ANITA
Ich war fassungslos. Ich hatte alles mit mir machen lassen, war zum Spielball dieser Leute geworden. Ich hatte sie in mein Haus, in mein Leben, in meine Ehe gelassen. Obwohl ich erwachsen war, hatte ich mich wie ein Kind manipulieren lassen: Sie hatten mir Getränke eingeflößt, die ich nicht wollte. Sie hatten mich in eine Scheidung gedrängt, die ich nicht wollte. Sie hatten mein Haus umgestaltet und mich zu einem aberwitzigen Fotoshooting überredet. Sie hatten ihren Spaß gehabt. Auf meine Kosten, was schlimm genug war. Aber jetzt nicht noch auf Kosten meiner Töchter! Auf einmal war Schluss mit lustig. Ich entwickelte ungeahnte Kräfte und musste mich kein bisschen überwinden, schnurstracks zur Polizei zu marschieren. Dort erzählte ich einer Beamtin, was passiert war. Auf ihre Frage, ob ich Anzeige erstatten wolle, sagte ich entschlossen Ja. Noch am selben Abend fuhr ein Polizeiauto bei unseren Nachbarn vor, und ich konnte von meinem Fenster aus sehen, dass dort erhitzte Debatten geführt wurden. Die Polizistin hielt Wolfgang Kobalik die von mir unterschriebene Anzeige unter die Nase. Ursula Kobalik schrie und heulte und verpasste ihrem Mann eine saftige Ohrfeige. Kurz darauf fuhren die Polizisten mit Wolfgang Kobalik weg.
Ich wartete, ob Ursula herüberkommen und »der Lauser« sagen würde, aber sie tat es nicht. Sie kam nicht selbstverständlich in mein Haus, öffnete nicht meinen Kühlschrank und bot mir keinen Champagner aus meinen eigenen Beständen an. Mit dieser Aktion hatte ich mir offenbar Respekt verschafft. Ich hatte mich gewehrt. Ich hatte Grenzen gesetzt. Und es funktionierte! Ich war selbst ganz verblüfft.
Nur eines wusste ich: Ich wollte nicht mehr hier wohnen. Diesen Nachbarn wollte ich nie mehr begegnen. Deshalb machte mir der Gedanke, das Haus zu verlieren, auf einmal gar nicht mehr solche Angst. Jetzt, wo Christian arbeitslos war, konnte er den Privatkredit, den uns die Kobaliks beim Kauf aufgenötigt hatten, nicht mehr zurückzahlen. Und dann waren da noch die horrenden Kosten für den Scheidungsanwalt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich es den Kobaliks überschreiben musste.
Als Grazia und Gloria nach Hause kamen, fanden sie eine sehr willensstarke Mutter vor. Ich würde mein Leben ändern, würde es endlich wieder selbst in die Hand nehmen! Ich hatte gerade mal die Hälfte hinter mir. Das konnte doch nicht alles gewesen sein! Was nutzten mir Schönheit, Geld und Villa, wenn mein Kopf und mein Herz leer waren? Wenn Menschen wie die Kobaliks diese Leere für ihre Zwecke missbrauchten? Wie hatte das bloß alles passieren können? Den ganzen Tag über hatte ich nachgedacht. Und zum ersten Mal keinen Tropfen Alkohol angerührt.
Vielleicht lag es daran, dass ich noch nie im Leben hatte kämpfen müssen. Mir war bisher immer alles in den Schoß gefallen: Meine Eltern hatten mich nach Strich und Faden verwöhnt. Ich war immer hübsch gewesen. Christian hatte mich auf Händen getragen, mir alle Sorgen abgenommen. Langsam war ich zu einem Püppchen geworden. Zu einem Püppchen, mit dem man nach Belieben spielen konnte. Was die Kobaliks auch getan hatten. Aber mit meinen Töchtern ließ ich das nicht machen!
»Was haltet ihr davon, wenn ich Psychologie studiere?«, fragte ich Grazia und Gloria, die mich einigermaßen überrascht anstarrten.
»Mama? Geht’s dir gut?«
»Na ja. Es könnte mir besser gehen.«
»Bist du sicher, dass du nicht einfach unter Scheidungsschock stehst?«
»Das mit Sicherheit. Aber es wird höchste Zeit, dass ich mich auf eigene Füße stelle. Wenn ich Psychologie studiere, werden mir viele Sachen klar werden.«
»Cool!«, sagte Gloria. »Das kann bestimmt nicht schaden.«
»Mama, du solltest wirklich was Vernünftiges mit deiner Zeit anfangen«, erhielt ich Unterstützung von ihrer älteren Schwester. »Ich habe mir in letzter Zeit echt Sorgen um dich gemacht. Du hast immer nur mit Wein vor dem Fernseher gesessen.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie hatten es also sehr wohl gemerkt.
»Kinder, ich wusste lange nicht, was ich will, aber jetzt weiß ich es.«
»In ein paar Jahren gehen wir alle drei auf die Uni! Dann sind wir eine Studentinnen-WG! Wie cool ist das denn!«
»Du, Mama, wir haben schon tolle Angebote von dem Werbefotografen!« Grazia sprühte geradezu vor Stolz. »Ist das okay für dich, wenn wir modeln?«
»Absolut okay. Solange ihr die Schule darüber nicht vernachlässigt … Denn glaubt mir: Schönheit vergeht, Klugheit nicht!«
»Wir werden dich bestimmt nicht enttäuschen, Mama. Wir haben ja selbst gesehen, wohin das führt, wenn man kein eigenes Standbein hat.«
»Ich möchte Pilotin werden!«, teilte Grazia mir stolz mit. »Ich habe mir schon die entsprechenden Unterlagen besorgt. Mit einem Einserabitur schaffe ich das.«
Bewundernd sah ich meine selbstbewusste Tochter an. Wie gut, dass sie nicht ahnte, was sich in ihrem Zimmer abgespielt hatte!
