LOTTA
Tagelang schlich ich schuldbewusst durch die Stadt. Immer wenn ich mit den Kindern unterwegs war und wir an einem alten Konzertplakat vorbeikamen, schlug mir das Herz bis zum Hals. Aber Jürgen hatte mir versichert, die Stadt sei »sauber«. Er hatte vorgeschlagen, den Stier bei den Hörnern zu packen und die alten Plakate durch neue zu ersetzen:
»Wir machen eine Aktion, die ganz klar Stellung bezieht«, erklärte er mir eines Abends eifrig. »Ganz Heilewelt soll sehen, dass wir zusammengehören und dass uns diese Schmierereien nicht auseinanderbringen.«
Ich badete gerade die Zwillinge und saß mit Quietschente und Shampooflasche auf der Klobrille, während die Mädchen sich gegenseitig Schaum in die Augen pusteten. Noch lachten sie.
Jürgen stand im Mantel in der Badezimmertür und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Das kostet die Sparkasse zwar eine hübsche Summe, aber ich verantworte das. Allein schon, damit du wieder besser schlafen kannst.«
Ja, ich hatte seit Weihnachten nie länger als zwei Stunden am Stück geschlafen. Schon deshalb, weil ein paarmal mitten in der Nacht mein Handy geklingelt hatte. Ich hatte die Ohren gespitzt, und mein Herzklopfen hatte sich stundenlang nicht wieder beruhigt. Aber natürlich war ich nicht aufgestanden, um nachzusehen, wer dran war. Jürgen hatte mir das Handy wieder zurückgegeben. Und ich wollte ihm beweisen, dass ich sein Vertrauen nicht missbrauchte. Ich gehörte zu Jürgen, in die Betthälfte links neben ihm.
»Ich habe bei einem Grafiker bereits einen Entwurf in Auftrag gegeben. Wie findest du ihn?« Jürgen hielt mir seinen Laptop vor die Nase: »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft! – Neuanmeldungen für die Musikschule jetzt in Ihrer Sparkasse!«, las ich. Und das alles vor einem vergrößerten und professionell bearbeiteten Familienfoto von Jürgen, den Kindern und mir. Es war im letzten Sommer aufgenommen worden. Ich hatte es bisher abgelehnt, die Kinder für Werbezwecke einzusetzen, aber jetzt war ich dankbar dafür. Das setzte ein klares Zeichen! Wir lachten alle entspannt in die Kamera. Die Kinder hatten ihre Musikinstrumente in der Hand, und ich lehnte lächelnd mit einem Notenblatt und dem Dirigentenstab über dem Flügel. Jürgen stand mit seinen gelben Luftballons auf der anderen Seite und wirkte sehr zufrieden.
»Die Luftballons hat der Grafiker eingefügt. Das sieht doch ganz natürlich aus, oder?!«
Jürgens schütteren Haaransatz hatte er ebenso wegretuschiert wie seinen Bauch, der eigentlich über den Flügel quoll. Ich kannte das Bild ja aus unserem Familienalbum. Bei mir hatte er die wirren roten Haare geglättet und die Sommersprossen weggezaubert. Wir sahen aus wie eine Reklame-Familie aus dem Werbefernsehen. Toll!
Jürgen strich den Mädchen über die nassen Haare. »Wir sind eine Festung, die niemand einnehmen kann.« Er klappte seinen Laptop zu und stampfte wieder die Treppe hinunter.
Während ich die Mädchen einzeln aus der Wanne hob, sie abtrocknete, föhnte, kämmte und ihnen frische Schlafanzüge anzog, dachte ich über den Satz meiner Mutter nach: Liebe kann wachsen. Ja, eigentlich konnte sie das. Wie Jürgen mir mit den Plakaten geholfen hatte, das war schon lieb von ihm. Er hatte Zeit und Geld geopfert, um die Stadt neu zu plakatieren. Er stand zu mir. Im Gegenzug hatte ich es geschafft, nicht mehr an Christian zu denken. Und auch nicht mehr an Sophie. Jürgen sollte mein Vertrauter sein, mein Fels in der Brandung! Ihm war es auch lieber, wenn ich mich nicht mehr mit Sophie abgab. Natürlich hatte ich ihm von Schaumschlägers Besuch in meinem Büro erzählt.
»Das ist ja gerade noch mal gut gegangen!«, hatte Jürgen gesagt. »Das hätte deine ganze Karriere zerstören können. Sieh es als Warnschuss!« Dabei hatte er sich nervös am Ellenbogen gekratzt.
