Schwestern und legten die schmalen Stirnen mitfühlend in Falten.
»Natürlich könnt Ihr das nicht. Die armen Dinger. Wo sollen sie denn sonst hin? Behaltet sie einfach«, entschied Brigitta. »Bei einem so großen Betrieb braucht Ihr schließlich eine Menge Hilfe. Mit vier Lehrtöchtern kommt man da nicht weit.«
»Ja, aber das Seidamt …«, warf Lisbeth überrascht ein. Eine solche Ausnahme musste doch von den Amtsmeistern gemeinsam bei einer ihrer Sitzungen beschlossen werden. Das konnte Brigitta gar nicht allein entscheiden.
Die ältere der Berchem-Schwestern tätschelte Lisbeth mütterlich den Arm. »Lass das Seidamt mal meine Sorge sein, Kindchen.« Sie lächelte. »Wenn ich es sage, dann ist das schon in Ordnung.«
»Ganz in Ordnung«, echote Gunda.
Erfreut bedankte Lisbeth sich bei den Damen und verließ beschwingt Haus Xanten. Das war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Obschon es ein wenig seltsam anmutete, dass Brigitta und Gunda augenscheinlich eigenmächtig über die Belange der Zunft zu entscheiden vermochten, ganz ohne sich mit anderen Amtsmeistern zu beraten. Doch solange die Berchem-Schwestern ihr so offensichtlich wohlgesinnt waren, sollte das wirklich nicht Lisbeths Sorge sein.
Zwei lange Tage hatte Fygen leidend in ihrer Kajüte verbracht. Eckert hatte getreulich zu jeder Mahlzeit angefragt, ob er ihr etwas zu speisen bringen solle, doch stets hatte sie abgelehnt. Allein der Gedanke an Essen hatte Fygen Übelkeit verursacht, und so hatte er die Zeit damit zugebracht, dem ein oder anderen Matrosen beim Würfeln das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Doch heute fühlte Fygen sich endlich besser, und sie sehnte sich nach frischer Luft. Zudem verspürte sie etwas Appetit, und so richtete sie ihre Kleidung, band ihre Haube fest, und, noch ein wenig blass um die Nase, ging sie an Deck.
Das verlotterte Paar lagerte immer noch beim Ruderhaus. Der Rotgesichtige hatte den Arm um die Frau gelegt, und in bestem Einvernehmen teilten sie den Wein aus ihrem Krug. Eckert hatte recht behalten: Pack schlägt sich – Pack verträgt sich.
Ein frischer Wind blies Fygen die Röcke gegen die Beine, und sie sog tief die salzige Seeluft ein. Der Himmel war grau verhangen, und die unruhigen Wogen des Meeres schäumten bleifarben. So groß war der Unterschied zum Atlantischen Meer heute nicht, stellte Fygen mit Bedauern fest.
In einiger Entfernung konnte sie auf den Wellen drei andere Karavellen ausmachen. Die Segel im Wind gebläht, boten sie einen grandiosen Anblick. Fünf Schiffe waren es mit ihrem, die aus Gründen der Sicherheit in Conserva, das bedeutete im Verbund zu mehreren Schiffen, fuhren, wie Eckert ihr erklärt hatte. Denn zugunsten der Schnelligkeit entbehrten die wendigen Karavellen den Schutz starker Geschütze. Und die Gefahr von Korsaren war in diesen Gewässern nicht zu unterschätzen.
Ein jäher Aufschrei zwang Fygens Aufmerksamkeit zurück an Bord des Schiffes. Der Rotgesichtige hatte seiner Begleiterin derb ins Mieder gegriffen. Angewidert stieß sie seine Hand fort, und sofort war er auf den Beinen. Grob zerrte er sie an den Haaren hoch und schlug ihr ins Gesicht.
