23. Kapitel
Als Lisbeth in die Gasse Unter Seidmacher einbog, wehte ihr vom Rhein herauf ein eiskalter Novemberwind entgegen, der sogar die Fluten des Rheins hatte zufrieren lassen. Doch es war ein klarer Wind, der den Duft der Veränderung in sich trug.
Ganz so bald, wie die Bürger es erfleht hatten, hatte sich der Pöbel nicht beruhigen wollen. Lange Zeit noch hatte des Nachts Unruhe auf den Straßen geherrscht, und kein ehrbarer Bürger hatte sich zur Abendzeit hinausgewagt, aus Angst, geschlagen oder beraubt zu werden. Erst im März, als die neuen Ratsherren in einer Morgensprache sechs Herren zu Gewaltmeistern ernannten, die des Nachts in den Straßen für Sicherheit sorgten, hatte die Lage sich allmählich zu bessern begonnen.
Bald ein Jahr war nun vergangen, seit die Steinmetzen mit ihrer Schlägerei den Stein ins Rollen gebracht hatten, der einer Lawine gleich den Filz und die Missstände in der städtischen Regierung hinweggefegt hatte. Im Bemühen, der Stadt eine gerechte Führung zu geben, hatte der neue Rat viele Gesetze erlassen, und endlich waren wirklich Ruhe und Frieden eingezogen.
Als Lisbeth das Elnersche Haus erreicht hatte, hielt sie kurz inne und atmete tief die kalte Luft ein, um das beklemmende Gefühl zu vertreiben, das sie mit einem Mal ergriffen hatte. Dann erst öffnete sie die Tür und trat in den Flur. Seit jenem grauenvollen Martinsmorgen vor nunmehr zwei Jahren, als sie Grete und Mettel tot an ihrem Tisch in der Stube sitzend vorgefunden hatte, hatte sie das Haus nicht mehr betreten.
Das Haus und die Werkstatt standen seither leer. Jedermann wusste wohl, dass es kein Geist gewesen war, der die alte Mettel ins Geckenhaus gebracht hatte, doch dieser Vorfall und der grausige Tod seiner Bewohnerinnen hatten dafür gesorgt, dass dem Haus ein Fluch angedichtet wurde, der an ihm klebte wie Pech. Deshalb hatte sich bisher kein neuer Mieter gefunden.
Lisbeth verließ das Haus durch den rückwärtigen Ausgang in der Küche, querte den Hof und öffnete die Tür zur Werkstatt, in der einst ihre und Mertyns Mutter ihre Lehrjahre verbracht hatten. Es erschien ihr, als sei seit jenen Tagen nichts darin erneuert worden. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden, die Wände waren überzogen von Spinnweben, und in den Ecken hatten sich Garnreste zu Haufen gesammelt.
Lisbeth trat in den niedrigen Raum und untersuchte fachmännisch die Webstühle. Auch sie waren staubbedeckt und von Spinnweben überwuchert. Auf einem befand sich sogar noch ein eben begonnenes Seidentuch, das herunterzuschneiden sich niemand die Mühe gemacht hatte. Doch die Webstühle selbst schienen in Ordnung zu sein. Sie waren alt und abgenutzt, und natürlich würde man sie gründlich entstauben und die Litzen erneuern müssen, doch dann wären sie gut zu gebrauchen.
Lisbeth schaute sich weiter in der Werkstatt um. In einem Regal an der Wand schimmelte ein grüner Klumpen, der vormals Rohseide gewesen sein mochte – so genau ließ sich das nun nicht mehr sagen. Lisbeth rüttelte an dem Regal, um seine Standfestigkeit zu prüfen, und schaffte es gerade noch, mit einem hastigen Schritt zurückzuweichen, bevor die morschen Bretter in sich zusammenfielen.
Das Regal würde sie erneuern müssen, dachte Lisbeth und klopfte sich den Staub von Kleid und Händen. Zudem bedurfte es auch noch des einen oder anderen Werkzeuges. Kammladen, Spulen, neue Weberschiffchen, notierte sie im Geiste. Aber wenn man hier gründlich sauber machen und die Wände ordentlich tünchen würde, so hätte man eine respektable Seidmacherwerkstatt.
