ANITA

»Und?« Der schnieke Anwalt im perfekt sitzenden Zweireiher rüttelte kontrollierend an der Haustür. »Hat er versucht reinzukommen?« Ich starrte ihn an. Mein Kopf schwirrte. Das war der Moment, in dem ich erklären musste, dass es sich um einen bedauerlichen Irrtum handelte. Dass ich keine Scheidung wollte und jetzt gern allein wäre. Aber mir wollte kein Ton über die Lippen kommen.

»Klar hat er das!«, antwortete Wolfgang Kobalik für mich. Er trug einen grün-gelb karierten Golfpulli und rot-grüne Karohosen, dazu einen orangefarbenen Kaschmirschal. »Das konnten wir von unserm Fenster aus beobachten!«, ergänzte Ursula.

»Gerüttelt und gerufen hat er. Und immer wieder sein Handy bemüht!« Wolfgang lachte zufrieden. »Sogar bei uns hat er angerufen. Aber wir haben uns schlafend gestellt.«

Ursula nickte stolz, als sei ihnen ein ganz besonderes Kunststück gelungen. »Keen Mucks hamwa jemacht und nur durch die Rollläden jekiekt.«

Meine Nachbarin sah so aus, als hätte sie die Hauptrolle in einem Laienspiel ergattert. Ich starrte sie fassungslos an. Das Ganze war ein Spiel für sie! Ein aufregendes Versteckspiel! Sie hatten ja in ihrem Leben sonst nichts zu tun! Sie mussten doch merken, dass ich das alles gar nicht wollte, oder?

Ich selbst war mithilfe von Schlaftabletten und einer ganzen Flasche Rotwein in einen totenähnlichen Schlaf gesunken. Hatte die Sache einfach nur vergessen wollen. Verschieben wir es doch auf morgen! Die Kinder hatten Gott sei Dank nichts bemerkt: Gloria war mit kindlichem Tiefschlaf gesegnet und inzwischen schon wieder zu einer Freundin verschwunden. Und Grazia war über Nacht bei Benni geblieben. Aber jetzt war leider morgen. Und wir standen doch tatsächlich zu viert an meiner Haustür und rüttelten daran. Ich wünschte, es wäre schon wieder ein Tag weiter. Morgen begann ein neues Jahr. Morgen würde sich vielleicht herausstellen, dass ich das hier nur träumte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das Ganze war einfach absurd.

»Der Schlosser hat gute Arbeit geleistet!« Wolfgang Kobalik zeigte dem Anwalt Ralf Steiner stolz das neue Schloss, so als hätte er es selbst installiert. »Das ist ein Sicherheitsschloss, samt Zahlencode. Den kennen nur wir und die Anita. Da kommt keiner rein, der nicht rein soll.«

»Dann wäre das schon mal erledigt.«

Die Kobaliks baten Ralf Steiner hinein, als wäre es ihr Haus und nicht meines. Ich folgte ihnen mechanisch.

Ralf Steiner ließ sich auf mein schwarzes Ledersofa fallen und klappte seinen Laptop auf. »So, Frau Meran. Und jetzt erzählen Sie mir mal, wie hoch das Einkommen Ihres Mannes ist.«

»Ähm, ich weiß es gar nicht so genau …«

»Aber ICK weiß es!« Wolfgang Kobalik stieß Zigarrenrauch aus und zeigte mit dem angelutschten Stummel auf den Laptop: »Det können Se janz leicht nachgoogeln. Ick bin im Vorstand der Freunde und Förderer, und ick kann Ihnen auf den Cent jenau sagen, wat so ’n Wiener Philharmoniker verdient.« Er kratzte sich am Kopf und zählte dann auf: »Festanstellung seit zwanzig Jahren, dazu Solo-Extragehalt, dann die janzen Honorare in fünfstelliger Höhe, die er freiberuflich so abzockt, dazu det saftige Honorar für die Meisterkurse … Also, ick seh da schon ne sehr sechsstellige Summe im Jahr.«

Herr Steiner nickte desinteressiert und gab Zahlen in seinen Laptop ein. »Davon steht der Ehefrau mindestens die Hälfte zu. Hinzu kommt natürlich der Unterhalt für die Töchter. Wie alt sind die?«

»Fürzn und sechzn«, kam mir Ursula zuvor. Sie schwenkte ein Whiskeyglas und drückte mir auch eines in die Hand: »Nimma, det beruhigt.«

»Aha. Dann sind die ja noch minderjährig und in der Ausbildung. Was glauben Sie, wie lange werden die noch studieren, so Pi mal Daumen?« Er schaute mich fragend an.

Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen! Ich machte den Mund auf, um zu antworten, aber Ursula Kobalik quakte: »Na jehmse den Mädels ma jede zehn Jahre, wa. Heutzutage is det ooch nich mehr so einfach mit de Studienplätze. Unsere Rosie …«

»Dann fordern wir einen Unterhalt für die Mädchen bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahr.« Ralf Steiner gab bereits etwas in ein Formular ein. »Außerdem muss er ihnen den gewohnten Lebensstandard erhalten.«

»Ja, det auf jeden Fall, also der Golfclub und det Pferd müssen schon noch drinne sein, wa.« Ursula Kobalik tätschelte beruhigend meine Schulter und hätte dabei fast ihre Zigarettenasche in meinen Ausschnitt fallen lassen. »Jetzt, wo der Vater weg ist, brauchen se nen festen Halt. Nicht, dass sie unter die Räder kommen.«

»Na ja, Vater«, brummte Wolfgang Kobalik tadelnd. »Erzeuger trifftet wohl besser. So viel, wie der weg war und sich in der Weltgeschichte rumgetrieben hat!«

Ich konnte meine Finger gar nicht mehr ruhig halten vor lauter Nervosität. Ich musste es jetzt sagen. Jetzt war der richtige Moment. »Aber warum soll ich mich eigentlich scheiden lassen?«, wagte ich dazwischenzufragen.

Der Anwalt starrte mich verständnislos an. Ich suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. Ich wollte niemandem zu nahe treten, so wie sich alle für mich einsetzten, aber … »Ich bin doch noch nicht bereit zu so einem Schritt! Wir sind sowieso oft monatelang getrennt«, versuchte ich dem Anwalt zu erklären, »und führen so eine Art offene Ehe …« Ich verschränkte die Arme.

Wolfgang Kobalik starrte mich einen Moment lang fassungslos an, dann schloss er kurz die Augen und schüttelte den Kopf.

Ursulas Blick glitt völlig perplex an mir herauf und wieder herunter.

»Det Medchen ist total am Ende«, erklärte Wolfgang Kobalik dem Anwalt, der zum ersten Mal fragend von seinem Laptop aufblickte.

»Ja WOLLEN Sie sich jetzt scheiden lassen oder nicht?!«

Nein. Ich will nur hier sitzen. Verschieben wir es doch auf morgen!

»Menschenskind, er hat dich BETROOOGN!«, schrie Ursula Kobalik. »Und nicht nur das eine Mal!« Ihre Augen hatten sich verengt, als würde sie ihre großherzige Nachbarschaftshilfe schon bereuen.

»Aber …« Ich schluckte nervös. Meine Finger zitterten, als ich verlegen mit meinem Diamantring spielte. »Ich dachte, das ist erst mal so ein unverbindliches Vorgespräch?« Vielleicht erreichte ich mit der Blond-hübsch-naiv-Masche etwas bei dem Mann? Oder war ich schon unsichtbar?

»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass wir hier gerade die Scheidung einreichen, und zwar mit allen Konsequenzen«, blaffte der Anwalt. »So. Und was sind die Uhren hier wert? Die Bilder? Die Instrumente?«

Bei diesen Worten hätte ich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen und geheult. Es gab kein Zurück mehr, die Sache war schon am Laufen!

Kobalik wusste alles bis ins Detail. Er war mit Feuereifer bei der Sache. »Hier war ick sogar bei der Versteigerung dabei, da hat er den Orientteppich runterjehandelt. Und det Bild da …«

Ich wollte das alles gar nicht hören! Die Bilder gehörten hierhin, genau wie die Kinder und ich. Und Christian! Es sollte alles so bleiben, wie es war!

Wolfgang Kobaliks brummige Kumpelstimme drang beschwörend an mein Ohr. »Du kannst jetzt keinen Rückzieher mehr machen, Kleene. Det is wie vom Zehnmeterbrett springen. Nase zu und durch!«

Ich musste Grenzen setzen. Das hätte ich viel früher tun müssen. Entschlossen wirbelte ich herum. »Ich würde gern noch eine Nacht darüber schlafen«, sagte ich gefasst. »Morgen ist ja auch noch ein Tag.«

»Du lässt dich scheiden, Ende der Durchsage!« Ursula blieb hart.

