21.  Kapitel

Um die Zeit des Mittagsläutens machte Lisbeth sich auf den Weg zum Alter Markt. Sie hatte beschlossen, dem garstigen Wetter zu trotzen und selbst ins Goldene Krützchen zu gehen, anstatt eine der Mägde zu schicken. Es war der Tag nach Sankt Thomas, vier Tage, bevor man das Christfest feiern würde.

Anders als im Jahr zuvor waren Lisbeth und ihre Schwester Agnes übereingekommen, die Weihnachtsfeierlichkeiten in diesem Jahr nicht gemeinsam in der Wolkenburg zu begehen, da Andreas Lisbeth angesichts Sophies neuester Ungebührlichkeit immer noch gram war.

Beide Schwestern wünschten sich ein friedvolles Fest. Da war es geschickter, wenn Lisbeth ihrem Schwager noch für eine Weile aus dem Weg ging. Obschon sich an jenem Martinsabend nach seinem misslichen Beginn letztendlich noch alles zum Guten gewandt und man doch noch auf die Verlobung der Brautleute sich hatte zutrinken können.

Eisige Windböen trieben ihr Spiel mit den Schneeflocken, die aus der grauen Watte des Himmels fielen, bevor sie sich an den Säumen der Gassen zu weißen Haufen sammelten. Auf dem Alter Markt hatte nur eine Handvoll Händler ihre Stände aufgebaut, um ihre Waren anzubieten. Frierend traten sie von einem Fuß auf den andern, rieben sich die Finger warm und harrten der wenigen Kunden, die den Weg zu ihnen finden mochten.

Lisbeth war froh, als sie sich endlich in den warmen Schankraum des Weinzapfes flüchten konnte.

»Nanu, Lisbeth! Was treibt dich bei dem Wetter vor die Rote Tür?«, begrüßte Rudolf sie und nötigte Lisbeth auf eine Bank in der Schankstube. Aus der Küche drang wunderbarer Bratenduft zu ihnen herein.

»Ich wollte dich bitten, den Weihnachtstag mit uns zu verbringen«, antwortete Lisbeth. Seit ihre Mutter in Valencia lebte, sah sie Rudolf nicht mehr oft, doch sie hatte Fygens Sitte beibehalten, ihn zu allen Feierlichkeiten ins Haus Zur Roten Tür einzuladen, denn auf eine eigenartige Weise gehörte er für sie zur Familie.

Ein schlaksiger Bursche, auf dessen Gesicht eine längst überstandene Pustelkrankheit kraterförmige Narben hinterlassen hatte, kam eilfertig herbei und stellte einen gefüllten Becher vor Lisbeth hin.

Erstaunt merkte diese auf. »Wo ist Martha?«, fragte sie verwundert.

Die Frage entlockte Rudolf ein gutmütiges Lächeln. Er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie die Namen der Schankmädchen verwechselte, die für eine Weile zu seiner Favoritin avancierten und ihm Herz und Bett wärmten. Sie hatten einander alle geähnelt, waren blond und hübsch gewesen, denn nicht umsonst stand das Goldene Krützchen am Alter Markt im Ruf, die schönsten Schankmädchen der Stadt zu haben.

Dennoch konnte Rudolf der Versuchung nicht widerstehen, Lisbeth mit aufgesetzter Empörung zu rügen: »Die Letzte hieß Barbara!«

»Entschuldige.« Lisbeth lachte. »Barbara also?«

»Fort«, sagte er mit schelmischem Grinsen und wischte mit dem Ärmel einen nicht vorhandenen Fleck vom Schanktisch. Dann wechselte er abrupt das Thema, und seine Miene wurde ernst: »Hast du gehört, was gestern bei der Meisterwahl der Steinmetzen geschehen ist?«

Lisbeth schüttelte verneinend den Kopf.

