ANITA
Es war abends um acht, und ich hatte mich gerade in die Kobaliksche Lamadecke gekuschelt und die Tagesschau angemacht, als ich ein Geräusch am Fenster hörte. War das ein Eichhörnchen? Nein. Es klang so, als klopfte jemand mit einem kleinen Stein oder einem Ring ans Fenster. Ping! Ping! Ping! Die Kobaliks klopften nicht so vorsichtig. Die gingen inzwischen mit ihrem Schlüssel ein und aus. Mit pochendem Herzen rappelte ich mich auf und spähte durch den Spalt der Jalousie. Da stand ein Mann im Garten! Fußspuren im Schnee führten zur Gartenmauer, über die er geklettert sein musste. Vorsichtig sah er sich um wie ein Einbrecher. Hilfe! Jetzt drehte er sein Gesicht zum Fenster. Oh Gott! Es war Christian! Und was nun? Am besten, ich holte Verstärkung. Es war ihm polizeilich verboten, mein Grundstück zu betreten!
»Anita! Anita! Ich habe dich gesehen! Lass mich rein! Wir müssen reden!«
Was tun? Es war mir strengstens verboten, mit Christian zu reden. Das war allein Ralf Steiners Sache. Aber nach kurzer Zeit beschloss ich, die Terrassentür einen Spaltbreit zu öffnen. Christian sah total übernächtigt und elend aus. Mit ihm kam ein eiskalter Schwall Januarluft ins Wohnzimmer.
»Servus. Danke, dass du mich reingelassen hast.« Christian streifte sich die Stiefel ab und sah sich verwundert um: »Bin ich hier im richtigen Haus?«
»Ja. Die Kobaliks haben es ein wenig umgeräumt.«
»Und … gefällt es dir?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte ich kühl. »Du weißt, dass du überhaupt kein Recht hast, hier zu sein.«
»Ich weiß.« Christian zog seinen Mantel aus und warf ihn über die Lamadecke.
»Also?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du?« Notfalls konnte ich immer noch zum Schürhaken über dem Kamin greifen, falls er mir zu nahe trat.
»Anita.« Christian sank mit einer Pobacke auf die Sofalehne und griff nach meiner Hand, die ich ihm sofort entzog. »Ich weiß nicht, was alles passiert ist. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.« Er sah auf seine Socken. »Doch. Ich habe eine Musikschullehrerin geküsst. Inzwischen habe ich erfahren, dass ihr Mann hier angerufen hat und dass ihr lange mit ihm geredet habt.«
»Das geht dich gar nichts an!«, zischte ich. Angriff ist die beste Verteidigung.
»Natürlich nicht. Aber die Kobaliks umso mehr, was?« Christian griff nach der Weinflasche, die ich auf den Fernsehtisch gestellt hatte, und betrachtete das Etikett. »Trinkst du? Regelmäßig? Ganz allein?«
»Das geht dich erst recht nichts an!« Tränen stiegen mir in die Augen. Trotzig blinzelte ich sie weg.
Er rieb sich müde die Augen. »Schau, Anita, wir können diese dämlichen Spielchen noch ewig weiterspielen. Wir können aber auch wie zwei erwachsene Menschen miteinander reden. Noch ist es nicht zu spät!«
Er wirkte unglaublich erschöpft. Seine Augen waren so gerötet, als wäre er die ganze Nacht durchgefahren. Wahrscheinlich war er bei seiner Musikschulschlampe gewesen!
»DU hast doch in die Scheidung eingewilligt!«, schnauzte ich ihn gereizt an. »DU hast doch deine Sachen genommen und bist abgehauen! DU hast doch deine Töchter verlassen!«
»Anita. Bleib doch mal sachlich! Das stimmt doch gar nicht.«
»Du hast mich betrogen«, schluchzte ich. »Und das immer wieder!« Ich wollte mit den Fäusten auf ihn einhämmern.
»Ich habe dich nicht betrogen«, sagte Christian kopfschüttelnd. »Anita, das ist alles ein Riesenmissverständnis. Ich bereue, dass ich es so weit habe kommen lassen. Ich gebe zu, dass ich schon a bisserl gekränkt war, als ich erfahren habe, dass du diesem Jürgen Immekeppel und den Kobaliks Glauben schenkst, ohne mich überhaupt zu fragen. Weißt du eigentlich, dass dieser Sparkassenfritze das ganze Gespräch heimlich mitgeschnitten hat? DAS wäre eigentlich ein Fall für deinen Freund Ralf Steiner. Das ist nämlich eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte.«
Mir wurden die Knie weich. »Wie? Was? Woher weißt du …«
»Ist ja auch egal jetzt. Die Kobaliks haben dir und diesem Immekeppel eine Menge Blödsinn über mich erzählt. Sogar, dass ich krumme, dicke Beine habe.« Er lächelte traurig.