»Wie lange WILLSTE dich denn noch verarschen lassen auf juht Deutsch«, wurde jetzt auch Wolfgang Kobalik böse. »Wir warn doch selber dabei, als dieser Sparkassenheini heulend bei dir anrief! Ham et ja mit eigenen Ohren gehört!« Er paffte sauer seinen Zigarrenqualm aus. »Da gibt’s nichts zu überlegen.«

Was MACHTE ich eigentlich hier? Am Ende eines Jahres, in dem Christian selten vorgekommen war, aber in dem ich alles hatte tun und lassen können, was ich wollte? Christian vor die Tür setzen, nur weil die Kobaliks ihr Heimkino brauchten? Das war doch alles eine Spur zu theatralisch. Ich versuchte mich zu entspannen, stellte das Glas ab und räusperte mich. Okay, immer mit der Ruhe! Eins nach dem anderen. Ich würde mit Herrn Steiner jetzt ein Gespräch unter vier Augen führen und dann ganz sachlich um Aufschub bitten. So eine Entscheidung will schließlich gut überlegt sein. Aber als ich seine kalten grauen Augen sah, schwand mir der Mut. Hilflos schaute ich aus dem Fenster. Da draußen vor unserer Terrassentür waren noch Christians Spuren im Schnee zu sehen. Neben den Bremer Stadtmusikanten. Sie führten rund um das Haus. Irritiert war er im Kreis gelaufen und hatte die ganze Nacht geklopft und sein Handy bemüht. Die Spuren führten auch zum Nachbarhaus und verloren sich dann im frisch gefallenen Schnee. Diesen kleinen Denkzettel gönnte ich Christian schon, wollte es aber dabei bewenden lassen. Also. Punkt. Gut. Bis hierher und nicht weiter. Es würde keine Scheidung geben. Das musste ich jetzt hier ein für alle Mal klarstellen. Ich räusperte mich. Freunde, geht nach Hause!, hätte ich am liebsten gesagt. Hier gibt’s nichts mehr zu sehen.

Alle drei starrten mich an. Steiner stand die nackte Geldgier ins Gesicht geschrieben. Er hatte nicht das geringste Interesse, die Sache auf sich beruhen zu lassen! Ich merkte, wie mir die Tränen kamen. Die Kobaliks hatten mir eingeschärft, ja DANKBAR zu sein, dass er den weiten Weg von Kitzbühel nach Wien auf sich genommen hatte. An Silvester, weil es sich um so einen DRINGENDEN FALL handelte. Nur durch IHRE BEZIEHUNGEN und eine erhebliche Anzahlung sei dieser Ausnahmetermin zustande gekommen. Ich räusperte mir die Angst von der Kehle. »Wie gesagt, ich würde gern noch eine Nacht drüber schlafen. Ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen und eure natürlich auch.«

Mein flackernder Blick traf drei absolut entsetzte Augenpaare.

»Der Majista ist über dreihundert Kilometer gefahren«, rief Wolfgang entrüstet. Seine Stimme klang so kalt, wie ich sie noch nie gehört hatte.

»Also, ich bin nicht zum Vergnügen hier und habe für Sie extra die Silvesterparty in Kitzbühel abgesagt«, sagte der Anwalt knapp. »Somit sind bereits erhebliche Kosten angefallen. Wenn Sie jetzt einen Rückzieher machen, kommt Sie das teuer zu stehen.«

»Ich weiß, dass du eine äußerst loyale Ehefrau bist.« Wolfgang Kobalik zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. »Niemand zweifelt daran. Und es ehrt dich, dass du deinen Christian immer noch verteidigst.«

Ich biss mir auf die Lippe. Ich verteidigte ihn ja gar nicht! Ich wollte mich nur nicht sofort scheiden lassen! Da musste es ja noch ein Zwischending geben! Wie sollte ich das nur meinen Mädchen beibringen? Die würden doch aus allen Wolken fallen! Mein Puls hämmerte mir in den Ohren. Wollte mich denn niemand verstehen?!