Kreischend versuchte die Frau auszuweichen, holte ihrerseits aus und schlug zurück. Das versetzte den Rotgesichtigen gänzlich in Rage. Mit schnellen, brutalen Schlägen prügelte er die Schwangere vor sich her über das ebene Deck der Karavelle. Schützend hielt sie die Hände vor den Bauch und versuchte den Schlägen auszuweichen. »¡Deixeu-lo estar! ¡Ay! Hör auf! Aua!«, schrie sie. Doch der Rotgesichtige hatte jede Hemmung verloren. Immer weiter wich die Frau vor ihm zurück, bis sie schließlich die Reling des Schiffes im Rücken spürte. Nun gab es keine Möglichkeit mehr zur Flucht. Der nächste Hieb traf sie auf die Wange, und sie schrie auf, gellend vor Schmerz.
Hilfesuchend blickte Fygen sich um. Doch von der Mannschaft schien niemand von dem Streit etwas bemerkt zu haben. Die Seeleute waren damit beschäftigt, die Segel zu reffen, damit das Schiff nicht zum Spielball der Winde würde.
Fygens Übelkeit war wie fortgeblasen. Mit wenigen Sätzen war sie bei dem Rotgesichtigen. »Hör auf, sie zu schlagen!«, befahl sie ihm in scharfem Ton.
Doch der Rotgesichtige schien außer seiner trunkenen Wut nichts wahrzunehmen. Erneut hob er die Faust, und Fygen fiel ihm in den Arm.
Stumpf wandte der Mann den Kopf. Wie ein lästiges Insekt wischte er Fygen beiseite und befreite seinen Arm, doch sogleich war sie wieder bei ihm. »Du sollst aufhören, habe ich gesagt!« Erneut packte sie ihn, diesmal am Hemd.
Mit einer heftigen Bewegung stieß der Rotgesichtige seine Begleiterin von sich. Sie schlitterte über das Deck und prallte schmerzhaft gegen das Holz der Reling. Wimmernd und zusammengekauert wie ein Bündel schmutziger Kleidung blieb die Elende liegen, die Hände vor das Gesicht gepresst, während der Rotgesichtige sich Fygen zuwandte.
Für einen Moment hielt er in seinem Rasen inne und glotzte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Dann hatte seine Wut ein neues Opfer gefunden. Hart und mit einer Plötzlichkeit, die ihm in seinem betrunkenen Zustand kaum zuzutrauen war, schlug er ihr mit der Außenseite der Hand ins Gesicht.
Fygen taumelte unter der Wucht des Schlages. Die Benommenheit ließ sie den Schmerz nicht sogleich spüren, doch seltsam deutlich war ihr der metallische Geschmack von Blut. Ihr Kopf dröhnte dumpf, und sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Mit ausgestreckten Armen griff der Rotgesichtige nach Fygen, packte sie und zog sie an sich.
Fygen roch seinen alkoholgeschwängerten Atem. Angewidert presste sie die Handflächen gegen das schmierige Tuch seines Hemdes und versuchte verzweifelt, sich seinen Armen zu entwinden. Doch der Rotgesichtige hielt sie wie mit Zwingen.
Plötzlich jedoch gab der Kerl sie frei, und Fygen taumelte zurück. Jemand hatte ihren Widersacher am Hals gepackt und von ihr fortgezerrt.
Dann krachte dem Rotgesichtigen eine geballte Männerfaust in das Gesicht. Überrascht griff er sich an die schmerzende Wange und spuckte auf die Planken.
Abermals traf ihn Eckerts Faust. Doch der Rotgesichtige war hart im Nehmen. Kurz schüttelte er seine Benommenheit ab, dann ging er mit erhobenen Fäusten auf Eckert los.
Fygens alter Reisegefährte war kein unerfahrener Kämpfer. Seit den Tagen, da er sich in London mit den Wachleuten des Tower geschlagen und seinen Herrn aus den Händen der englischen Gerichtsbarkeit befreit hatte, waren zwar etliche Jahre vergangen, doch er war zäh und in sehr guter Verfassung.
Fygen hielt sich die brennende Wange. Sie war immer noch benommen von dem Schlag und unfähig, um Hilfe zu rufen. Mit verschleiertem Blick starrte sie auf die Kämpfenden, sah, wie Eckert sich dem wütenden Angriff des Rotgesichtigen widersetzte. Einen Arm zur Deckung vor den Kopf erhoben, gelang es ihm, dem Kerl den einen oder anderen empfindlichen Hieb zu versetzen.