»Sie konnten sich nicht einigen, und die Wahl endete in einer ausufernden Rauferei, bei der sie sich die Köpfe blutig geschlagen haben.«

»Wie schrecklich!«, erwiderte Lisbeth. »Doch es überrascht mich nicht. Die Steinmetze sind verwegene Raufbolde. Bei Zwistigkeiten sind sie rasch mit Messer und Hammer bei der Hand, dafür sind sie bekannt.«

»Ja, das stimmt. Aber ich fürchte, diesmal ist es schlimmer«, orakelte Rudolf. »Die Zunftmeister waren nicht in der Lage, den Streit zu schlichten. Sie haben den Rat um Hilfe gebeten und ihn ersucht, die streitlustigen Genossen zur Verantwortung zu ziehen und zu bestrafen.«

Lisbeth furchte die Stirn. »Die Steinmetze dulden für gewöhnlich keine Einmischung in ihre Angelegenheiten, schon gar nicht von Seiten des Rates. Wenn sie zu solch drastischen Mitteln greifen, dann steht es in der Tat schlimm«, stimmte sie Rudolf zu.

Der nickte düster. »Ich sage dir, es liegt Ärger in der Luft. Als Schankwirt hört man so manches, was anderen entgeht. Ich glaube, es kommt Schlimmes auf uns zu!«, prophezeite er.

Lisbeth nahm den letzten Schluck aus ihrem Becher und stellte diesen auf dem Tisch ab. Der würzige Wein hatte sie gewärmt, und es wurde Zeit, zu gehen, wenn sie zum Mittagsmahl daheim sein wollte. »Du kommst also zur Christnacht?«, sagte sie, mehr Feststellung als Frage, und erhob sich.

Doch zu ihrer Überraschung schüttelte Rudolf den Kopf. »Nein, Lisbeth. Ich fürchte, in diesem Jahr kann ich deiner lieben Einladung nicht folgen. Meiner Gemahlin wird es nicht recht sein.« Bedauernd hob er die Schultern.

»Deiner Gemahlin? Rudolf! Du hast geheiratet! Warum erzählst du mir das erst jetzt? Wie schön für dich! Ich dachte schon, du würdest nie die Rechte finden. Wer ist sie? Kenne ich sie?«, bestürmte Lisbeth ihn mit Fragen.

Rudolfs Wangen färbten sich einen Ton dunkler als gewohnt, und er rang die Hände.

Suchend blickte Lisbeth sich in der Schankstube um. »Wo ist sie? Ich möchte sie begrüßen.«

Als hätte sie Lisbeths Worte vernommen, trat in dem Moment eine junge Frau aus der Küche. Sie trug ein schlichtes graues Kleid mit Schürze und hatte ihr Haar mit einem einfachen Tuch bedeckt. In den Händen hielt sie eine Platte mit gebratenen Würsten.

Vor Erstaunen wurden Lisbeth die Augen rund, als sie die Frau erkannte. Rudolfs Gemahlin war niemand anders als ihre einstige Freundin – Clairgin van Breitbach.

Lisbeth sprang von ihrer Bank auf. »Clairgin, wie mich das freut! Meinen Glückwunsch!«, rief sie und eilte mit ausgestreckten Armen auf Clairgin zu.

Clairgin wandte den Kopf. Ein Schatten fiel über ihr Gesicht, und sie wich überrascht zurück. Betroffen hielt Lisbeth inne und ließ die Arme sinken.

Doch dann klärten sich Clairgins Züge, und sie schenkte Lisbeth ein unsicheres Lächeln. »Danke«, sagte sie und zögerte einen Moment lang, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch dann entschied sie sich dagegen.

Rudolf trat neben seine Gemahlin und legte ihr den Arm um die Schultern. Clairgin schaute zu ihm auf, und die beiden wechselten einen Blick, der Lisbeth verriet, dass ihre Ehe nicht nur zweckdienlich war. Clairgin schien ihren Mann aufrichtig zu lieben, und Lisbeth konnte sich nicht erinnern, dass Rudolf eines seiner Schankmädchen mit solcher Zärtlichkeit angesehen hätte. Die einzige Frau, die Rudolf so angeschaut hatte, war Fygen gewesen, ihre Mutter.

Clairgin löste sich aus der Umarmung ihres Mannes. »Wenn ihr mich entschuldigt? Ich habe zu tun«, sagte sie und stellte die Platte mit den Würsten auf dem Schanktisch ab. Noch einmal lächelte sie Lisbeth an, dann verschwand sie wieder in der Küche.

