ANITA
Nebenan schepperte das Gartentor. Ich schluckte und wagte nicht aufzublicken. Mist! Da kam Ursula Kobalik aus der Nachbarvilla angestapft. Sie würde doch jetzt nicht … Warum musste sie denn immer … Ja, hatte die denn überhaupt kein … Da war sie schon.
»Wo ist er denn mal wieder, dein treuer Göttergatte?« Meine resolute Nachbarin aus der Villa schräg oberhalb unseres Hauses kam durch die offen stehende Terrassentür herein und steckte ihre Nase neugierig in meinen Kühlschrank. Ganz so, als würde Christian sich dort vor ihr verstecken!
Ich sah sie ratlos an. »Kann ich dir behilflich sein?« Irgendwie störte es mich, dass die robuste Ursula so tat, als gehörte ihr das Haus. Sie war meine Nachbarin, hielt sich sicherlich auch für meine Freundin. Aber wann hatte ich eigentlich vergessen, sie darauf hinzuweisen, dass es auf der Hausvorderseite auch eine Klingel gab?
»Hast du keinen Champagner da?«
»Doch, natürlich«, erklärte ich würdevoll. »Hier.« Ich öffnete den Getränkekühlschrank, der in die Bar integriert war. »Dom Perignon oder Moët & Chandon?« Ich drehte mich um und holte tief Luft. Ich würde sie ohnehin nicht so bald wieder loswerden, also konnte ich sie mir auch schöntrinken. »Ich hätte hier auch noch eine Piper Heidsieck, die hat Christian von einem Konzert mitgebracht. Oder einen ganz ordinären Mumm, den hat ihm eine Schülerin nach einem Meisterkurs geschenkt.« Irgendwie schaffte ich es, mir ein strahlendes Lächeln abzuringen.
Ursula lehnte sich erfreut an die Arbeitsplatte und rieb sich die Hände. »Och, gib mal her, was offen ist.« Dann ließ sie sich mit ihrem ausladenden Hintern auf einen Barhocker sinken und sah sich suchend um: »Ist er wieder auf Konzerttournee?«
»Ja, was denkst denn du!« Ich seufzte. »Einen Tag vor Heiligabend ist mein lieber Mann leider immer noch unterwegs.«
»Und du Arme musst hier ganz allein den Weihnachtsbaum aufstellen?«
»Also, wenn Christian bis morgen Vormittag nicht zurück ist …« Ich schenkte der neugierigen Ursula ein Glas Champagner ein und prostete ihr zu. »Fröhliche Weihnachten jedenfalls.«
»Du, ich schick dir meinen Jarek rüber, der macht das!« Im Nu hatte Ursula Kobalik ihr Handy aus den Untiefen ihrer kaschierenden Gewänder gezogen und schrie hinein: »Jarek, wenn du bei uns drüben fertig bist, kommst du gleich rüber zu Frau Meran und stellst ihr den Baum auf! Aber zieh dir vorher die Stiefel aus, ihr Parkett ist schon geputzt!«
Sie grinste mich triumphierend an und leerte ihr Glas auf einen Zug. »Wer ist denn deine Putzfrau? Die ist ja wirklich klasse!«
»Also, ehrlich gesagt, habe ich das selbst gemacht.«
»Spinnst du? Du putzt selbst?«
»Na ja, meine letzte Perle hat mich verlassen.«
»Wieso hat die dich verlassen?«
Ursula Kobalik stützte die Hände in ihre massigen Hüften und sah mich an wie ein General einen kleinen Gefreiten, der nicht anständig gegrüßt hatte. Für den Moment schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben.