Noch am selben Nachmittag würde sie ihre Mägde an die Arbeit schicken, beschloss Lisbeth.
Angespannt lief Lisbeth im großen Saal der Wolkenburg hin und her.
»Stell dir vor, Andreas hat jetzt endlich einen Teil des Geldes vom Rat zurückerstattet bekommen, das er beim Reichstag dem Kaiser geliehen hat«, sagte Agnes und rückte einen der Weinkrüge auf der Tafel zurecht.
»Doch so bald?«, witzelte Lisbeth, und für einen Moment kehrten ihre Gedanken zurück zu jenem Tag, an dem sie mit Stephan und Andreas im Zunfthaus der Brauer König Maximilian begegnet waren und dieser Andreas um ein Darlehen angegangen war. So lange war das nun her, und so vieles war seither geschehen, beileibe nicht nur, dass aus König Maximilian inzwischen Kaiser Maximilian geworden war.
Doch lange mochte Lisbeth nicht bei diesen Gedanken verweilen. Viel zu aufgeregt war sie und stellte sich wohl zum hundertsten Mal die Frage, ob man ihrer Einladung folgen würde. Zumal die garstige Kälte, welche die Stadt in ihren Klauen hielt, nicht gerade dazu einlud, das Haus zu verlassen.
In den vergangenen Tagen hatte sie Boten zu allen Seidmacherinnen und Seidenhändlern geschickt und sie am heutigen Tag in die Wolkenburg gebeten. Denn für eine solch große Versammlung wäre der Saal im Haus Zur Roten Tür nicht groß genug – wenn denn alle kämen.
Katharina Loubach und ihr Mann Conrad waren die Ersten, die die Mägde in den Saal führten. Schwer auf Katharinas Arm gestützt, trat Conrad auf Lisbeth zu. »Es ist wahrlich an der Zeit, dass das Seidamt sich versammelt«, begrüßte er sie, und Lisbeth erschrak über das blasse, eingefallene Gesicht des Seidenhändlers. Er war abgemagert, und es schien, als sauge eine Krankheit alle Lebenskraft aus ihm heraus.
»Es freut mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid«, erwiderte sie und schloss Katharina, der die Sorge um ihren Gemahl deutlich anzusehen war, in ihr warmes Lächeln mit ein. Doch es blieb ihr keine Zeit, Katharina nach den Umständen von Conrads Krankheit zu fragen, denn schon traten hinter ihnen Adelheid Liblar mit ihrem Mann Heinrich und dessen Vater Johann in den Saal.
»Ihr habt gut daran getan, dass Ihr uns zusammengerufen habt!«, sagte Johann Liblar. »Wie es scheint, habt Ihr die Tatkraft Eurer Mutter geerbt.«
Die freundlichen Worte des alten Seidenhändlers machten Lisbeth Mut. Anscheinend gab es wirklich den einen oder anderen, der ihre Meinung teilte. Es blieb nur zu hoffen, dass es deren mehr waren als Conrad Loubach und Johann Liblar.
Während die Mägde ihre ersten Gäste mit Wein bewirteten, begrüßte Lisbeth Rita von Kerpen, ihr ehemaliges Lehrmädchen, und deren Mann. Ein Schatten fiel über ihre Züge, als sie daran denken musste, wie Herman einst Ritas Zulassung zum Seidamt im Rat durchgesetzt und sich damit Brigitta van Berchem zur Feindin gemacht hatte.
Als Nächste erschienen Ida Rummels, gefolgt von Liese Backes und Gundula von Bruwiler, die Frauen, denen Lisbeth mit Katryns Geld die valencianische Seide gestundet hatte. Sie begrüßten Lisbeth mit besonderer Höflichkeit, denn diese Angelegenheit war ihnen immer noch unangenehm.
Lisbeth hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass man ihrer Einladung nicht folgen würde. Viel zu neugierig waren alle darauf, zu hören, was die Frau Ime Hofe zu sagen wusste, als dass sie diese Zusammenkunft hätten verpassen wollen – schließlich würde es die erste Zunftversammlung seit über zehn Jahren werden. Zumindest die erste, die diesen Namen verdiente.