Mit gemischten Gefühlen blickte Lisbeth ihr nach. Es freute sie für Rudolf und Clairgin, dass sie zueinandergefunden hatten. Doch es erfüllte sie zugleich auch mit Traurigkeit. Zum einen, weil ihr Rudolfs fröhliche Art fehlen würde, da kaum zu erwarten stand, dass sie ihre ungezwungene Kameradschaft weiterhin würden pflegen können. Denn zwischen ihr und Clairgin würde wohl nie mehr eine enge Freundschaft, wie sie einst bestanden hatte, entstehen. Doch immerhin schien Clairgin ihr nicht länger gram zu sein.

Zum anderen betrübte Lisbeth der Gedanke, dass Clairgin nun im Krützchen einer Arbeit nachging, die eine Magd genauso gut verrichten konnte. Welch eine Verschwendung, dachte sie bekümmert. Clairgin war mit Leib und Seele Seidmacherin gewesen, eine der Besten ihrer Zunft.

»Es tut mir leid«, sagte Rudolf leise.

»Ist schon gut«, antwortete Lisbeth und griff nach ihrem Umhang. »Ein gesegnetes Weihnachtsfest – für euch beide«, wünschte sie und trat auf den Alter Markt hinaus.

 

Dicke Schneeflocken taumelten aus dem Nachthimmel, überzuckerten die Dächer der Häuser und Türme und legten sich wie schmückende Steine auf Mäntel und Hüte, als Lisbeth mit Mertyn und den Kindern in der Heiligen Nacht zur Christmette in die Pfarrkirche Sankt Brigida ging. Ein weißer Teppich aus Schnee dämpfte ihre Schritte, und er schien auch alle anderen Geräusche in sich aufzusaugen und eine ungewöhnliche Stille zurückzulassen.

Das Gotteshaus empfing sie in festlichem Schmuck. Dicke Altarkerzen brannten, der schwere Duft von Weihrauch füllte die Luft, und unzählige Kerzen tauchten die versammelte Gemeinde in heimeliges Licht. Es war wie an jedem Heiligen Abend. Und doch kam es Lisbeth vor, als laste unter dem hohen Dach des Gotteshauses eine Spannung, die jeden, groß oder klein, ergriffen zu haben schien.

Wo in den vergangenen Jahren nur fromme Andacht geherrscht hatte, wenn der Pfarrer in feierlicher Prozession das Jesuskindlein durch die Kirche trug, raschelten heute Kleider, scharrten Füße, und weit häufiger als gewohnt durchschnitt das Weinen eines Kindes die ehrfürchtige Stille.

Etwas Drohendes schien über der Stadt zu schweben, dachte Lisbeth unbehaglich, während die Gemeinde »In dulci jubilo, nun singet und seid froh« anstimmte. Vielleicht hing es mit den Steinmetzen zusammen? Oder waren das alles nur Hirngespinste, ausgelöst durch Rudolfs düstere Prophezeiungen?

Der Pfarrer hatte indes das Kindlein in die Wiege auf dem Altar gelegt, und zwei junge Messdiener schaukelten die Wiege mit der Puppe, die das Jesuskindlein darstellte. Doch auch sie schienen nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache zu sein. Einer von ihnen mochte es wohl mit dem Wiegen zu gut gemeint haben, denn mit einem Mal rutschte die Wiege vom Altar und schlug mit lautem Krachen auf die steinernen Fliesen des Gotteshauses. Mitten im Jubilo erstarb der Gesang der Gemeinde.

Der Missetäter beeilte sich, das Jesuskindlein, das aus seiner Wiege gefallen und über den Boden gerollt war, aufzuheben. Verstohlen wischte er es an seinem Messgewand sauber und bettete es zurück in seine Wiege. Als diese wieder an Ort und Stelle auf dem Altar stand, nahm die Gemeinde ihren Gesang wieder auf. Doch es schien Lisbeth, als klinge das Jubilo nicht mehr ganz so inbrünstig wie zuvor.