Doch schließlich forderte das Alter seinen Tribut. Für einen Moment nur senkte Eckert den Arm, und sogleich traf die Faust des Rotgesichtigen sein Kinn. Fygen schrie auf, und wie gefällt ging Eckert zu Boden.
Der Rotgesichtige versetzte ihm verächtlich einen Tritt, dann wandte er sich wieder Fygen zu, die immer noch wie festgewachsen an der Reling stand. Über seiner linken Augenbraue klaffte ein Riss, der wohl einem von Eckerts Schlägen zuzuschreiben war. Blut rann aus der Wunde, und das feiste Gesicht des Kerls verzerrte sich zur schmierigen Grimasse.
Mit schlafwandlerischer Langsamkeit hob Fygen die Hände, um den unausweichlichen Schlag abzuwehren, als jemand sie packte und beiseitestieß.
Fygen wandte den Kopf und blickte sich verwirrt um. Eckert lag noch immer auf den Planken ausgestreckt, an der Stelle, an der ihn der Rotgesichtige niedergeschlagen hatte. Nicht er war es, der sie vor ihrem Peiniger in Sicherheit gebracht hatte, sondern der hochmütige Spanier, nun jedoch ohne seinen Reisemantel. Fygen hatte ihn zuvor nicht an Deck bemerkt.
In herrischem Ton, den Oberkörper drohend vorgebeugt, wies de la Vega den Rotgesichtigen zurecht.
Fygen verstand seine Worte nicht, doch den Rotgesichtigen versetzten sie augenscheinlich in noch größere Wut. Er stieß einen unkontrollierten Schrei aus, dann stürzte er sich auf den Spanier, die Hände zu Fäusten geballt. Geschickt wich de la Vega ihm aus und hieb dem Kerl in den Nacken.
Blitzschnell wandte dieser sich um und hatte plötzlich ein Messer in der Rechten. Erneut stürzte er sich auf de la Vega. Abermals wich der Spanier aus, und der Hieb des Rotgesichtigen traf ins Leere. Eine Weile umkreisten sich die beiden Kontrahenten wie listige alte Kater, bis der Rotgesichtige einen neuen Anlauf unternahm. Mit der Linken wischte er sich das Blut vom Gesicht, dann warf er sich mit der ganzen Wucht seines massigen Körpers de la Vega entgegen, der gefährlich nahe an der Reling stand.
Der Spanier machte einen Schritt zurück, um der Wucht seines Angreifers zu entgehen. In dem Moment erfasste eine starke Böe das Schiff, und es krängte gefährlich. Die Wanten ächzten, und die Backbordseite neigte sich der Wasseroberfläche zu.
De la Vega strauchelte, seine Füße verloren den Halt. Schwer stürzte er gegen die Reling, und sein Oberkörper ragte weit über die bleigraue Flut.
Ein spitzer Schrei drang an Fygens Ohr. Starr vor Schreck klammerte sie sich an die Reling, merkte nicht, dass der Schrei ihr eigener war.
Einen unendlichen Augenblick später entließ die Böe die Karavelle endlich aus ihren Klauen. Das Schiff richtete sich auf, und de la Vegas Hände fanden Halt am feuchten Holz der Reling.
Kurz blitzte das Messer in der Hand des Rotgesichtigen im Licht. Abermals schrie Fygen auf, doch schon fuhr es in den feinen Stoff von de la Vegas Hemd. Das Leinen riss, und die Klinge schnitt den Spanier in den Unterarm.
Scharf sog de la Vega die Luft durch die Zähne. Doch nur einen Wimpernschlag darauf traf seine Handkante bereits das Gelenk der Hand, die das Messer führte. Der Knochen brach, und mit einem Scheppern fiel das Messer zu Boden. Mit dem Fuß beförderte de la Vega es außer Reichweite.
Der Getroffene stieß ein durchdringendes Heulen hervor und umklammerte seine schlaff herabhängende Hand mit der Linken.