Zur angegebenen Stunde waren beinahe alle Geladenen erschienen, auch das Kränzchen, das sich einst um Brigitta van Berchem geschart hatte: Mechthild van der Sar mit ihrem Mann Dres, Mettel van Hielden, Veronika van Herten und die gewichtige Frieda Medman mit ihrer Tochter Dora und sogar die alte Genovefa van Wychtericht, die bereits weit über sechzig sein musste.
Brigitta selbst jedoch fehlte, was Lisbeth nicht bekümmerte. Es hieß, sie und ihre Schwester seien nach der Hinrichtung ihres Oheims nach Endenich gezogen. Es war nicht zu erwarten, dass sie je nach Köln zurückkehrten, denn Haus Xanten und das Haus Zum Kleinen Schönwetter standen zum Verkauf. Zu Lisbeths großer Freude war in Rudolfs Begleitung auch Clairgin gekommen.
Achtundfünfzig Köpfe zählte Lisbeth verstohlen, darunter sechsundzwanzig Ehemänner der Seidmacherinnen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Mit einem Mal spürte sie ein flaues Gefühl im Magen. Wie würden ihre Amtsschwestern ihre Worte aufnehmen? Würden sie ihr zustimmen, oder würden sie sie schlicht und einfach auslachen?
Zumindest zeigte das zahlreiche Erscheinen der Seidmacherinnen doch, dass ihnen ihre Zunft noch am Herzen lag. Ihre Idee konnte also nicht so falsch gewesen sein, versuchte Lisbeth sich selbst Mut zu machen.
Noch nie hatte sie vor so vielen Menschen gesprochen. Für einen Moment verwünschte Lisbeth ihre eigene Courage. Am liebsten hätte sie den Saal fluchtartig verlassen und sich in ihrer Kammer verkrochen. Doch dafür war es nun beileibe zu spät. Sie hatte diese Versammlung einberufen, nun musste sie sie auch durchstehen.
Allmählich wurde es ruhiger im Saal, und Lisbeth spürte, wie sich die Blicke der Versammelten auf sie richteten. Mertyn, der neben ihr stand, nickte ihr aufmunternd zu. Es war an der Zeit, dass sie das Wort ergriff.
»Ich kann das nicht!«, flüsterte Lisbeth.
»Du schaffst das!«, raunte Mertyn ihr zu.
Das flaue Gefühl in Lisbeths Magen verdichtete sich zu einem Knoten. »Du hast gut reden. Du warst Ratsherr, jetzt haben sie dich zum Bierherrn gemacht, du bist es gewohnt, dass alle dich ansehen und dir zuhören. Ich habe so etwas noch nie gemacht«, zischte sie.
»Du kannst das, du wirst sehen!«, entgegnete er und schob sie sachte nach vorn.
Lisbeth spürte, wie ihr vom Ausschnitt ihres Kleides her die Röte zu Gesicht stieg. Sie machte einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen. Nun verstummten auch die letzten Gespräche und wichen einer gespannten Stille.
Lisbeth schluckte trocken. »Ich … ich freue mich, dass Ihr … dass Ihr meiner Einladung so zahlreich gefolgt seid. Die Stadt … die Stadt ist zu Ruhe und Ordnung zurückgekehrt. Die Verhandlungen über die Reform der … der städtischen Verfassung sind weit fortgeschritten. Bald siegeln Rat und Zünfte einen Transfixbrief, der die Verfassung in gerechter Weise abändern und ergänzen wird.« Stockend zunächst, dann immer flüssiger, sprach Lisbeth die Worte, die sie sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, und mit einem Mal wich ihre Aufregung, und Ruhe überkam sie. Dies hier waren Seidmacherinnen wie sie. Sie brauchte vor ihnen keine Angst zu haben. Lisbeth wusste, was sie sagen wollte, und sie wusste, warum sie es tat!
»Es ist an der Zeit, dass auch im Seidamt wieder Ordnung einkehrt!«, sagte sie fest, und ihre Stimme war deutlich bis in die Ecken des Saales vernehmbar.