Ja, das musste ich wohl. Ich fiel einfach immer wieder auf die falschen Leute rein. Die Mädchen waren fertig und hüpften lachend in ihr Zimmer. Sie dufteten wirklich zum Anbeißen. Schade, dass Jürgen sich so wenig mit ihnen beschäftigte. Immer hockte er über seinem Laptop. Dabei spielte sich das wahre Leben doch jenseits des Bildschirms ab! Ihm entging so viel! Ich wischte den nassen Boden auf, ließ frisches Badewasser ein, öffnete die Badezimmertür einen Spaltbreit und rief: »Paulchen, jetzt bist du dran!«
Kurz darauf kam Caspar mit Paul die Treppe herauf. Sie hatten im Keller gebastelt. Das taten sie schon tagelang, und ich war froh, dass Paulchen Caspar hatte, eine männliche Bezugsperson. Sein Vater hatte zwar schon einen Bausparvertrag für ihn eingerichtet, aber noch nie einen Drachen mit ihm steigen lassen.
»Na, ihr Handwerker? Caspar, wenn du gleich mitbadest, gehe ich solange raus.« Die beiden hatten ganz schwarz verschmierte Hände.
»Du, Lotta, ich hab hier was …« Caspar zog verlegen ein kleines schwarzes Etwas aus seiner Hosentasche.
»Was ist das?« Irritiert sah ich das kleine Ding an. »Du weißt doch, ich verstehe nichts von Technik.«
»Ich glaube, das ist eine Wanze«, sagte Caspar leise, während Paulchen bereits vergnügt in die Wanne glitt.
»Eine Wa… was?« Bestimmt ein Sprachproblem. Caspar machte oft süße Fehler, wenn er das passende Wort auf Deutsch nicht wusste. Er hatte zum Beispiel schon B-Meise statt Ameise und Heulbaum statt Trauerweide gesagt.
»Wir haben im Keller gespielt«, flüsterte Caspar. »Und dabei habe ich gesehen, dass ein Draht in den alten Schuhschrank an der Wand führt. Der, in dem ihr die Skisachen und Wanderschuhe aufbewahrt …«
»Ja?« Mir wollte sich der Sinn seiner Worte nicht so recht erschließen. Und warum war Caspar so verstört? »Hat sich Paulchen irgendwie verletzt?« Ich warf einen hastigem Blick auf meinen arglos planschenden Sohn.
»Nein, er hat nichts davon mitgekriegt. Ich habe den Draht untersucht und geschaut, wohin er führt … Er führt in dein Arbeitszimmer, und da steckt dein Handy im Ladegerät.«
Mir wurde ganz flau. Jäh wollten mir die Beine wegsacken. Ich sank auf den geschlossenen Klodeckel.
»Mama! Jetzt kommt das Krokodil, das FRISST dich! WOAAAAHHHH!«
»Jetzt nicht, Paulchen! Warte mal, was willst du damit sagen, Caspar?«
»Na, ich habe gerade unten gestanden und gehört, wie oben dein Handy läutet. Da hat es im Schrank geknackt, und ein rotes Lämpchen ist angegangen.« Caspar biss sich auf die Lippen.
»HUUUUUU!«, kam es aus der Badewanne. »Ich bin ein ganz GEFÄHRLICHES Raubtier! Ich schnappe zu, wenn ihr es nicht erwartet!«
»Wie … Wie …« Mir verschlug es komplett die Sprache.
»Ja, also da läuft ein Band mit. Ich wollte dich nicht erschrecken und hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich habe es mir erst mal angehört. Er belauscht deine Telefonate. Und er hat auch deinen Besuch bei Sophie belauscht.«
Er steckte das kleine schwarze Ding in eine Art Aufnahme-/Abspielgerät. Es war so winzig klein, dass man es unauffällig in der Jackentasche bei sich tragen, in einem Schrank verstecken … oder in einer Handtasche deponieren konnte.
Das war doch nicht … Das würde Jürgen doch nie …? Mir wurde übel. Er hatte mich abgehört?
Caspars Finger zitterten, als er mir die dazugehörigen Kopfhörer in die Ohren steckte. Selbst war ich dazu überhaupt nicht in der Lage. Es knackte und rauschte, und dann hörte ich die Telefonate, die ich seit Weihnachten geführt hatte.