»Dabei hat er dich gar nicht verdient«, zischte Ursula Kobalik. »Nicht für fünf Pfennige! Der Lauser!«

»Ich bin ein sehr guter Menschenkenner«, redete Wolfgang Kobalik weiter, wobei er allerdings den Anwalt und nicht mich ansah. »Unsere Anita hat immer alles geduldet und ertragen, sich perfekt um die Kinder gekümmert. Ihre eigenen Interessen hat sie janz verjessen …Und jetzt, wo ihre Schönheit fast verblüht ist …«

Bitte? Was faselte er denn da? Wie in Trance sah ich in den Spiegel. Ich war doch noch schön! Na gut, ich sah verheult und übernächtigt aus und hatte Ringe unter den Augen – also ehrlich gesagt, ich sah genauso beschissen aus, wie ich mich fühlte.

»Also, wenn wir noch heute die Scheidung beim Amtsgericht einreichen, gilt noch das alte, für Sie günstigere Scheidungsrecht. Das ginge …«, der Anwalt sah auf seine Rolex, »bis zwölf Uhr mittags per Blitzantrag.«

»Det machste!«, zischte Ursula. »Wärst du ja schön blöd, wenn du det nicht mitnimmst.«

»Außerdem sollten wir noch heute beantragen, dass Ihr Exmann sich dem Haus auf hundert Meter nicht mehr nähern darf. Wegen Gefahr der Gewalttätigkeit.« Er klickte ohrenbetäubend mit dem Kugelschreiber.

Wolfgang Kobalik nickte missbilligend, so als hätte er schon oft erlebt, wie ich hier von meinem gewalttätigen Mann misshandelt worden war.

»Aber er ist doch gar nicht gewalttätig!«, flüsterte ich.

»Also, ick happn Foto von dir, da haste ’n blauet Auge drauf«, sagte Wolfgang Kobalik mit einem Unterton, den man sonst bei Gangstern im Fernsehen hört.

»Prima, das legen wir dem Antrag bei«, sagte der Anwalt erfreut.

Ich wandte den Blick ab und überlegte fieberhaft, was das für ein Foto sein konnte. Meinten sie etwa … Schlagartig fiel mir die Karnevalsparty letztes Jahr ein, bei der ich als Piratenbraut gegangen war. Da hatte ich mir allerdings ein dickes Veilchen um das Auge gemalt. Ich merkte, wie mein ganzes Gesicht zu brennen begann.

Wolfgang hatte das Foto tatsächlich schon angeklickt und zeigte es dem Anwalt. »Is det ’n Veilchen? Wa?!«

»Das drucken Sie mir aus, aber vorher retuschieren Sie noch den Hintergrund«, sagte der Anwalt abgebrüht.

»Klar!«, erwiderte Wolfgang Kobalik und steckte sein Smartphone gespielt beiläufig wieder in die Hosentasche. »Kein Problem.«

Verwirrt starrte ich ihn an.

»Gut wäre natürlich, wenn Sie als Zeugen vor Gericht auftreten«, fuhr Steiner fort. »Und den Vorwurf der Gewalttätigkeit untermauern.«

»Det machen wa doch gerne. Wa, Uschi!« Wolfgang rieb sich erfreut die Hände.

»Haben Sie vielleicht mal Schreie gehört oder so was?«

»Ja. Auf jeden Fall. Aber dann stellt der Mann immer die Musik laut.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf und hielt den Atem an. Bitte? Was? »Aber das stimmt doch gar nicht …« Ich wirbelte herum und starrte ihn an.

Wolfgang Kobalik verdrehte genervt die Augen, so als wollte er sagen: Die kapiert aber auch gar nichts!

»Na ja, wir sind ja ständig hier und kümmern uns um das arme Mädchen«, sagte Ursula Kobalik und legte ihren Arm um meine Schulter. »Sie ist ja so tapfer! Hier!« Einer plötzlichen Eingebung folgend hob sie triumphierend meinen Arm und zeigte dem Anwalt einen blauen Fleck am Unterarm, den ich mir beim Aufräumen des Küchenschranks zugezogen hatte. Die Schranktür war zugefallen und hatte mir den Arm eingeklemmt. Uschi Kobalik hatte noch ein paar Eiswürfel daraufgedrückt, bevor sie den Rest in ihren Weißwein hatte plumpsen lassen.