Vereinzelt erklang Gemurmel, das Lisbeth als Zustimmung deutete. »Seit Jahren haben wir keinen gewählten Zunftvorstand mehr, der unsere Belange vertritt«, fuhr sie fort. »Die Bücher werden nicht geführt, die Lehrtöchter nicht mehr eingetragen und keine neuen Seidmacherinnen mehr zum Amt zugelassen. Viele von uns übertreten die Zunftgesetze gerade so, wie es ihnen beliebt.«
Abermals erhob sich beifälliges Gemurmel, doch es erklangen auch protestierende Stimmen.
»So ein Unsinn!«, vernahm Lisbeth Mechthild van der Sars spitze Stimme, doch sie ging nicht auf deren Zwischenruf ein. »Welche Übertretungen das sind, brauche ich hier nicht zu nennen, denn Ihr wisst alle, wovon ich spreche.«
Sie wartete einen Moment, bis es im Saal wieder still geworden war. »Das Geschäft ist nicht einfacher geworden. Ihr habt es auf den Messen gesehen, die Konkurrenz aus Venedig, Genua und Florenz, vor allem aber aus den Niederlanden, aus Gent, Brügge und Antwerpen wird immer stärker. Dort fertigen sie Sammet, Atlas und Brokat und verkaufen es zu erschreckend günstigen Preisen«, warnte sie.
Johann Liblar und Dres van der Sar nickten zustimmend, und Lisbeth fuhr fort: »Um uns dieser Konkurrenz zu erwehren, ist es unbedingt vonnöten, dass wir eine große und gut organisierte Zunft sind, die auf die Qualität ihrer Erzeugnisse achtet. Denn nur so können wir auf lange Sicht den guten Ruf, den unsere Seide genießt, schützen.«
Lisbeth unterbrach sich und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen, um herauszufinden, ob ihre Zunftgenossen ihren Argumenten folgten. Viele von ihnen, vor allem die Seidenhändler, nickten ihre Zustimmung.
»Unter uns sind viele gute Seidmacherinnen.« Lisbeth holte tief Luft und richtete ihren Blick auf Ida Rummels, Liese Backes und Gundula von Bruwiler. »Doch einige von ihnen mussten in den vergangenen Jahren ihre Eigenständigkeit aufgeben und für andere im Verlag weben, weil sie sich die Rohseide nicht mehr leisten können.«
Die angesprochenen Weberinnen blickten verschämt zu Boden, und Lisbeth sah, wie Liese Backes die Lippen zusammenpresste. Es war nicht ihre Absicht gewesen, die Frauen vor dem versammelten Seidamt zu demütigen, deshalb beeilte sie sich, fortzufahren: »Es kann nicht in unserem Sinne sein, dass einige wenige aus der Armut der anderen ihren Profit ziehen. Der Verlag ist seit langem verboten, und wenn sich alle daran halten würden …«
Lisbeth blickte geradewegs jene erfolgreichen Seidmacherinnen an, die sich einst um Brigitta van Berchem geschart hatten. Sie alle betätigten sich als Verlegerinnen. Wie ehedem standen Mechthild van der Sar, Mettel van Hielden, Veronika van Herten, Frieda und Dora Medman und Genovefa van Wychtericht beisammen und flüsterten miteinander, aber sie benahmen sich nicht mehr so anmaßend wie früher. Der Schlange schien der Kopf zu fehlen, dachte Lisbeth.
»Warum sollten wir auf diese Einnahmequelle verzichten?«, schnappte Mechthild van der Sar und reckte ihren dürren Hals.
Lisbeth zwang sich zur Ruhe. Sie hatte mit diesem Einwand gerechnet. »Vielleicht, weil der Rat jetzt genauer auf die Einhaltung der Gesetze achten wird?«, entgegnete sie. »Meint Ihr nicht, dass es besser ist, wir selbst kümmern uns darum, bevor es der Rat tut?«
»Wenn wir die armen Wichter nicht zum Weben anstellen, dann verhungern sie doch glatt!«, rief Frieda Medman. Ihr voluminöses Kinn schaukelte vor Selbstgerechtigkeit.