Mit meiner Mutter: »Ich habe den Gulaschtopf gespült, ihr könnt ihn beim nächsten Mal wieder mitnehmen. Sag Vater, er muss wirklich nicht mitkommen, wenn ihm der Lärm zu viel wird.«
Dann mit einer Nachbarin: »Natürlich lassen wir die Rollläden bei Ihnen runter. Ich weiß ja, wo der Schlüssel liegt! Dann eine schöne Reise zu Ihren Kindern …«
Mit Eltern meiner Musikschulkinder: »Ja, danke, es war wirklich ein schönes Konzert, und Ihr Maximilian darf nächstes Jahr die zweite Geige spielen …«
Mit meiner Sekretärin: »Haben Sie die Noten gefunden, Frau Zweifel? Bestellen Sie für nächstes Jahr das ganze Orchestermaterial für ›Carmina Burana‹. Nein, mit Herrn Gerngroß möchte ich nicht sprechen. Nein, auch nicht, wenn es dringend ist. Er soll sich unterstehen, mich zu Hause anzurufen.«
Nach längeren Nebengeräuschen und dumpfen Stimmen hörte ich ein Rascheln, ein Wühlen … Dann Sophies Stimme. Aber anders als am Telefon. Irgendwie … weiter weg:
»Aber Christian? Den hättest du geheiratet?«
Und dann meine: »Sofort! Wenn er mir unter anderen Umständen begegnet wäre, hätte ich ihn mir geschnappt und nie mehr losgelassen.«
Sophie: »Süß. Ihr wärt ein Traumpaar.«
Ich: »Sind wir aber nicht. Und jetzt lass uns über was anderes reden.«
Sophie: »Und? Wirst du ihn wiedersehen?«
Ich: »Natürlich NICHT! Genau das unterstellt mir Jürgen ja!«
Sophie: »Aber anrufen? Jetzt? Hier?! Danke fürs Konzert sagen? Ein frohes neues Jahr wünschen?«
Ich: »Nein, nein.«
Sophie: »Christian Meran in Wien bitte. Ja, stellen Sie durch.«
Ich: »NEIN! Mach das nicht! Lass das! Ich werde NICHT mit ihm sprechen.« Sophie, bedauernd: »Besetzt.«
Mit bebenden Fingern brachte ich das Gerät zum Schweigen. Wir starrten uns fassungslos an. Caspar half mir, die kleinen Ohrstöpsel wieder aus meinem Haargestrüpp zu befreien.
»Du hast ihr die Freundschaft gekündigt, nicht wahr?«
Caspar hatte das natürlich alles mitgekriegt. Er hatte Sophie vor Kurzem noch die Tür geöffnet, als sie Sturm geläutet hatte, und ich hatte mich geweigert, mit ihr zu sprechen. Mir wurde ganz anders! »Mach mal das Fenster auf«, krächzte ich mit letzter Kraft.
Caspar gehorchte. Er ließ kaltes Wasser in ein Zahnputzglas laufen und reichte es mir. »Big brother is watching you!«
Das Blut rauschte in meinen Ohren.
Unverdrossen bedrohte uns Paulchen mit seinem Krokodil. »Ihr seid nirgends vor mir sicher, NIRGENDS könnt ihr euch verstecken! ROAAAAHHHH!«
Das konnte doch nicht wahr sein! Jürgen und ich, wir vertrauten uns doch wieder. Unsere Beziehung war doch gefestigt! Er hatte mir das Handy wiedergegeben. Wir hatten die Krise doch hinter uns gebracht, wir schauten gemeinsam nach vorn! Ich trank in gierigen Zügen und sah meinen Au-pair-Jungen fassungslos an. Jürgen hatte mir das Handy wiedergegeben, um mir eine Falle zu stellen. Um mich belauschen zu können. Um mich unter Kontrolle zu haben. Mein Gott, ich hatte das verwanzte Handy in der Handtasche gehabt! Schon damals bei meinem Besuch bei Sophie! Er hatte mich sagen hören, dass ich Christian heiraten würde. HEIRATEN. Genau das hatte ich Jürgen kurz zuvor abgeschlagen! Meine Gedanken begannen zu rasen. Jürgen hatte mir einen Schreck einjagen, einen Warnschuss abfeuern wollen! Und zwar, indem er Schaumschläger, unseren Lokalreporter, der mich kurz zuvor noch in den Himmel gelobt hatte, zu seinem Komplizen gemacht hatte! Damit hatte Jürgen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hatte dafür gesorgt, dass ich meine einzige Vertraute los war, UND das Hochzeitsgerücht als tickende Zeitbombe bei Schaumschläger geparkt. Ich konnte nicht länger still sitzen. Wie eine Geisteskranke in der Gummizelle begann ich unwillkürlich, meinen Oberkörper vor und zurück zu wiegen. Die schwarz-weißen Fliesen hatten sich längst verselbstständigt und tanzten vor meinen Augen. In meiner kleinen heilen Welt stand kein Stein mehr auf dem anderen! Wie hatte Schaumschläger gesagt? »Fast jede Familie schickt ihre Kinder zu Ihnen in die Musikschule. Und die Anmeldungen für nächstes Jahr haben sich verdoppelt. Und meine Berichterstattung Ihnen gegenüber war ja wohl bis jetzt mehr als … wohlwollend.