»Mit einem stumpfen Gegenstand hat er sie geschlagen!«, empörte sie sich mit einem Gesichtsausdruck, als glaubte sie wirklich an ihre Version der Geschichte.

Ich starrte sie fassungslos an. »Aber das war ich doch selbst!«, flüsterte ich matt. »Ein Haushaltsunfall!«

»Det sagen se alle!«, brummte Kobalik mit Grabesstimme und winkte ab. »Alle sind se die Treppe runtergefallen und haben sich gestoßen.«

Ursula seufzte theatralisch und zog mich an sich. Ich versteifte mich unwillkürlich. Sie log zwar in meinem Interesse, aber das ging mir doch gegen den Strich.

»Das typische Opfersyndrom«, sagte der Anwalt nickend und hämmerte wieder in die Tasten. »Da hilft nur eines: eine sofortige Anzeige.«

Ich fasste mir mit den Händen an den Kopf. »Er hat mich nicht geschlagen«, flüsterte ich verzweifelt.

»Auf jeden Fall schlägt er dich mit Worten«, sagte Ursula Kobalik. »Mit Abwesenheit. Und mit Untreue. Jahrelang. Det sind seelische Verletzungen, die noch viel tiefer gehen.«

Ich konnte kaum glauben, dass sich Tatsachen tatsächlich so sehr verdrehen ließen!

Der Anwalt nickte ernst. »Seelische Grausamkeit wiegt vor Gericht genauso schwer.« Er sah mich eindringlich an. »Am besten zieht natürlich beides. Der blaue Fleck am Arm ist ein echtes Beweismittel. Aber man muss jetzt rasch handeln. Also noch heute.«

»Wir sollten dem Mädchen klarmachen, dass sie sich jetzt dringend absichern muss«, sagte Wolfgang Kobalik und fasste den Anwalt am Arm. »NOCH ist der Mann Soloflötist bei den Wiener Philharmonikern. Aber so wie der seine Dienste vernachlässigt und sich in der Weltgeschichte rumtreibt, kann sein Stuhl auch ganz schnell wackeln. Da können wir Freunde und Förderer ein Lied von singen.«

»Ja, und da haben wir nämlich auch ein Wörtchen mitzureden!«, krähte Ursula triumphierend. Ihre Augen begannen zu glänzen. »Wenn sich einer moralische Verfehlungen erlaubt und dem Ansehen des Orchesters schadet …« Sie war ganz rot geworden vor Eifer.

»Also immerhin hat er Unzucht vor Minderjährigen getrieben, oder wie war das in der Musikschule?« Wolfgang Kobalik wurde nachdenklich. »Wenn uns schon der Sparkassenleiter dieser Kleinstadt anruft und sagt, dass der Saukerl im Parkhaus eine Lehrerin und Mutter verführen wollte, ist Schluss mit lustig. Das muss dem Orchestervorstand eigentlich gemeldet werden!«

»Ja, Mädchen, jetzt unterschreib det!«, drängte mich Uschi.

»Denn bald ist die schöne Kohle weg, die unserer Anita hier ihr schönes Leben garantiert«, sagte Wolfgang mit tiefem Bedauern. »Und die lieben Kinder erst. Was das für ne Umstellung für die wäre, wenn se det schöne Haus nicht mehr hätten.«

Irgendwie war mein Gehirn wie leer gefegt. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Kugelschreiber. Ihre negative Energie zehrte mich völlig aus. Würden sie von mir ablassen, wenn ich jetzt unterschrieb?

»Außer, du sicherst dich jetzt ganz schnell ab.« Wolfgang schnaufte vor Ungeduld.

»Det is deine Pflicht als Mutter!« Ursulas Wangen waren zornesrot.

Mit einem riesigen Kloß im Hals nahm ich mechanisch den edlen Kugelschreiber entgegen, den der Anwalt mir reichte.

»Da, wo das Kreuzchen ist.«

Hilfe suchend sah ich mich um.

»Also, was ist? Du musst jetzt an dich und die Kinder denken!«

Bei der Vorstellung, ich wäre wirklich auf mich allein gestellt, wurde mir schwindelig. Was, wenn Christian doch vorhatte, mich zu verlassen? Wie sollte ich uns dann durchbringen?

»Ja«, flüsterte ich. »Wie ihr meint.«