Lisbeth überging Friedas Einwurf. »Jeder von uns verdient mehr Geld, als er zum Leben benötigt. Wir sollten dafür sorgen, dass auch die weniger Begüterten unter uns ihr Auskommen haben«, redete sie ihren wohlhabenden Amtsgenossen ins Gewissen. »Und wenn Ihr es schon nicht aus Nächstenliebe wollt, so denkt daran, dass eine starke Zunft auch Euch nützt.«
Mechthild rümpfte missbilligend die lange Nase, und Frieda schüttelte pikiert den Kopf. Doch Lisbeth sah, dass Mettel van Hielden fragend zu Veronika van Herten blickte, und die alte Genovefa van Wychtericht legte abwägend das Haupt schief.
»Von der Mutter meines Mannes habe ich Geld geerbt. Ich werde es in ihrem Sinne verwenden und es damit einigen weniger begüterten Seidmacherinnen ermöglichen, wieder ihre eigene Seide zu verweben«, erhob Lisbeth erneut die Stimme. »Ich werde ihnen die Rohseide stunden, bis sie ihre fertigen Tuche verkauft haben.«
Beifälliges Gemurmel erhob sich im Saal. Viele Mitglieder des Seidamtes erinnerten sich voll Wärme der Frau Zur Roten Tür.
Doch Lisbeth war noch nicht am Ende ihrer Rede. »Mein Gemahl, der, wie Ihr wisst, große Mengen Rohseide importiert, wird diese künftig auch in kleinen Mengen verkaufen, ohne dafür einen Aufschlag zu verlangen. Und nun bitte ich Euch« – nacheinander fasste Lisbeth die Herren Seidenhändler ins Auge –, »es ihm gleichzutun!«
Für einen Moment herrschte Stille im Saal. Dann trat Johann Liblar vor. »Ich schließe mich der Entscheidung von Mertyn Ime Hofe an!«, sagte er fest und lächelte Lisbeth zu.
Sein Sohn Heinrich trat neben ihn. »Ich auch.«
Es verstrich ein Moment, in dem alle die Hälse reckten, um zu schauen, ob sich ein weiterer Seidenhändler zu ihnen gesellen würde. Dann trat, auf den Arm seiner Frau gestützt, Conrad Loubach vor, einen Wimpernschlag darauf der alte Heinrich Vurberg.
Dres van der Sar schickte sich an, es ihnen gleichzutun, doch seine Gattin hielt ihn am Ärmel zurück. So laut, dass es jeder im Saal vernehmen konnte, zischte sie: »Das wirst du nicht tun!«
Energisch entwand Dres sich ihrem Griff und trat vor. »Ihr habt recht, Frau Ime Hofe«, sagte er, die giftigen Blicke ignorierend, die seine Frau ihm zuwarf, »die Zunft kann nur bestehen, wenn sie groß und stark ist. Und wir können uns nur gegen den Rat behaupten, wenn wir selbst auf Ordnung innerhalb der Zunft achten.«
Beifallrufe wurden laut, vereinzelt klatschten die Frauen in die Hände, dann ergriff ein rechter Jubel die Versammelten, und zwei weitere Seidenkaufleute traten vor.
Johann Liblar musste seine Stimme heben, um sich Gehör zu verschaffen. »Ich sehe, wir haben zur Einigkeit gefunden!«, rief er. »Vielleicht sollten wir alle daher unseren Eid, den wir auf das Amt geschworen haben, erneuern.«
Seine Worte wurden mit lautstarker Zustimmung bedacht, und Lisbeth traten Tränen in die Augen. Sie hatte es geschafft! Endlich! Endlich würde das Seidamt wieder zu der angesehenen und ehrbaren Zunft werden, die es einst gewesen war, dachte sie glücklich und griff verstohlen nach Mertyns Hand.
Es dauerte eine gute Weile, bis die notwendige Ruhe im Saal eingekehrt war. Dann sprachen alle, Seidmacherinnen wie Seidenhändler, in feierlichem Ernst die Hände zum Schwur erhoben, die Eidesformel und gelobten ehrfürchtig, die Anordnungen des Amtsbriefes in all seinen Punkten stets treulich zu befolgen, so wahr ihnen Gott und sein Heiliges Evangelium helfe.