Es kam Lisbeth gar nicht ungelegen, den Weihnachtsabend anstatt in der Wolkenburg im trauten Kreis ihrer Lieben zu verbringen. Bereits seit dem Morgen drang herrlicher Bratenduft aus der Küche und zog durch das ganze Haus, und als Lisbeth sich schließlich des Abends mit Mertyn und den Kindern an die festliche Tafel setzte, konnte sie es kaum erwarten, bis die saftige Rindslende serviert wurde.

Im Kamin in der Stube loderten Buchenscheite und verbreiteten eine wohlige Wärme, und als die Familie sich mehr als satt gegessen hatte, gesellten sich auch die Köchin, die Mägde und Mathias zu ihnen, die in der Küche ihren eigenen Festschmaus gehalten hatten.

Die Lehrmädchen und Lisbeths angestellte Weberinnen waren über die Festtage zu ihren Familien heimgekehrt, und so war es eine überschaubare Schar, die gemeinsam die frommen Lieder sang, in deren Takt Mertyn die Wiege hin und her schaukelte, der der kleine Peter gerade entwachsen war. Eine von Lisbeths alten Puppen gab, in ein Steckkissen gewickelt, das Jesuskind.

Nachdem man sich die vom Singen rauhen Kehlen mit gutem Rotwein von der Nahe befeuchtet hatte, ging Mertyn daran, Mathias, der Köchin und den Mägden ihr Offergeld auszuteilen. Auch auf die ausgestreckte Hand des bald vierjährigen Andreas legte er einen Albus. Der Kleine strahlte und schloss ehrfürchtig die Faust um seine Münze.

»Und, was willst du mit dem Geld machen?«, fragte Mertyn seinen Ältesten.

Andreas legte die kleine Stirn in Falten, als überlege er angestrengt. Dann streckte er seinem Vater die Hand mit dem Geldstück hin. »Ich leihe es dir!«, sagte er.

»Aber warum das? Ich habe doch Geld genug«, sagte Mertyn lachend.

»Ja, aber dann bekomme ich mehr, wenn du es mir zurückgibst!«, erklärte Andreas ernsthaft.

»Na, alle Achtung!« Mertyn schmunzelte. »Du wirst einmal ein gewitzter Kaufmann! Mit dir möchte ich keine Geschäfte machen, wenn du groß bist.«

Lisbeth fiel in sein Lachen mit ein.

»Nun, Frau Seidmacherin, auch für dich habe ich eine Kleinigkeit, die dir Freude bereiten soll.« Mertyn wandte sich zu Lisbeth um. »Geld brauche ich dir nicht zu geben, du verdienst selbst den ein oder anderen Gulden!«, sagte er, und mit einem zärtlichen Lächeln zog er ein Ebenholzkästchen aus dem Wams und reichte es ihr.

Behutsam öffnete Lisbeth die Schachtel. Im matten Licht der Kerzen, die die Stube erhellten, glänzten Perlen, weiß und ebenmäßig, eine so groß wie die andere. Bewundernd strich Lisbeth mit dem Finger über das kostbare Geschmeide. Perlen bedeuten Tränen, kam es ihr in den Sinn, und wieder beschlich sie dieses Unbehagen, das sie schon in der Christmette verspürt hatte.

Mertyn griff nach der Kette und legte Lisbeth die Perlenschnur um den Hals. Kühl und glatt wog sie schwer auf ihrer Haut.

»Perlen sind das Sinnbild der Fruchtbarkeit«, flüsterte Mertyn und deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die beiden Kinder. »Die Jungen sind uns gut gelungen. Was meinst du, sollten wir es mal mit einem Mädchen versuchen?«

 

Der Weihnachtsabend war in angenehmer Beschaulichkeit vergangen, doch wie Lisbeth befürchtet hatte, war die Stille am Weihnachtstag die berühmte Ruhe vor dem Sturm gewesen. Unter der täuschenden Decke aus pudrigem Schnee gärte und brodelte der Unmut. Bereits am Mittag des Tages nach Sankt Stephanus, dem zweiten Weihnachtstag, erreichten unheilvolle Nachrichten das Haus Zur Roten Tür und zerstörten jäh die friedvolle Stimmung: Der Streit unter den Steinmetzen war immer noch nicht beigelegt worden, und in der Nacht zuvor hatte der Rat mehrere der Unbeugsamen ergreifen und in den Turm bringen lassen.