« Das war doch eine versteckte Drohung gewesen! Das war doch exakt Jürgens Rede: Dass ich mir meine Karriere versauen würde, wenn mein Fehltritt mit Christian an die Öffentlichkeit geriet! Dass ich meinen guten Ruf aufs Spiel setzte! Und genau DAS hatte auch dieser Zeitungsfritze gesagt, als er rauchend bei mir auf der Fensterbank saß! Es klang wie einstudiert! Hatte er nicht sogar zugegeben, dass er gerade von Jürgen kam, weil er für Silvester noch Geld geholt hatte? Was, wenn Schaumschläger nicht flüssig gewesen war? Was, wenn Jürgen ihm einen Deal angeboten hatte? Du erschreckst meine Frau, und ich gebe dir noch einmal Kredit? Ich musste mich am Waschbecken festhalten. Immer wieder ließ ich das Gespräch mit Schaumschläger in meinem Kopf ablaufen. Wie ein Band, das ich wieder und wieder zurückspulte. Ein Band!, dröhnte es in meinem Schädel. Jürgen hatte auch beim Telefonat mit den Kobaliks ein Band mitlaufen lassen. Er hielt sich für unheimlich schlau. Ständig programmierte er irgendwas. Mich wollte er auch programmieren. Mir ein Bein stellen. Mich zu Fall bringen. Damit ich vor ihm zu Kreuze kroch. Demütig zu ihm zurückkehrte. Mit solch unfairen Tricks wollte er sich meine Liebe sichern. Mir blieb fast die Luft weg. Sein mildes, mitleidiges Lächeln, als er sich meinen Kummer wegen Schaumschläger und Sophie angehört hatte. Dieses … triumphierende Lächeln! Und ich war fast erstickt an meinen Schuldgefühlen. Weil ich eine Schlampe war, eine Rabenmutter. Ja, ich hatte Christian Meran geküsst. Ja, ich hatte mich in diesen Mann verliebt! Und ja, ich wäre am liebsten mit ihm auf und davon. Aber ich hatte mich tausendmal dafür entschuldigt, Besserung geschworen, mich strikt an Jürgens Anweisung gehalten, ihn nicht anzurufen. Ich war tief beschämt durch die Stadt geschlichen, nachdem ich die Plakate gesehen hatte …
Moment mal! Ein Messer bohrte sich in meine Eingeweide. Genau zwei waren es gewesen, an sehr belebten Stellen. Und genau dorthin hatte Jürgen mich auf unserem Spaziergang geführt. Und rein zufällig hatte er einen dicken schwarzen Stift in der Tasche gehabt … Wie dankbar ich ihm gewesen war! Es gibt doch einen Gott!, hatte ich ausgerufen. Und er hatte gesagt, dass er es nicht mag, wenn ich in seinen Taschen wühle.
Auf einmal war mir alles klar. Er hatte die Plakate selbst beschmiert. Er hatte die Worte »Schlampe« und »Rabenmutter« selbst geschrieben. Und mit diesem Mann wollte ich den Rest meines Lebens verbringen? Liebe kann wachsen? Verachtung kann wachsen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag.
»Lotta? Bist du okay?« Caspar wedelte mit einem nassen Handtuch vor meinem Gesicht herum, und Paulchen hörte endlich auf, mich mit seinem Krokodil zu bedrohen und vollzuspritzen.
»Ich will endlich raus aus der Wanne, ich bin ja schon ganz durchweicht! Außerdem spielt ihr gar nicht mit mir, ihr seid schon genauso langweilig wie Papa mit seinem ewigen Computer.« Seine Knabenstimme klang immer unbehaglicher. »Mama, was machst du denn da?«
Mir war so schwindelig, dass ich nach vorn kippte und mich mit letzter Kraft am Wannenrand abstützte. Ich war demütig zu Jürgen zurückgekehrt und hätte ihn aus lauter Schuldgefühlen heraus bei nächster Gelegenheit geheiratet. So also wollte sich Jürgen meine Liebe sichern! Indem er mich für den Rest meines Lebens kontrollierte. Das war doch krankhaft! Panik erfasste mich. Ich musste sofort hier weg. Noch heute. Mit den Kindern.
»Mama, du kotzt doch wohl nicht?«
Ich sah, wie Paulchens Füße laut platschend das Weite suchten, als ich mich in sein Badewasser übergab.