Ich schaute beschämt zu Boden. Das hätten sich die Kobaliks echt sparen können!
»Lenk nicht vom Thema ab und fasele was von Persönlichkeitsrechten daher!«, schnaubte ich wütend. »Du hast mich x-mal betrogen!«
»Bitte, Anita.«
Christian versuchte erneut, meine Hand zu nehmen. Ich zuckte zurück, als hätte ich eine heiße Herdplatte angefasst.
»Ich HABE dich nicht betrogen. Weder in Thailand mit einer Touristin noch nach dem Neujahrskonzert mit einer Sopranistin. Und auch nicht auf dem Traumschiff mit einer Schauspielerin.« Er nahm die Weinflasche: »Darf ich?«
»Bitte«, sagte ich. »Bedien dich! Aber lass dich nicht von den Kobaliks erwischen.«
Das war schon alles ziemlich verquer. Irgendwie hatte ich mein ganzes Leben in die Hände dieser Leute gelegt. Erst in die Christians und dann in die ihren. Ich selbst entschied schon lange nichts mehr. Mein Leben plätscherte zwischen Kindern, Küche und Fernseher dahin. Zwischen Fitnessübungen und der täglichen Weinflasche. Jeder Tag endete mit einem leichten Rausch und meiner Heizdecke. Seliges Vergessen … bis zum nächsten grauen Tag.
»Ich bin gekommen, um dich zu bitten, es noch mal miteinander zu versuchen«, sagte Christian feierlich. »Ich möchte mich entschuldigen, dass ich so viel unterwegs und Weihnachten nicht rechtzeitig zu Hause war. Ich werde mir Mühe geben und …« Seine Stimme wurde rau. »Anita, komm zur Vernunft. Die Kobaliks machen alles kaputt.«
»DU hast alles kaputt gemacht!«, zischte ich zurück. Ich war wütend, verängstigt und überrumpelt. Außerdem war ich nicht mehr ganz nüchtern.
»Ich frage dich das jetzt zum letzten Mal: Wollen wir es noch mal miteinander versuchen?«
Christian nahm mich bei den Schultern und sah mir tief in die Augen. Ich konnte die schwarzen Punkte in der braunen Iris erkennen.
»Woher weißt du das mit dem Telefonat?«, fragte ich trotzig.
Christian ließ mich los und nahm einen Schluck Wein. »Ich will ganz offen zu dir sein, Anita. Nachdem ich meinen Job verloren und zehn Nächte allein im Hotel gehockt habe, bin ich gestern nach Heilewelt gefahren. Ich habe mit der Frau geredet, deren Mann hier angerufen hat. Es musste einfach sein. Es gab so einiges zu klären.«
Ich umklammerte mein Weinglas so fest, dass es beinahe zerbrochen wäre. Ich hatte es gewusst! »Du warst BEI IHR!?«
Er nickte. »Ja. Sie hat drei kleine Kinder und einen hilflosen Trottel zum Mann, der ohne sie nicht leben kann. Sie hat einen Ruf zu verlieren in ihrer Kleinstadt. Ich habe die Plakate gesehen, die dort überall herumhängen: Sie, der Mann und die Kinder. Sie lebt in ihrer heilen Welt. Ich kann sie da nicht rausholen.«
Ja, stand das denn überhaupt zur Debatte? Er hatte sie da rausholen wollen, sich als Prinz gefallen, der das Aschenputtel befreit! Aber die Dornenhecke war zu hoch, und nur deshalb kehrte er zu mir zurück!
»Und DAS sagst du mir alles INS GESICHT?«, schrie ich. »Nur weil die Dame nicht abkömmlich ist, kommst du bei mir wieder angekrochen?« Ich warf mein Weinglas nach ihm. Es flog knapp an seiner Schläfe vorbei und zerbarst an der Wand. Der Rotwein rann wie Blut die Tapete hinunter. Was irgendwie passend war, denn das Jagdbild hing direkt daneben.