Die anderen Schuldigen an der Schlägerei aber waren, sobald sie davon erfahren hatten, auf die Freiheit von Sankt Maria im Capitol geflüchtet und hatten sich dort, von Freunden und ihren Weibern reichlich mit Speis und Trank versehen, eingerichtet. Auch Waffen hatten sie sich bringen lassen, um gegen einen gewaltsamen Einbruch in das Kloster gewappnet zu sein.

Mit wehendem Ratsherrenmantel eilte Mertyn zum Rathaus.

In der Ratskammer herrschte helle Aufregung.

»Es ist empörend! Sie verhöhnen unsere Autorität! Das Ansehen des Rates steht auf dem Spiel!«, donnerte Bürgermeister Johann von Rheidt.

»Wir lassen uns doch nicht von ein paar hergelaufenen Handwerksburschen verspotten!«, pflichtete Weinmeister Dietrich Spitz bei, den man aufgrund seiner Listigkeit »den Fuchs« nannte.

»Meine Herren, was ist die Ehre des Rates wert, wenn dadurch die Ruhe der Stadt gefährdet wird?« Johann von Oldendorp, der zweite Bürgermeister, erhob, zu Besonnenheit mahnend, seine Stimme.

Rentmeister Johann van Berchem fiel über ihn her: »Die Ruhe der Stadt ist gefährdet, wenn wir die Unruhestifter nicht zur Rechenschaft ziehen!«

»Holen wir sie da raus!«, forderte der Fuchs. »Notfalls mit Gewalt!«

»Da rausholen?«, fragte Mertyn entsetzt. »Sie befinden sich im Schutz eines Klosters!«

Oldendorp, ein Mann, dessen Kenntnisse der Jurisprudenz über die Mauern der Stadt hinaus berühmt waren, sprang Mertyn bei: »Das ist ungesetzlich! Es wäre ein ganz und gar schändlicher Rechtsbruch! Der Bezirk um einen Dom oder ein Kloster ist unantastbar. An seiner Grenze enden die städtischen Rechte, und die Menschen, die darin leben oder sich dort hineinflüchten, unterstehen der kirchlichen Gerichtsbarkeit, nicht mehr der weltlichen.«

»Die Verletzung des Kirchenschutzes ist schlichter Frevel, der göttliche Strafen nach sich zieht«, warnte auch ein anderes Ratsmitglied.

»Das können wir nicht tun!«, bekräftigte Mertyn. »Wir haben geschworen, den Bürgern dieser Stadt …«

Weiter kam er nicht, denn van Berchem unterbrach ihn: »Das können wir sehr wohl tun, Ime Hofe! Wir sind für die Sicherheit der Bürger in dieser Stadt verantwortlich. Und dieses Pack gefährdet die Sicherheit! Jetzt ist energisches Durchgreifen gefordert, sonst macht hier bald jeder, was er will, und die Stadt versinkt im Aufruhr!«

»Dann lasst uns endlich gehen und die Burschen dingfest machen«, drängte der Fuchs.

Noch in derselben Stunde machten er, Bernhard Eys, Jakob Spelz und Eberhard Kols sich mit einer Schar Stadtsoldaten, begleitet von den Gewaltrichtern Johann Unkelbach und Gerhard von Siegen, auf den Weg nach Sankt Maria im Capitol, um die Beschuldigten zu verhaften.

Doch die Steinmetze in Sankt Maria waren nicht gesonnen, sich ohne Gegenwehr zu ergeben. Wacker versuchten sie die Angreifer zurückzuschlagen, verteidigten sich mit Büchsen und Säbeln, schlugen mit ihren Hämmern um sich und warfen Steine. Mehrere Stadtsoldaten fanden den Tod, und einige der Ratsherren trugen ernstliche Verletzungen davon: Dietrich Spitz wurde von einem Schuss ins Bein verwundet, und Jakob Spelz wurde von einem Stein im Gesicht getroffen, der ihm die Nase brach und ein Auge nahm.

Auf die Dauer waren die Steinmetze jedoch nicht in der Lage, sich gegen die Übermacht der Stadtsoldaten zu behaupten. Sie zogen sich zurück, und die meisten flüchteten sich in die Wohnungen der Stiftsherren. Fünf von ihnen wurden gefangen genommen, zwei weitere verletzt.