Caspar saß am Steuer, als wir über die weiße Kiesauffahrt zu Sophies Villa hinauffuhren. Ich war nicht mehr in der Lage dazu. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib gekotzt und mindestens zehnmal die Klospülung betätigt: Mein ganzes bisheriges Leben mit dem falschen Mann am falschen Ort wollte ich in die Kanalisation spülen. Jürgen hatte nur völlig irritiert in der Badezimmertür gestanden und sich den Ellenbogen gekratzt: »Hat sie was Falsches gegessen? Was ist denn los? Soll ich den Krankenwagen rufen?«
Caspar hatte alle drei Kinder mitsamt Bettdecken und Schmusetieren wortlos zum Auto getragen und mich, als ich endlich wieder schnaufen konnte, einfach hinterhergeschoben.
Jürgen hatte ratlos im Vorgarten gestanden, als wir kommentarlos weggefahren waren. Die Wanze hatte ich noch aus dem offenen Autofenster geworfen. Ihm vor die Füße. Seinen entsetzten Blick, als er sie aufhob, hatte ich noch genau gesehen.
Als das elektrische grüne Tor der Schmalenberg-Villa wie von Geisterhand aufging, fühlte ich, wie die Totenstarre von mir abfiel. Sophie war mir nicht böse, öffnete mir ihr Haus. Ich sank in ihre ausgebreiteten Arme.
»Du bist ja ganz nass und blass und …« Sie schnüffelte. »Hast du gekotzt?«
Ich kniff die Lippen zusammen und hielt den Kopf gesenkt.
»Jetzt nimmst du erst mal ein heißes Bad, und dann bekommst du ein paar frische Klamotten von mir.«
Caspar rannte bereits mit den Kindern nach oben, wo Clemens und Max ihnen schon begeistert entgegenliefen. Man hörte sie Türen knallen, jubeln und kreischen.
»Jürgen hat uns belauscht«, sagte ich wenig später, als ich mit geputzten Zähnen bis zum Hals im Schaumbad lag. »Er hatte mir ein Aufnahmegerät in die Handtasche geschmuggelt.«
»Ich habe mir schon so was gedacht«, sagte Sophie kopfschüttelnd. »Die Sache mit dem Golfplatz war wirklich absurd. Wenn dein superschlauer Jürgen mir die Sache in die Schuhe schieben will, soll er sich erst mal überlegen, wo sich eine Frau Anfang Januar so rumtreibt. Jedenfalls nicht auf dem Golfplatz!« Sie stieß ein verächtliches Lachen aus. »Was für ein Dilettant!«
»Skilift haben wir ja keinen«, witzelte ich. »Sonst hätte er behaupten können, du hättest in deinem Ankerlift so laut über mich getratscht, dass es Frau Schaumschläger vor dir mit anhören musste. Ob sie nun wollte oder nicht.«
Auf einmal fingen wir an zu kichern. Ich streckte meine Hand nach dem Champagnerglas aus, das Sophie mir auf den Badewannenrand gestellt hatte. »Notfallapotheke« hatte sie das genannt.
»Supermarkt hätte funktioniert oder Fleischtheke oder …«
Ich prustete meinen Champagner ins Badewasser. »… Bäckerei Gerngroß!«
»Wir haben schon tolle Männer hier in Heilewelt, nicht wahr?«
Ich hielt mir die Nase zu und ging auf Tauchstation.
»Was wirst du jetzt machen?«, fragte Sophie, als ich wieder auftauchte. Ich sah sie an wie ein nasser Hund, der sich schämt, dass er mit seinen Pfoten Schmutzspuren hinterlassen hat.
»Kann ich erst mal bei dir bleiben?«
»Natürlich. Kein Problem. Solange du willst. Die Kinder und Caspar selbstverständlich auch.«
»Ach, Sophie, so viel Langmut habe ich gar nicht verdient …« Ich wollte vergehen vor Reue.
»Na ja, dass du ernsthaft geglaubt hast, ich würde deine Herzensangelegenheiten herumerzählen …« Sophie schüttelte tadelnd den Kopf. »Du solltest mich doch eigentlich kennen, oder?«
»Ich entschuldige mich tausendmal, Sophie! Ich war so durch den Wind! Ich habe Jürgen mehr Glauben geschenkt als dir!«
»Schon gut. Schwamm drüber.« Sie nahm einen Schwamm und warf ihn mir ins Gesicht.
In dem Moment klopfte es. Caspar steckte seinen Kopf zur Tür herein:
»Jürgen ist am Telefon.« Er hielt mir sein Handy hin und sah mich fragend an.