Glücklich schmiegte sie sich an mich. »Mit dem Modeln verdiene ich mir das Geld für die Ausbildung!«
»Tja«, sagte ich. »Mit Modeln kann ich kein Geld mehr verdienen.«
»Dann such dir doch einen anderen Job!«
»Ja, du kannst doch wieder als Stewardess arbeiten!«, schlug Gloria vor.
»Dann wäre ich aber immer unterwegs …«
Grazia griff begeistert nach meiner Hand. »Du brauchst nicht mehr für uns zu kochen. Echt! Du kannst jetzt ruhig wieder in der Weltgeschichte herumfliegen.«
»Ich habe auch schon darüber nachgedacht.« Ich räusperte mich und setzte mich ganz gerade hin: »Es gibt jetzt durch die Scheidung einige Veränderungen: Ich werde den Kobaliks das Haus überschreiben müssen. Nachdem euer Vater arbeitslos ist und auch sonst keine Geldquellen sprudeln, werden wir uns wohl oder übel verkleinern müssen.«
Statt der erwarteten langen Mienen hellten sich die Gesichter der Mädchen immer mehr auf.
»Ach, das Haus … Guck doch mal, was Kobaliks daraus gemacht haben!«
Ich nickte resigniert.
Die künstlichen Blumen auf ihren Plastikstängeln deprimierten mich ebenso wie die spießigen Häkeldeckchen und die grässlichen Bilder.
»Soll doch ihre dicke Rosie mit dem fetten Raffi in diese Spießerbude einziehen! Ich kann’s kaum erwarten, von denen wegzukommen!«, rief Grazia.
»Ich mag die auch nicht«, gestand Gloria. »Die neugierige Ursula hat mich immer über dich ausgefragt! Ob du noch Sex mit Papa hattest und so!«
»Was? Und das sagst du mir erst jetzt?« Ich schüttelte mich vor Abscheu.
»Einmal habe ich sie sogar in eurem Schlafzimmer erwischt, wo sie an der Bettwäsche geschnuppert hat.«
»Und der alte Bock starrt mich immer so lüstern an!«, sagte Grazia. »Überall steckt der seine Nase rein! Sogar in meinem Zimmer stinkt es nach seinem Whisky!«
Mir wurde ganz anders. Wenn du wüsstest, wo der noch seine Nase reingesteckt hat!, dachte ich. Ich hatte sowohl Grazias Bettzeug als auch das Corpus Delicti in einen schwarzen Müllsack gesteckt und ganz unten in die Abfalltonne gestopft.
»Und ihr habt wirklich kein Problem damit, das Haus aufzugeben? Ihr seid schließlich hier aufgewachsen!«, hakte ich nach.
»Nein! Brauchen wir noch einen Garten mit Schaukel und Sandkasten? Von den Bremer Stadtmusikanten ganz zu schweigen. Das ist was für Kinder!«
»Aber ich dachte, ihr hängt daran?« Nun war ich doch einigermaßen verblüfft.
»Mama: Wir hängen am Leben! An der Zukunft! Oder dachtest du, wir wollen hier rumsitzen, bis wir so alt und verschroben sind wie die Kobaliks?«
»Und ehrlich, Mama.« Grazia nahm behutsam meine Hand. »Sei uns nicht böse, aber wir wollen auch nicht so werden wie du.«
Ich schluckte.
»Nein, so war das jetzt gar nicht so gemeint«, verbesserte Gloria ihre Schwester schnell. »Aber wir wollen unser Leben selbst bestimmen. Auch mal Nein sagen, wenn uns was nicht passt.«
»Wir haben ja gesehen, was du dir alles von den Kobaliks gefallen lässt. Die Aktion mit den Obdachlosen und den leeren Koffern war einfach nur scheiße. Im Nachhinein habe ich mich echt geschämt, dass ich da mitgemacht habe.« Grazia senkte den Kopf. »Die Kobaliks haben uns nur benutzt! Mama, dir muss doch klar sein, dass alle an dieser Schlammschlacht verdienen: die Kobaliks, der Anwalt, der Fotograf, die Zeitung in Heilewelt – nur wir nicht! Wie blöd sind wir denn eigentlich?«
Das versetzte mir einen Stich: Meine Töchter hatten mehr Durchblick als ich!
»Ich sollte sogar einen offenen Brief an Papa schreiben!«, verkündete Gloria zu meinem Entsetzen. »Den hat die olle Kobalik mir diktiert. Im Wohnmobil. Als du draußen standst. Den wollten sie im Heilewelter Tagblatt veröffentlichen. Sie haben mir tausend Euro dafür geboten. Aber ich verrate meinen Vater nicht!«
Oh Gott. Das wurde ja immer schlimmer! Davon wusste ich ja gar nichts! Mir wurde ganz flau. Die Kobaliks schreckten wirklich vor keiner Geschmacklosigkeit zurück. Trotzdem: Ich war stolz auf meine blitzgescheiten Mädels. Und bald würden sie auch wieder auf mich stolz sein können.