In der Ratsstube herrschte größte Besorgnis. Denn die Maßnahme, die für Ruhe und Frieden in der Stadt hatte sorgen sollen, hatte gerade das Gegenteil bewirkt. Voller Empörung über den schändlichen Rechtsbruch des Rates erklärten sich nun sämtliche Steinmetze, Zimmerleute und Dachdecker sowie eine Schar zu jeder Gewalttat aufgelegter Studenten mit den Verhafteten solidarisch und rotteten sich zusammen, um sie mit Gewalt zu befreien.

»Es wird einen schlimmen Ausgang nehmen, wenn es uns nicht gelingt, die übrigen Zünfte daran zu hindern, sich den Steinmetzen anzuschließen«, warnte von Oldendorp und erhielt darin die ungeteilte Zustimmung seiner Ratskollegen. »Vor allem müssen wir die einflussreichen Gaffeln – das Wollenamt und die Goldschmiede – auf unsere Seite ziehen.«

Mertym, der sich eines guten Rufes im Wollenamt erfreute, erbot sich, mit den Gaffelherren zu sprechen. Diese behandelten ihn zuvorkommend, doch ihre Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Sie seien nicht gesonnen, einen Rat zu unterstützen, der die Bürgerfreiheiten verletze und sich weigere, über ungewöhnliche Steuern und Auflagen Rechenschaft abzulegen.

Von den Goldschmieden erhielt man eine ebenso entmutigende Antwort: Sie würden sich streng an die Bestimmungen des Verbundbriefes halten.

Auch die übrigen Zünfte verweigerten dem Rat die erbetene Hilfe. Stattdessen verlangten sie, die Gefangenen unverzüglich freizulassen, die Geflohenen zurückzurufen und die Ratsherren, die in die Hoheit von Sankt Maria eingedrungen waren, zu bestrafen. Darüber hinaus forderten sie, dass die außerordentlichen Auflagen abgestellt und die schweren bürgerlichen Lasten vermindert werden sollten.

Seit Jahren, ja eigentlich seit den Tagen des Neusser Krieges, der den Stadtsäckel entleert zurückgelassen hatte, schwelte die Unzufriedenheit in der Stadt. Es waren die immer gleichen Vergehen, deren sich viele der Ratsherren schuldig machten: Sie wirtschafteten in die eigene Tasche, schacherten ihren Freunden und Verwandten einträgliche städtische Ämter zu, veruntreuten städtische Gelder, verhängten unverständliche Auflagen über die Bürger und erhöhten ständig die Steuern, ohne über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen.

Doch nun hatten die Bürger die Nase voll! Es hatte nur noch dieses einen Rechtsbruches seitens des Rates bedurft, ihren Zorn zu entfesseln.

Am Morgen des vierten Januar versammelten sich sämtliche Mitglieder der Zünfte zur Beratung in der Freiheit von Sankt Maria im Capitol. Unter wütendem Toben beschlossen sie, die Erfüllung ihrer Forderungen mit Gewalt zu erzwingen.

Die Zunftgenossen bewaffneten sich und versuchten, Tore und Türme in ihre Gewalt zu bringen. Die Burggrafen von Kunibert und Severin weigerten sich zunächst, ihre Schlüssel auszuliefern, doch als man Anstalten machte, schweres Geschütz gegen sie aufzufahren, waren alsbald auch sie zum Einlenken bereit.

Eine Rotte Fassbinder und Wollweber zog in die Severinstraße vor das Haus des Ratsherrn Dietrich Spitz. Sie warfen dem Fuchs die Fenster ein, verwüsteten die Pflanzungen in seinem Garten, rissen die Pfähle an den Weinstöcken aus dem Boden, schichteten sie zu einem Haufen und verbrannten sie.

Tag und Nacht tobte der Aufruhr in der Stadt. Bewaffnete Scharen aus Handwerksburschen, Studenten, losem Volk und all jenen, die Freude am Randalieren und Krawallmachen hatten, zogen durch die Straßen. Waffengeklirr, Gebrüll und Geschrei mischten sich mit Trommelwirbeln und lauter Musik zu einer grausigen Kakophonie. Voller Schrecken verschanzten sich die braven Bürger in ihren Häusern und warteten bange, dass sich der Aufruhr lege.