Langsam kam de la Vega auf die Beine. Ein hellroter Fleck breitete sich auf dem weißen Stoff seines Hemdes aus, doch das schien den Spanier nicht zu kümmern. Mit beiden Händen packte er den Rotgesichtigen und stieß ihn gegen das Ruderhaus. »Du wirst das Mädchen nie wieder anrühren, weder hier an Bord noch sonst irgendwo. Und du wirst dich der Senyora gegenüber respektvoll verhalten, sonst breche ich dir auch noch die andere Hand. Hast du mich verstanden?«
Der Rotgesichtige winselte.
»Hast du mich verstanden?«, wiederholte de la Vega schärfer und hieb ihm gegen das zerschlagene Gelenk.
Der Rotgesichtige stieß einen hohlen Schrei aus. Dann nickte er. »Sí, ja, Senyor!«
De la Vega löste seinen Griff und nickte ebenfalls, während der Rotgesichtige wimmernd zu Boden sackte.
»Einen feinen Pöbel habt Ihr da an Bord gelassen!«, fuhr er den Kapitän an, der soeben herbeitrat.
»Ich bedaure zutiefst, Senyor …« Verlegen rang der Gescholtene seine großen Hände.
Doch de la Vega war noch nicht fertig mit ihm. »Ich will diesen Kerl nicht mehr an Deck sehen und erwarte, dass Ihr ein wachsames Auge auf ihn habt!«, befahl er. »Am besten, Ihr legt ihn für den Rest der Reise in Ketten. Und kümmert Euch darum, dass man seinen Arm versorgt!«
Der Kapitän verbeugte sich respektvoll und packte den Rotgesichtigen beim Kragen. Ohne zu murren oder sich zu widersetzen, ließ dieser sich von ihm fortführen.
Zitternd, die Hände so fest um das Holz gekrampft, dass das Weiße der Knöchel hervortrat, stand Fygen immer noch an der Reling. So schnell war das alles gegangen. Sie atmete tief ein, um das Zittern zu vertreiben, dann löste sie vorsichtig ihren Griff und bewegte die Finger.
Mit wenigen Schritten war de la Vega bei ihr und packte sie grob am Arm. Seine Augen waren dunkel vor Zorn. »Ihr, Senyora! Was mischt Ihr Euch in Angelegenheiten, die Euch nichts angehen?«, schnauzte er sie an.
»Wenn ich mich nicht eingemischt hätte, so hätte er seine Frau totgeprügelt!«, gab Fygen zurück. Sie spürte, wie hektische rote Flecken sich über ihren Hals ausbreiteten.
»Und wenn schon!«
»Ihr hättet nicht eingegriffen?«, fragte Fygen ungläubig.
»Nein, warum sollte ich? Solcher Pöbel schlägt sich, und dann verträgt er sich wieder.«
Fygen biss sich auf die Lippe. Das war die gleiche Ansicht, die auch Eckert vertreten hatte.
De la Vega zog eine Augenbraue hoch und bedachte sie wieder mit diesem unerträglich arroganten Blick. »Wenn Ihr unter Deck geblieben wäret, wie ich Euch geraten habe, wäre das hier nicht passiert. Überhaupt, was hat eine Frau auf Reisen zu suchen!« Abrupt wandte er sich ab und ließ Fygen stehen.
Mit einem Stöhnen kam Eckert auf die Beine, unsicher zunächst, und fahl im Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis er sich im Wachsein zurechtfand. Er streckte die geschundenen Muskeln an Armen und Beinen, dann fuhr seine Hand tastend an sein Kinn. Doch außer einem blau unterlaufenen Auge, das langsam anzuschwellen begann, und einem blutigen Riss, der sich vom Winkel seines Auges quer über die Wange bis zur Lippe zog, hatte Eckert keine nennenswerten Blessuren davongetragen.
Kurz schüttelte er den Kopf, um die Nebel in seinem Hirn zu vertreiben. Unter schweren Lidern hervor blickte er sich um und sah gerade noch, wie der Kapitän den Rotgesichtigen, nun hilflos zusammengekrümmt und all seiner Bedrohlichkeit beraubt, unter Deck brachte.