»Jetzt ist es wohl an der Zeit, dass wir neue Amtsmeister wählen, die die Geschicke der Zunft im kommenden Jahr lenken«, ergriff Liblar wieder das Wort, kaum dass die letzten Worte der Eidesformel verklungen waren. »Ich glaube, jeder von Euch wird mir zustimmen, wenn ich vorschlage, Lisbeth Ime Hofe zur Zunftmeisterin zu wählen. Diese Ehre gebührt ihr schon allein dafür, dass sie uns heute hier zusammengeführt hat, und ich bin sicher, sie wird dieser Aufgabe auf das Beste gerecht werden!«
Mit diesen Worten schien der alte Seidenhändler seinen Amtskollegen aus dem Herzen gesprochen zu haben, denn mit Beifall bekundeten sie laut ihr Einvernehmen.
Lisbeth stieg erneut die Röte ins Gesicht, diesmal vor Freude. »Gerne will ich dieses Amt übernehmen, und ich verspreche, stets getreulich im Sinne aller Zunftgenossen zu handeln«, sagte sie, bemüht, ihre Rührung zu verbergen. »Ihr könnt sicher sein, dass ich alles in meiner Macht Stehende unternehmen werde, damit die Seidmacherzunft wieder zu dem wird, was sie einst war!«
Liblar nickte zufrieden. »Gibt es Vorschläge für die anderen Amtsmeister?«
»Erlaubt mir eine Bitte«, meldete Lisbeth sich erneut zu Wort. »Ich würde mich freuen, wenn Clairgin van Breit… äh, Clairgin van Bensberg das Amt mit mir teilt.«
Aufgeregtes Getuschel erhob sich, und die Seidmacherinnen wandten die Köpfe auf der Suche nach Frau van Bensberg. Von der stillen Clairgin hatte man in den vergangenen Jahren wenig gehört. War sie denn überhaupt noch Seidmacherin?
Mit wenigen Schritten überquerte Lisbeth den freien Raum in der Mitte des Saales und trat zu Clairgin, die mit Rudolf nahe dem Kamin stand.
Die Aufmerksamkeit, die Clairgin plötzlich zuteilwurde, war ihr sichtlich unangenehm. Verlegen rang sie die Hände.
Lisbeth fasste Clairgin am Arm, um sie nach vorn zu führen, doch diese wich vor ihr zurück. »Ich bin doch keine Seidmacherin mehr«, flüsterte sie abwehrend.
»Das bist du wohl. Und eine der besten dazu!«
»Nein, ich webe nicht mehr, und ich habe auch keine eigene Werkstatt!« Clairgin sträubte sich immer noch.
»Die Elnersche Werkstatt steht zu vermieten«, wisperte Lisbeth. »Sie ist zwar nicht sehr schön, doch für den Anfang wird es reichen.«
»Ich kann mir keine Werkstatt leisten«, widersprach Clairgin.
Deutlich vernahm Lisbeth den Schmerz in ihrer Stimme. »Der Mietzins ist niedrig«, widersprach sie. »Der Vetter vom alten Johann Elner, der das Haus geerbt hat, ist froh, wenn er es überhaupt loswird.«
»Auch dann nicht«, beharrte Clairgin, doch Lisbeth spürte ihr Zögern.
»Für den Anfang stunde ich dir die Rohseide. Und du hast ja gehört, was die Seidenhändler gesagt haben. Sie geben die Rohseide in kleinen Mengen ab. Es wird alles anders«, versprach sie. »Es wird werden wie früher. Du wirst sehen!« Und nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe in der Elnerschen Werkstatt schon einmal Ordnung geschafft. Es ist alles bereit. Wenn du willst, kannst du gleich morgen anfangen.«
Erstaunt blickte Clairgin Lisbeth an. »Du hast …? Aber wieso«, stammelte sie, und ihre hellblauen Augen schwammen mit einem Mal in Tränen.
»Es ist mein Hochzeitsgeschenk an dich. Ich war mir sicher, dass es dein größter Wunsch war.« Lisbeth lächelte.
Das Erstaunen wich von Clairgins Zügen und machte einem wehmütigen Lächeln Platz. Lisbeth hatte recht. Zwar hatte sie die Arbeit im Goldenen Krützchen gern verrichtet, doch es war wirklich Clairgins größter Wunsch, wieder als Seidmacherin zu arbeiten. Lisbeth kannte sie immer noch sehr gut, dachte Clairgin. Auch nach den vielen Jahren, in denen sie keine Freundinnen mehr waren.