Auch im Haus Zur Roten Tür hatte man die hölzernen Läden vor den Fenstern geschlossen und das Tor verbarrikadiert. In der Werkstatt ruhte die Arbeit. Lisbeth war mit dem Gesinde und den beiden Jungen allein zu Haus, und es stand nicht zu erwarten, dass die Lehrmädchen und die angestellten Weberinnen, die über die Feiertage zu ihren Familien heimgekehrt waren, zurückkamen, bevor sich die Unruhen gelegt hatten.

Angespannt wanderte Lisbeth durch die Räume des Hauses und warf alle Stunde einen Blick in die Kammer der Kinder. Die beiden Jungen fanden kaum zur Ruhe. Der kleine Peter weinte vor Angst, doch sein großer Bruder Andreas war vor Aufregung kaum zu bändigen. Voller Neugier eilte er immer wieder zu den Fenstern und bat seine Mutter darum, die Läden zu öffnen, damit er die marodierenden Scharen anschauen konnte. Er war sich der Gefahr, die von ihnen ausging, überhaupt nicht bewusst.

Lisbeth hob den kleinen Peter auf ihren Arm und schaukelte ihn sachte. Voller Unbehagen erinnerte sie sich des Tages vor nunmehr dreißig Jahren, an dem zuletzt der Pöbel durch die Stadt getobt war. An einem Karnevalstag war es gewesen. Sie selbst war damals noch ein Kind und hatte das Kostüm eines Esels getragen. Und auch sie hatte an jenem Tag vor Angst geweint. Damals hatte ihre Mutter sich um Herman gesorgt, der fortgelaufen war und draußen zwischen den Aufrührern umherirrte.

Und heute sorgte sie sich um Mertyn, der mit den anderen Ratsherren, die in der Stadt verblieben waren, in der Ratskammer hinter verschlossenen Türen auf Mittel zur Beschwichtigung des Aufruhrs sann, nur von wenigen treuen Stadtsoldaten gegen Übergriffe des Pöbels geschützt. Den Mut, zu bleiben, hatten beileibe nicht alle Ratsherren bewiesen, und so mancher von ihnen hatte sein Heil in der Flucht gesehen und die Stadt bereits auf geheimen Pfaden verlassen.

Als gegen Mittag eine Schar Bewaffneter vor dem Rathaus erschien und die Freilassung der Gefangenen forderte, wies Dietrich Spitz sie scharf zurück.

Doch van Berchem packte den Fuchs grob am Wams. »Herrgott noch einmal! Habt Ihr nicht mitbekommen, dass sich der Wind gedreht hat? Wenn wir uns nicht in Nachgiebigkeit üben und die Gefangenen ausliefern, hauen sie uns in Stücke!«, brüllte er, um daraufhin dem Anführer der Bewaffneten zu versichern: »Eure Amtsbrüder werden sofort freigelassen, und auch die Geflohenen dürfen zurückkehren, sie werden nicht weiter behelligt. Und was Eure Forderungen hinsichtlich der Bestrafung derer, die die Kirchenhoheit verletzt haben, anbetrifft, so werden wir uns der Sache annehmen und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.«

»Das könnt Ihr nicht tun!«, protestierte der Fuchs.

Doch mit einem eisigen Blick hieß der Rentmeister ihn schweigen. »Das können und das werden wir!«

Den Zünften wäre dieses Zeichen des Entgegenkommens seitens des Rates vielleicht genug gewesen, doch der gemeine Pöbel, der sich dem Aufstand angeschlossen hatte, ließ sich davon nicht beruhigen. Er forderte blutige Beweise seines Sieges, und so hielt zum Schrecken der Bürgerschaft das Toben in den Straßen an.

Manch einer, der bei einem Ausbruch des Volksmutes wenig Gnade zu erwarten hatte, versuchte aus der Stadt zu fliehen, und so rollte im Schutz der Dunkelheit auch vom Hof des Hauses Xanten ein leichter Wagen. Vor dem Tor im Bayenturm kam er zum Stehen.