»Das versuche ich dir gerade zu erklären!«, sagte Christian mühsam beherrscht. »Ich will ehrlich sein. Ich habe mich tatsächlich in sie verliebt.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar: »Das kommt in den besten Familien vor, Anita. Besonders wenn man seit achtzehn Jahren verheiratet ist und seit sieben davon nicht mehr im Ehebett erwünscht ist.«
»Ach, jetzt fängst du DAMIT an!«, schrie ich wutentbrannt. »Dass der Herr nicht auch noch die Ehe vollziehen kann, wenn er von seinen Liebschaften mal nach Hause kommt! Du ARMER!« Ich war drauf und dran, zum Schürhaken zu greifen. »Wie sehr willst du mich eigentlich noch demütigen?«
»Ich will dich nicht mehr demütigen. Und mich auch nicht. Es ist noch nicht zu spät für einen Neuanfang. Ich stehe hier und bitte dich darum.«
»Natürlich. Weil du arbeitslos und wohnungslos bist und es draußen minus zwölf Grad sind.«
»Nein. Weil ich denke, dass es für uns alle das Beste ist.«
»Bis der nächste gehörnte Ehemann hier anruft?« Ich schnaubte. »Nein, ganz bestimmt nicht, Christian. Du hast deine Chance gehabt.«
»Anita! Bitte denk in Ruhe darüber nach. Die ganze Scheidung ist ein Wahnsinn! Weißt du, dass dein Star-Anwalt bereits zwei Millionen Euro von mir gefordert hat?«
»Nein. Zwei Millionen … Wie kommt der denn darauf?«
»Er hat ausgerechnet, dass dir bei meinem angeblichen Einkommen und deiner Lebenserwartung samt den Ausbildungskosten der Kinder eine Abfindung von rund zwei Millionen zusteht.« Christian schnaubte spöttisch. »Das ist doch völlig utopisch! Du kannst eine Kuh nicht gleichzeitig schlachten und melken! Der Einzige, der an unserer Scheidung verdient, ist der Anwalt!«
»Das hättest du dir früher überlegen müssen«, erwiderte ich barsch.
»Und was ist überhaupt mit den Kobaliks? Wieso lässt du zu, dass die sich so in dein Leben einmischen?« Er machte eine verächtliche Kopfbewegung in Richtung der geschmacklosen Jagdbilder und schweren Eichenmöbel. »Merkst du nicht, wie die langsam, aber sicher die Kontrolle übernehmen?«
»Sie helfen mir in einer schweren Situation«, sagte ich trotzig. Was blieb mir zu diesem Zeitpunkt auch anderes übrig?
»Sie verarschen dich und spielen mit deinen Gefühlen.«
»Du spielst mit meinen Gefühlen!«
»Anita. Lass mich einfach wieder hier einziehen und diese Scheußlichkeiten hier rauswerfen. Dieses grässliche Elchgeweih und den stinkenden Bären …« Christian trat gegen das aufgerissene Bärenmaul. »Lass uns unsere Energie in unsere Ehe stecken und nicht in deren Zerstörung.« Er sah mich bittend an.
Ich merkte, dass es ihm ernst war. Er wollte nicht streiten. Wir hatten eigentlich nie gestritten. Ich kämpfte mit mir. Mein Stolz verbot mir, in seine ausgebreiteten Arme zu sinken, so gern ich das im Moment auch getan hätte. Verschieben wir es doch auf morgen!, hätte ich am liebsten ausgerufen. Ich bin müde und will ins Bett! Mit letzter Kraft wiederholte ich: »Das hättest du dir früher überlegen können.«
»Anita, ich bitte dich. Sei doch vernünftig! Verzichten wir ausnahmsweise mal auf Schuldzuweisungen. Wir haben beide Fehler gemacht. Ich entschuldige mich für meine.«
Ich umklammerte das Weinglas in meiner Hand: »Wirst du sie wiedersehen?«
»Wen?«
»Die rothaarige Schlampe aus dem Kaff da.«
»Nein. Wir haben uns heute voneinander verabschiedet. There’s no place for us.«
Wie theatralisch! Er zitierte aus der »West Side Story«? Da ging es um die ganz große Liebe. Nicht nur um eine schmierige Kleinstadtaffäre mit Knutscherei im Parkhaus. Ich holte tief Luft. »Du liebst sie aber?!«
Christian zuckte die Achseln, vergrub die Hände in den Hosentaschen und lief auf Socken auf und ab. Schließlich fuhr er entschlossen zu mir herum. »Im Moment kann ich das nicht leugnen.«
»Du gibst es also zu?« Das tat so weh! Ich wünschte, er hätte mich damit verschont.
»Na ja, was heißt schon Liebe? Ich habe mich verknallt wie ein Schuljunge. Aber ich bin erwachsen und weiß, wo ich hingehöre.«
»Na toll.« Ich nahm einen großen Schluck Wein. »Eine Vernunftehe also.«
»Sie führt auch eine«, murmelte er und lächelte traurig. »Das ist weit verbreitet.«
Ich ballte die Fäuste und atmete tief ein. »Was hat sie, was ich nicht habe?«
»Willst du das wirklich wissen, Anita?« Christian sah mich eindringlich an. »Ich will dir wirklich nicht wehtun …«
»Das TUST du aber! Die ganze Zeit schon! Indem du sagst, dass du sie LIEBST!«
»Ich arbeite am Gegenteil.«
»Wie nett von dir! Da muss ich dir wohl auch noch dankbar sein?« Ich stieß ein verächtliches Lachen aus.