Besorgt musterte Eckert seine Dienstherrin von Kopf bis Fuß, und als er erkannte, dass Fygen kein weiteres Leid geschehen war, seufzte er erleichtert auf. Doch sogleich überzog eine schamhafte Röte sein Gesicht, und er senkte schuldbewusst den Blick.
Fygen erriet, was ihren getreuen Reisegefährten bewegte. Er schämte sich zutiefst, dass er seine Pflicht nicht erfüllt und es nicht vermocht hatte, sie vor den Übergriffen des Rotgesichtigen zu schützen. Sachte berührte sie mit der Hand seinen Arm. Doch Eckert überging ihre mitfühlende Geste. Ohne ein Wort, das Haupt schamvoll gesenkt, schlich er an Fygen vorbei, seiner Kabine im Achterkastell zu.
Ein wenig verloren blieb Fygen auf dem Deck des Schiffes zurück. Sie fröstelte, und um sich zu wärmen, schlang sie die Arme um ihre Schultern.
Außer der weinenden Frau, die sich in einigem Abstand an der Reling zusammengekauert hatte, schien der Zwischenfall niemanden weiter zu berühren. Die Matrosen gingen unbekümmert ihren Aufgaben nach, zerrten an Tauen, kletterten in die Wanten und machten sich in anderer Weise an Deck zu schaffen.
Fygens linke Gesichtshälfte fühlte sich taub an, als sei sie mit Watte gestopft. Vorsichtig betastete sie ihre Wange, und mit einem Mal schoss ihr der Schmerz in das Gesicht, als hätte er im Verborgenen nur darauf gelauert, dass sie sich seiner entsann, um sie nun heimtückisch hinterrücks zu überfallen.
Fygen erwischte einen der Bootsjungen am Hemd und bat ihn, ihr einen Eimer Wasser und saubere Lappen zu bringen. Alsbald kehrte dieser mit dem Gewünschten zurück, und sogleich tauchte Fygen einen der Lumpen in das Nass und drückte ihn sich kühlend auf die brennende Schwellung in ihrem Gesicht.
Die junge Frau lag immer noch an der Reling. Fygen nahm den Eimer auf und trat damit zu der Weinenden. Sachte berührte sie die Frau an der Schulter.
Das Wehklagen wurde lauter, und zunächst dachte Fygen, es rühre von den Schmerzen her, die ihr der Rotgesichtige zugefügt hatte, doch die Frau weinte aus Angst. »Wer beschützt mich denn jetzt?«, wimmerte sie.
»Er wird dir nichts mehr tun«, tröstete Fygen. »Der Senyor wird nicht zulassen …«
»Nicht vor ihm! Vor allen anderen! Wer beschützt mich jetzt?« Mit vom Weinen geröteten Augen starrte die junge Frau Fygen herausfordernd an.
Fygen hatte sie gründlich missverstanden, das merkte sie jetzt. »Beschützt?« Fygen konnte nicht umhin, das Wort spöttisch zu wiederholen. »Und wer schützt dich vor ihm? Dich und dein Kind? Wenn der Senyor nicht eingeschritten wäre, hätte dein feiner Beschützer dich totgeschlagen«, rief sie aufgebracht. »Du bist noch so jung. Was hast du mit solch einem Kerl zu schaffen? Glaub mir, ohne den bist du besser dran!«
»Was wisst denn Ihr!« Die Frau schniefte verächtlich, um sogleich erneut in Tränen auszubrechen. »Er ist doch alles, was ich habe!«
In gebrochenem Deutsch, doch für Fygen durchaus verständlich, brach es unter Schluchzen aus ihr heraus: Sie stammte aus Valencia. Ihre Eltern waren arme Leute, denen allzu oft sogar das Dach über dem Kopf fehlte, der Vater ein Trinker und Tagelöhner. Vor ein paar Jahren, als sie noch ein ganz junges Mädchen war, hatte ihre Mutter sich an einem eisigen Dreikönigstag mit einem Matrosen davongemacht. Nur wenige Tage darauf hatte ihr Vater in einer der verkommenen Spelunken der Stadt, in die er seinen geringen Verdienst trug, den Rotgesichtigen getroffen, einen Händler aus Tirol. Für kleines Geld hatte dieser das Mädchen seinem Vater abgehandelt und sie mit auf seine Reisen genommen. Und immer wenn die Geschäfte schlecht liefen oder wenn sich gerade die Gelegenheit bot, dann hatte er auch sie verkauft, für eine Stunde oder eine Nacht. Und nun war sie in Umständen …