Lisbeth hatte Fehler gemacht, doch sie hatte sich geändert. Sie hatte sich nach Kräften bemüht, die Missstände im Seidamt zu ändern, das war Clairgin heute klargeworden, und hatte es sogar geschafft, die Amtsgenossen dazu zu bringen, sich heute hier zu versammeln und ihren Eid auf die Zunftordnung zu erneuern.
Und sie hatte immer an ihrer Freundschaft festgehalten, erkannte Clairgin ein wenig beschämt. Vielleicht hatte sie ihr unrecht getan, als sie ihr die Freundschaft aufgekündigt hatte.
Es gab wirklich keinen Grund, Lisbeth länger zu zürnen. Und vielleicht hatte diese ja recht? Vielleicht wurde nun wirklich wieder alles wie früher, und es gab für jede Seidmacherin genug zu verdienen. Die Wehmut verschwand von Clairgins Zügen und wich einem hoffnungsvollen Lächeln. Liebend gerne würde sie die Elnersche Werkstatt mieten.
Doch dann blitzte ein anderer Gedanke in Clairgin auf und ließ das Lächeln ersterben. Ihre Stirn umwölkte sich, und auf ihrer Nasenwurzel erschien eine steile Falte. Rudolf hatte ihr beigestanden und sie aufgenommen, als sie dringend seiner Hilfe bedurfte. Sie konnte ihm seine Großzügigkeit nicht damit entlohnen, dass sie ihn jetzt im Stich ließ. »Es geht nicht«, sagte sie enttäuscht und blickte sich zu ihrem Gemahl um. »Rudolf braucht mich im Weinzapf.«
Doch dieser schüttelte verneinend den Kopf und bedachte Clairgin mit einem schalkhaften Grinsen. »Nur zu!«, sagte er. »Du weißt doch, dass ich schon immer eine Seidmacherin zur Frau wollte. Ich werde mir einfach ein neues Schankmädchen suchen.«
Lisbeth konnte nicht umhin, über seine Worte zu lachen. »Nun kommt, Frau Zunftmeisterin!«, drängte sie.
Clairgin schluckte, und unter dem Gemurmel ihrer Zunftgenossinnen zog Lisbeth sie nach vorn.
»Die ist doch gar keine Seidmacherin mehr!«, ereiferte sich Frieda Medman, und Mechthild van der Sar giftete hintendrein: »Eine Schankmagd! So weit ist es mit dem Seidamt gekommen!«
Doch ihre Amtsschwestern schienen Friedas und Mechthilds Geringschätzung für Clairgin nicht zu teilen. Bei der Abstimmung entschieden sie sich mit großer Mehrheit dafür, dass Clairgin mit Lisbeth im kommenden Jahr das Geschick des Seidamtes lenken sollte, und ohne weitere Umstände wählten sie Dres van der Sar und Heinrich Liblar zu den beiden Herren vom Seidamt.
Maren und die anderen Mägde der Wolkenburg füllten den Versammelten die Becher, und als man sich ausgiebig auf das Wohl der neuen Amtsmeister zugetrunken hatte, traten auf Lisbeths Geheiß hin zwei städtische Bedienstete herein. In ihrer Mitte trugen sie eine schwere, eisenbeschlagene Kiste – den Zunftschrein des Seidamtes, in dem die Zunftbriefe, der Transfixbrief aus dem Jahre 1506, das Lehrtöchterbuch und die Zunftkasse verwahrt wurden.
Unter den neugierigen Blicken ihrer Zunftgenossinnen und -genossen öffneten die neuen Herren vom Seidamt den Schrein. Die Geldkiste war leer, doch das erstaunte Lisbeth wenig. Sie griff nach dem Zunftbuch und blätterte, bis sie den letzten Eintrag fand. Er stammte aus dem Jahre 1503. Seit zwölf Jahren war keine Sitzung eines Zunftvorstandes mehr protokolliert und keine Zulassungen von Seidmacherinnen zum Amt oder ihr Ausscheiden verzeichnet worden.
Bedächtig schlug Lisbeth die Seite des Buches um. Ein neues Blatt der Zunftgeschichte wartete darauf, beschrieben zu werden.