»Heda, Wächter! Öffnet das Tor für uns!«, befahl Brigitta van Berchem dem Mann, der ihr mit erhobenem Spieß den Weg verstellte. Er trug nicht die Uniform des städtischen Bediensteten.

»Hier darf niemand durch!«, gab der Wächter schroff zurück.

»Bursche, wer glaubst du, wen du vor dir hast?«, herrschte Brigitta ihn an. »Öffne sofort das Tor!«

»Einen Dreck werde ich!«, gab der Mann zurück und trat drohend an den Karren.

»Welchen Ton erlaubst du Lump dir! Ich befehle dir: Öffne das Tor!«, giftete Brigitta und ließ ihre Pferdegerte herrisch durch die Luft pfeifen.

»Den Ton, der mir passt!«, brüllte der Wärter. Mit einer einzigen Bewegung entriss er Brigitta die Gerte und versetzte ihr damit einen Streich quer über das Gesicht.

Brigitta schrie vor Schmerz und presste die Hand auf die Wange. Dort, wo die Gerte sie getroffen hatte, quoll Blut zwischen ihren Fingern hervor. »Ich werde dich in den Turm bringen lassen!«, zeterte sie, lodernd vor Wut. »Mein Onkel …«

»Halt den Mund! Halt nur ein einziges Mal den Mund!«, zischte Gunda ihre Schwester an.

Völlig überrascht klappte diese den Mund zu. So hatte Gunda noch nie gewagt, mit ihr zu sprechen. Ihr ganzes Leben lang nicht.

Gunda wandte sich an den Wächter und flehte mit weinerlicher Stimme: »Habt Mitleid, hoher Herr. Sie weiß nicht, was sie spricht.«

Der Wächter, etwas besänftigt durch die Höflichkeit, mit der Gunda ihn, den einfachen Handwerksburschen, als hohen Herrn angesprochen hatte, ließ die Gerte sinken.

»Wir sind zwei arme Witwen«, fuhr Gunda hastig fort. »Wir wohnten neben einem dieser verfluchten Ratsherren, und die ehrenwerten Zunftgenossen haben sich wohl in der Tür geirrt. Sie sind gestern in unser Haus eingedrungen und haben es verwüstet. Meine Schwester hier hat dabei einen Schlag auf den Kopf bekommen, und seitdem redet sie wirr …«

Gunda konnte im Dunkel nicht erkennen, ob der Wachmann ihrer herzzerreißenden Geschichte Glauben schenkte, doch immerhin wurde er nicht wieder handgreiflich.

»Wir besitzen nur noch unser Leben und das, was wir auf dem Leib tragen«, fuhr sie fort zu jammern und hoffte, dass er ihre Worte nicht allzu genau überprüfen würde, denn unter den Röcken hatten sie und Brigitta sich lederne Gürtel an den Leib gebunden, die bis an den Rand gefüllt waren mit Goldgulden.

»Unsere Bleibe ist zerstört«, appellierte sie an das Mitgefühl des Mannes. »Deshalb fahren wir nach Endenich zu unserem Bruder. Er ist ein geiziger Mann, und wir wissen nicht, ob er uns Zuflucht gewährt, aber er ist unsere einzige Hoffnung.«

Auch das war gelogen, dachte Brigitta und befühlte ihr brennendes Gesicht. Es gab keinen geizigen Bruder. Das Gut in Endenich bei Bonn gehörte ihnen selbst und darüber hinaus ein Hof in Kesternich bei Nievenheim.

Brigitta betrachtete ihre Schwester mit neu erwachtem Respekt. Gunda hatte viel von ihr gelernt.

Vielleicht dauerte den Wächter ihr elendes Schicksal, vielleicht hatten Gundas Worte, mit denen sie geschickt den Aufständischen die Schuld an ihrer Misere gab, ohne diese anzuprangern, an sein schlechtes Gewissen gerührt. Doch was auch immer der Grund dafür war: Der Wachmann trat beiseite, ließ einen Pfiff ertönen, und mit zäher Langsamkeit hob sich das Gitter im Bayenturm, um die armen Witwen passieren zu lassen.