Fygen lauschte der unglücklichen jungen Frau, ohne sie zu unterbrechen, und als sie geendet hatte, fragte sie sanft: »Wie heißt du, Kind?«
»Filomena.«
»Filomena, glaub mir« – Fygen seufzte –, »es wird vielleicht etwas dauern, bis du es einsiehst, doch ohne ihn bist du wirklich besser dran. Einen Kerl wie den findest du allemal wieder. Du musst jetzt an dein Kind denken. Was, wenn er dem Kind etwas zuleide tut?«
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickte Filomena zu Fygen auf und nickte vage. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
Fygen griff mit der Rechten in den ledernen Beutel an ihrem Gürtel und entnahm ihm ein Geldstück. »Hier, damit kommst du zurecht, bis dein Kind auf der Welt ist. Und dann suchst du dir eine Arbeit«, sagte sie und reichte es dem Mädchen.
Filomena blickte ungläubig zunächst auf die Münze, dann auf Fygen. Hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, und mit einem letzten Aufschluchzen schloss sie ihre Hand um die Münze.
Endlich war es geschafft, dachte Lisbeth glücklich, als sie auf die Straße hinaustrat. Seit gestern saßen die Weberinnen wieder vor ihren aufgescherten Webstühlen.
Das Durcheinander hatte eine Ordnung erhalten: Man hatte die gesamte Habe der Ime Hofe samt Betten, Töpfen, Kisten und Kästen im Haus Zur Roten Tür untergebracht. Mertyn war mit seinen Geschäftsbüchern in das alte Kontor gezogen, das sein Vater einst benutzt hatte, in der Werkstatt war man zusammengerückt, damit Lisbeths Webstühle Platz fanden, und ihre Lehrmädchen waren zu denen von Katryn unter das Dach des Hauses gezogen.
Katryn hatte ihre Ankündigung wahr gemacht und war am Morgen nicht in der Werkstatt erschienen. Stattdessen hatte ihre Schwiegermutter sich nach der Morgensuppe in stillem Vergnügen in der behaglichen Stube neben ihrer Kammer an den Webstuhl gesetzt, den Lisbeth ihr dort hatte hinaufbringen lassen.
Für einen Moment wandte Lisbeth ihr Gesicht der Frühlingssonne zu und genoss die Wärme auf der Haut. Nach all dem Räumen war es an der Zeit, es sich ein wenig gutgehen zu lassen und zu feiern. Und das war auch der Grund, warum sie es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst in die Wolkenburg zu gehen, um Herman und Stephan zum Maiumtrunk der Familie ins Haus Zur Roten Tür einzuladen, obwohl der Arbeit eigentlich kein Ende war.
Lisbeth traf Stephan im Kontor an. Er hatte sich auf Fygens Sessel niedergelassen, den dunklen Schopf in beide Hände gestützt. Unverwandt starrte er auf einen großen Bogen Papier, der vor ihm auf dem Arbeitstisch lag. Bei ihrem Eintreten bedachte er das Blatt mit einer betont gequälten Grimasse. Dann hob er erfreut den Kopf und blitzte Lisbeth strahlend an.
Im selben Moment erschien Herman in der Tür. Herzlich umarmte er seine Schwester, bevor er zu dem Platz hinter dem Arbeitstisch ging, den Stephan mit einem unmerklichen Zögern räumte.
Neugierig warf Lisbeth einen Blick auf das große Blatt. Wenige Worte standen darauf, doch viele Zahlen, in Blöcken untereinandergeschrieben. »Was ist das?«, fragte sie, während Stephan ihr einen Becher verdünnten Wein reichte.