»Sie hat geheiratet«, entschuldigte ich meine treue Perle Annegret. »Ihr Mann möchte nicht, dass sie putzt.«
»Was ist denn das für ein eingebildeter Schnösel?« Wütend steckte sich Ursula eine Zigarette an und qualmte mir die Küche voll. »Den Leuten geht’s einfach zu gut!« Auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken. Erneut wühlte Ursula Kobalik nach ihrem Handy und schnauzte hinein: »Olga? Du kommst mir bitte zum Putzen! Nein, nicht bei mir, sondern bei meiner Nachbarin, Frau Anita Meran! Die hellgelbe Villa rechts neben uns! Du weißt schon, die mit den Bremer Stadtmusikanten im Garten!«
Die Skulptur war ein Geschenk der Kobaliks gewesen. Zum Einzug. Sie fanden das stilvoll. Die Bremer Stadtmusikanten aus Marmor. Weil Christian ja Flötist war.
»Aber ich brauche gar nicht unbedingt …«
»Pscht!« Ursula Kobalik legte ihren Finger auf die Lippen und bedeutete mir, sie nicht zu unterbrechen. »Ich weiß, dass morgen Heiligabend ist!«, schnauzte sie weiter ins Handy. »Aber diese arme Frau wurde von ihrer Putzfrau verlassen! Ja, was soll sie denn da machen! Was? Ja, meinetwegen, bring deine Schwester mit. Aber nur für den groben Dreck, den Rest machst du.« Triumphierend hielt sie mir ihr Glas hin, das ich gleich wieder füllte. »Hunde und Putzfrauen«, sagte sie zufrieden, »brauchen den gleichen klaren Ton.«
Moment mal! Wieso organisierte Ursula Kobalik mein Leben? Ich hatte sie schließlich nicht darum gebeten! Mir fiel kurzfristig keine Antwort ein. Ich legte den Kopf schräg wie ein Hund oder vielleicht auch wie eine Putzfrau, die nicht genau verstanden hat, was sie tun soll.
»Es soll doch alles wunderschön sein, wenn dein Mann wiederkommt!« Ursula Kobalik grinste breit, sodass ich einen Blick auf ihre weiß gebleichten Zähne werfen konnte. Mütterlich tätschelte sie mir die Schulter: »Du brauchst doch morgen Zeit, dich selbst schön zu machen. Also nicht, dass du nicht schön WÄRST! Aber ich wette, für deinen Christian machst du das ganze Programm: Beine rasieren, Duftmaske, Maniküre, Pediküre, Haare schön, Möpse schön …« Sie lachte fett.
»Ach, Ursula!« Ich lachte auch. Was blieb mir auch anderes übrig? »Meinst du, das mache ich nur an Weihnachten und Ostern?«
»Nee. Ick weeß ja, dass de früher mal Model warst.« Wenn Ursula Kobalik ihre Vornehmheit vergaß, verfiel sie wieder in ihren Berliner Dialekt. »Und ’n Topmodel gleich dazu! Wenn ick heute die Heidi Klum und diese kleenen ordinären Jänse im Fernsehen sehe, denn denk ick imma, die hätten mal die Anita sehen sollen, als se jung und ledig war, wa!«
Sie lachte, dass ihr Doppelkinn schwabbelte. »Na ja, und jetzt sind deine Gören schon so hübsch wie de Mutta, wa! Die Große hat ja ’n Buuuusn! Det is ja der Hamma!«
Sie warf einen Blick auf unseren Konzertflügel, auf dem die gold gerahmten Fotos von unseren Töchtern standen: Grazia, die gerade strahlend ihren Golfpokal entgegennahm, und Gloria, die ganz verliebt ihr Pferd streichelte. »Wo sind se denn, die zwee Küken?«
»Bei ihren Freunden«, sagte ich lahm. »Vorglühen.«
»Wat issn det?« Ursula Kobalik nahm die Champagnerflasche und bediente sich einfachheitshalber selbst.