Christian nahm versonnen einen Schluck Wein. »Sie ist … so selbstständig. Kreativ. Tüchtig. Herzlich. Temperamentvoll. Witzig. Und chaotisch.«
»Aha. Und das bin ich also alles nicht. CHAOTISCH!« Ich lachte verbittert. »Das bin ich allerdings nicht.«
»Du bist leider auch nicht selbstständig. Aus dir ist ein verwöhntes Kind geworden.«
»DU hast gesagt, ich kann ruhig meinen Job aufgeben! Damit ich Zeit für die Kinder habe!« Mir schossen die Tränen in die Augen. Was für eine Gemeinheit, mir nach achtzehn Jahren zu sagen, ich sei nicht selbstständig!
»Anita, in letzter Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl, neben einer schönen Puppe herzuleben. Du bist … perfekt. Aber es kommt kein … Input.«
Christian knetete seine Hände, und ich sah, dass er nach den richtigen Worten suchte. Er wollte ehrlich sein, wusste, dass das seine letzte Chance war. Es war ein Drahtseilakt: Ein falsches Wort, und ich würde ihn rauswerfen. Trotzdem zitterte ich vor Wut. »Was soll das heißen, kein Input? Ich koche, kümmere mich um unsere Töchter, pflege mich und halte mich fit …« Ich nahm hastig noch einen Schluck Wein. »Macht deine dicke Tussi jeden Tag eine Stunde Pilates? Spielt sie Tennis, spielt sie Golf? Reitet sie? Fährt sie Ski? Kannst du dich mit ihr auf dem gesellschaftlichen Parkett blicken lassen?« Meine Stimme wurde schrill.
»Die Luft ist raus, Anita.« Christians Stimme klang rau und leise.
»Aber du stehst hier. Und bittest mich um eine Fortsetzung dieser … langweiligen, reizlosen Ehe. Aus der die Luft raus ist. Und wie stellst du dir das bitte schön vor? Sollen wir sie wieder reinpumpen? Wie in eine lecke Luftmatratze?«
Ich warf die Hände hoch. Lieber hätte ich Christian geschlagen.
»Ja. Wir können daran arbeiten. Das machen andere Paare auch.« Christian drehte sich zu mir herum und sah mich flehentlich an. »Meinetwegen gehen wir zu einer Eheberatung. Lernen, wieder miteinander zu reden. Ich bitte dich jetzt zum letzten Mal: Lass es uns versuchen.« Er breitete ganz langsam die Arme aus. »Hm? Drehen wir die Zeit zurück! Verreisen wir! Machen wir etwas Verrücktes.«
»Ja, nach Heilewelt vielleicht! Besuchen wir unsere neuen Freunde!«, äffte ich ihn nach. Dabei sehnte ich mich nur nach Ruhe und Frieden. Wenn doch alles wieder so wäre wie früher! Ich wollte mich in seine Arme werfen und einfach nur weinen, bis der Schlaf kam. Aber ich schaffte es nicht. Mein Stolz ließ es einfach nicht zu. Tatsache war: Er kam angekrochen, nachdem die Rothaarige leider nicht loszueisen war. Das war so billig, so unglaublich demütigend. Ich war zweite Wahl. Wie ein fehlerhaftes Kleidungsstück. Deshalb sagte ich: »Damit du nicht zahlen musst. Damit du ein Dach über dem Kopf hast. Damit du um die Scheidung herumkommst. Aber dafür ist es zu spät.« Ich konnte nicht die Nummer zwei sein. Nicht hinter einer rothaarigen, sommersprossigen Brillenschlange, die mindestens Größe vierzig trug. Und die er liebte, weil sie chaotisch war. Eine Welle der Enttäuschung erfasste mich. »Hau ab, Christian, es ist aus! Die Scheidung läuft weiter. Geh zu deiner Parkhausschlampe. Oder penn meinetwegen unter der Brücke.« Noch während ich das sagte, bereute ich es auch schon wieder. Es tat mir so weh, ihm solch lieblose Worte an den Kopf zu werfen, aber ich konnte nicht anders. Ich merkte erst, dass ich weinte, als Christian das Grundstück bereits verlassen hatte, und zwar genauso, wie er gekommen war. Es war, als wäre er nie da gewesen. Vielleicht würde ich morgen früh aufwachen und glauben, ich hätte die Begegnung nur geträumt.