Herman wies auf einen Stuhl dem Tisch gegenüber, und ein jungenhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. »Gib mir bitte auch einen Becher«, sagte er zu Stephan, ohne den Kopf zu wenden.
Lisbeth ließ sich nieder, und ohne direkt auf ihre Frage einzugehen, fragte Herman im Plauderton: »Wie gehen die Geschäfte?«
»Gut«, antwortete Lisbeth.
»Woher weißt du das?« Hermans Lächeln wurde breiter.
Irritiert blickte Lisbeth ihren Bruder an. »Nun, ich habe ein hübsches Sümmchen in die Truhe gelegt, einen Satz Silberbecher für die Tafel angeschafft …«
Herman nickte. »Aber hast du mehr verdient als im Jahr davor?«
Lisbeth hob die Schultern und krauste die Stirn. »Vielleicht. Ja, schon. Das heißt …« Sie verstummte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie wusste es nicht zu sagen. »Aber wozu soll ich das wissen wollen?«
»Um herauszufinden, wie du noch mehr verdienen kannst!«
Nun blickte auch Stephan Herman gespannt an.
»Und das geht mit diesem großen Blatt?«, schloss Lisbeth.
Herman nickte. »Es ist eine ganz neue Art, die Geschäftsbücher zu führen«, erklärte er begeistert. »Man nennt sie die Venezianische Methode. An den italienischen Schulen für Kaufleute wird sie jetzt gelehrt. Alberto wendet sie schon an, und er hat mir erklärt, wie es geht.«
»Und, wie geht es?«
»Stell dir vor, du gibst zweihundertfünfzig Gulden für Rohseide aus. Bist du danach ärmer oder reicher?«
»Ärmer!«, sagte Lisbeth. »Ich habe ja das Geld ausgegeben.«
»Ärmer«, meinte auch Stephan.
»Und genau so steht es auch da, wenn du es wie bisher in dein Geschäftsbuch schreibst. Das Geld ist weg – du bist ärmer.« Hier machte Herman eine bedeutsame Pause, um dann fortzufahren: »Aber stimmt das denn? Du hast ja die Seide. Die ist doch genauso viel wert«, gab er zu bedenken.
Lisbeth und Stephan sahen sich an. »Also bin ich genauso reich wie vorher«, stellte Lisbeth fest.
Herman nickte. »Aber in den Büchern steht es anders.«
»Und wie verzeichnet man es richtig in den Büchern?«, drängte Lisbeth zu erfahren.
»Du schreibst alle Geschäftsvorfälle in dein Buch, wie du es gewohnt bist.« Herman wies auf ein schlichtes zusammengenähtes Heft. »Doch dann kommt das Neue: Du überträgst alle Vorfälle in sogenannte Konten. Und zwar doppelt! Für jedes Konto malst du einen Querstrich und mittig darunter einen Längsstrich.« Herman nahm ein neues Blatt zur Hand, malte ein Konto darauf und schrieb das Wort »Ware« darüber.
»Wird etwas mehr, dann schreibst du es auf die linke Seite. Verlierst du etwas, dann trägst du es rechts in das Konto ein.
Zum Beispiel kaufst du Rohseide und bezahlst mit barer Münze aus dem Säckel. Dann schreibst du in dem Warenkonto links ›Kauf von Rohseide‹, denn die ist mehr geworden, und den Betrag, den du dafür gezahlt hast, zum Beispiel zweihundertfünfzig Gulden.« Während Herman sprach, nahm er den entsprechenden Eintrag vor. Dann malte er daneben ein zweites Konto mit dem Titel »Kasse«. »Das Geld wird weniger in der Kasse, also trägst du es im Konto ›Kasse‹ rechts ein. Und zwar wieder mit dem Vermerk, dass du dafür Rohseide gekauft hast.
Du hast also diesen einen Vorgang doppelt aufgeschrieben, einmal bei Ware, einmal bei der Kasse. Du kannst immer sehen, wo dein Geld herkommt und wo es hingeht: es kommt aus der Kasse und fließt in die Rohseide.