Das, was du gerade tust!, dachte ich leicht genervt. Aber ich traute mich nicht, das zu sagen. Ursula meinte es gut, das wusste ich, und sie hatte es auch nicht gerade leicht mit ihrem Wolfgang. So kam sie immer mal wieder auf ein Schwätzchen vorbei. Leider ging sie nie freiwillig. Ich musste mir immer einen Trick einfallen lassen, um sie wieder loszuwerden. Sie zog fragend eine Braue hoch, sodass ich mich gleich wieder wie in der Schule fühlte. Ein bisschen ertappt irgendwie.
»Wat machen die Mädels?« Ihre Stimme hatte einen entrüsteten Unterton.
»Sie trinken sich warm«, erwiderte ich lasch. »Für eine Party.«
»Und det erlaubste?!«
Ich kniff die Lippen zusammen. »Sie sind sechzehn und vierzehn, also was soll ich ihnen da noch verbieten? Außerdem vertraue ich ihnen.«
»Aba Sex ham se keenen, wa?!«
»Natürlich nicht«, erwiderte ich hastig. Also, alles musste Ursula Kobalik ja nun auch nicht wissen! Wenn sie allerdings weiterhin scheinbar zufällig sämtliche Schubladen öffnete, wie sie das gern beim Plaudern tat, würde sie bestimmt noch die Pille meiner Ältesten finden. Die ließ sie nämlich völlig ungehemmt überall herumliegen, genau wie ihren Nagellack, ihre Stringtangas und ihre Hygieneartikel. Wir waren ein moderner Frauenhaushalt – warum auch nicht? Deswegen störte es mich auch so, dass gleich ein fremder Jarek und morgen eine fremde Olga hier anrücken würden, um »unseren Dreck wegzumachen«. Das konnten wir selbst. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben: ICH selbst. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.
»Das wäre auch fatal, wenn du jetzt schon Großmutter würdest«, sagte Ursula Kobalik und nahm das Foto von Christian und mir von der antiken Truhe, auf dem wir mit der Fürstin Seyn oder nicht Seyn auf dem Wiener Opernball zu sehen waren. »Dann hätte det schöne Leben hier ein Ende.«
»Aber Ursula, wo denkst du hin!« Ich schenkte ihr erneut das Glas voll, während ich immer noch beim ersten war.
»Ick wünsch dir jedenfalls nich so ’n überfressenen Enkel, wie ick een hab.« Ursula prostete mir fröhlich zu. »Meine Tochter hat sich gerade scheiden lassen, und nun steht se mit ihrem dicken Bengel quasi auf der Straße. Jetzt müssen wir ein Haus für sie finden.« Sie winkte ab, als sei das kein Thema für mich. »Und wo isser nu, der schöne Christian?« Ursula Kobalik musterte mich kontrollsüchtig.
»In irgend so einem Kaff namens Heilewelt«, sagte ich matt. »Da gibt er heute Abend noch ein Konzert in einer Musikschule.«
»Wat? In so einem Provinznest? Hat der det nötig?« Fragend rieb Ursula Kobalik Daumen und Zeigefinger aneinander. »Geht es euch etwa so schlecht?«
»Quatsch! Er fand den Namen lustig. Heilewelt.« Ich leerte hastig mein Glas. »Erst dachte ich, den Namen hat er sich nur ausgedacht, um mich zum Lachen zu bringen. Du weißt ja, wie Christian ist.«
»Na klar. Immer ’n lockeren Spruch auf den Lippen.«
»Aber es gibt diesen Ort wirklich. Und da er auf dem Weg lag, dachte er, er tut noch was Gutes.«
»Aha«, sagte Ursula Kobalik. »Na, Hauptsache, der Lauser kommt morgen pünktlich zum Fest.«
Der Lauser! Ich schluckte trocken. Aber sie war nun mal eine typische Berlinerin mit Kodderschnauze. Die reden so. Sie meinte es nicht böse, also überhörte ich es einfach.
»Natürlich«, sagte ich resigniert und hielt fragend die leere Flasche hoch. »Sollen wir noch eine aufmachen?«