So machst du es mit allen Geschäftsvorfällen. Und am Ende vergleichst du die rechten und die linken Seiten. Wenn die Beträge auf der linken Seite größer sind, hast du etwas hinzugewonnen, wenn die Beträge auf der rechten Seite überwiegen, hast du verloren.
Ich gebe euch noch ein Beispiel, ein schwierigeres: Du nimmst die Rohseide im Wert von zweihundertfünfzig Gulden und verwebst sie zu Stoff. Wie schreibst du das auf?«
»Das schreibe ich gar nicht auf. Das ist doch meine normale Arbeit.«
»Aber dennoch ist es ein Geschäftsvorfall«, widersprach Herman. »Versuch es doch einfach mal!«
Lisbeth zog das Blatt zu sich heran. »Ich nehme Seide. Die wird weniger …«, begann sie. »Also schreibe ich sie hierhin.« Sie deutete auf die rechte Seite des Warenkontos.
»Und fertige Ware wird mehr«, ergänzte Stephan.
Herman nickte zustimmend. »Aber wie viel ist sie wert? Weit mehr als die zweihundertfünfzig Gulden, will ich meinen.«
Lisbeth nickte verblüfft.
»Genau! Das ist es!«, rief Stephan begeistert. »Wenn man es zusammenzählt, wird es rechts um einiges mehr.«
»Und genau das ist dein Gewinn!«
Während der nächsten Stunde fuhr Herman fort, Lisbeth und Stephan in die Geheimnisse der neuen Art, die Bücher zu führen, einzuweihen.
Und nachdem Stephan ihren Becher zum wiederholten Male aufgefüllt hatte, setzte Lisbeth sich in ihrem Sessel zurück. »Das Prinzip, wie man es macht, habe ich verstanden. Doch was mir immer noch nicht ganz einleuchtet, ist, wozu das Ganze gut sein soll.«
»Kontrolle«, antwortete Herman. »Du hast jederzeit einen guten Überblick über alle Ausgaben und Einnahmen. Siehst, welche Geschäfte nutzbringend waren und welche nicht, bemerkst, wenn etwas fehlt …«
Stephans Stirn umwölkte sich. Seine anfängliche Begeisterung schien verflogen. »Das ganze Aufschreiben kostet eine Menge Zeit«, sagte er gedehnt. »Und die bringt man meiner Meinung nach besser damit zu, das Geld zu verdienen.«
Lisbeth teilte seine Auffassung nicht. Auch wenn es zu Beginn sicher eine Umstellung für sie bedeutete und mit erhöhtem Aufwand verbunden war, so mochte doch auf lange Sicht der Nutzen überwiegen. Sie würde sofort damit beginnen, ihre Bücher auf die neue Weise zu führen, beschloss Lisbeth.
Sie betrachtete ihren Bruder mit neuem Respekt. Das Reisen schien aus ihm endlich einen umsichtigen Kaufmann gemacht zu haben, einen, der wusste, was er wollte. Fygen würde seine Hilfe im Geschäft sicherlich zu schätzen wissen.
Es war schön, dass Herman heimgekehrt war. Vielleicht würde er mit den Jahren sogar die Lücke schließen, die Peters Tod gerissen hatte? Gerade jetzt, wo ihre Mutter auf Reisen war, kam Lisbeth der Verlust des Vaters besonders schwer an, und sie hoffte inständig, dass Herman nun für immer blieb. Vielleicht hatte er ja auch inzwischen die Schwäche abgelegt, bei der ersten Schwierigkeit, die sich ihm stellte, Reißaus zu nehmen? Es war an der Zeit, dass Herman heiratete und sesshaft wurde, fand Lisbeth. Die Wolkenburg konnte durchaus wieder Kinderlachen vertragen.
Natürlich: Clairgin, kam es ihr in den Sinn. Dass sie nicht eher darauf gekommen war! Clairgin war eine hübsche junge Frau und Herman ein ansehnlicher Bursche – Lisbeth sah nicht ein, warum es mit den beiden nichts werden sollte. Je mehr sie über die Sache nachdachte, desto besser gefiel sie ihr. Sie würde auch Clairgin zu ihrem Maiumtrunk laden!