ANITA
»Du hast … WAS?« Grazia riss fassungslos die Augen auf und starrte mich wie betäubt an.
»Ja. Gestern. Der Anwalt war schon da.«
»Wie … wieso?« Grazias Augen waren untertassengroß. Ihr Kinn zitterte.
Ich schluckte.
»Wir … Wir haben uns auseinandergelebt.« Ich blieb stocksteif sitzen. Mir wurde schwindelig, und kleine Sterne tanzten vor meinen Augen.
»Spinnst du, Mama?«, drang Grazias Stimme schrill an mein Ohr. »Was soll der SCHEISS?!«
»Ich weiß, dass das für dich überraschend kommt«, stieß ich hervor. Ich presste meine Hände gegen die Schläfen. Ich konnte nicht länger still sitzen. Mühsam rappelte ich mich aus dem Sessel auf und begann nervös im Zimmer auf und ab zu laufen, wobei ich mir zum ersten Mal im Leben eine Zigarette ansteckte. Meine Finger zitterten bei dem Versuch, ein Streichholz zu entzünden. Ursula hatte sie liegen lassen. Eingehüllt in den Rauch drehte ich mich zu ihr herum: »Es gab da ein Telefonat von einem Herrn von der Sparkasse …«
»Hat Papa Schulden gemacht?« In Grazias Gesicht stand die nackte Panik.
»Nein.« Der beißende Rauch fraß sich in meine Augen und Stimmbänder.
»Was hat ein Sparkassentyp mit eurer Scheidung zu tun?!« Grazia funkelte mich fassungslos an. »Wieso rauchst du plötzlich?« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Bist du in den Wechseljahren oder was? Ich verstehe die ganze Sache nicht!«
Mir wurde ganz schwindelig von der Zigarette. Hilflos wedelte ich den Qualm weg. »Der Sparkassenmensch wollte mich vor deinem Vater warnen.«
»Wieso denn das? Du kennst Papa doch wohl besser als der Sparkassenmensch!«
»Nein, der Sparkassenmensch wollte seine Frau vor deinem Vater warnen.«
»Warum hat er dann DICH angerufen?«
»Er wollte irgendwie sichergehen, dass Papa ihm nicht gefährlich wird. Wir haben dann viel länger mit ihm telefoniert als beabsichtigt.«
»Wer ist wir?«
»Die Kobaliks und ich.«
»Mama? Das klingt, als hättest du nicht mehr alle!«
»Er wollte wissen, was dein Vater für ein Mensch ist.«
»Häh? Mama, echt jetzt! Bist du auf Koks?«
»Er hat erst mich und dann die Kobaliks gefragt.«
»Die Kobaliks. Gefragt. Was Papa für ein Mensch ist.«
Das musste wirr klingen. Sehr wirr. Und völlig zusammenhanglos. »Ja. Er brauchte eine Auskunft.« Ich rieb mir über die Stirn. »Er hat an Heiligabend hier angerufen, gestottert und geweint, dass sein Weihnachtsfest verdorben sei, weil Christian seine Frau geküsst hat. Aber meines war daraufhin auch verdorben, das kannst du mir glauben …«
»Papa hat die Frau von einem Sparkassenheini geküsst. Aber Mama, jetzt mal im Ernst: Du weißt doch, dass diese Musiker sich dauernd irgendwie küssen!«
»Ja, aber er meinte, dass seine Frau naiv ist und leicht beeinflussbar. Und dass sie sich in Papa verknallt hätte und mit ihm leben will oder so ähnlich.«
»Wie ist der Typ überhaupt an deine Nummer gekommen?«, unterbrach mich Grazia.
»Auslandsauskunft.«
Grazia verzog das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse. »Das hört sich an, als wärt ihr alle voll krass in der Pubertät. Echt!«
Sie musste die Wahrheit wissen. Ich konnte einer Sechzehnjährigen nichts von Bienchen und Blüten erzählen. Sie ließ nicht locker. »Also.« Ich setzte mich wieder hin und nahm Grazias Hand, die sie mir allerdings sofort wieder entzog. »Der fremde Anrufer hat den Papa beschuldigt …«
»Wieso FREMDER Anrufer? Warum hast du nicht sofort aufgelegt?«
»Nein, er hat seinen Namen gesagt. Immekeppel. Von der städtischen Sparkasse in Heilewelt.«
»Mama, bist du sicher, dass du das nicht alles nur geträumt hast?« Grazias Stimme klang auf einmal besorgt. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.
Ich rückte näher an sie heran, hoffte Zugang zu ihr zu finden. Sie musste doch irgendwie verstehen, dass ich gute Gründe hatte, wenn ich die Schlösser austauschte! »Dieser Herr Immekeppel war sehr freundlich und höflich und hat sich tausendmal entschuldigt, dass er mich an Weihnachten stört. Er machte einen wirklich seriösen Eindruck, glaub mir!« Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und lehnte mich zurück. »Jedenfalls hat er mir beziehungsweise den Kobaliks erzählt, dass der Papa im Treppenhaus zur Tiefgarage eine Musiklehrerin geküsst hat.«
»Das sagtest du bereits.«
»Eine Rothaarige mit Brille.«
»Eine Rothaarige mit Brille. Wie ist der Papa denn drauf!«
»Na, das war jedenfalls seine Frau oder Lebensgefährtin oder so.« Ich kratzte mich am Kopf. »Ja. Und dann habe ich die Scheidung eingereicht.«
»Mama, was hast du getrunken?« Grazia hob eine leere Rotweinflasche auf, die unter den Sessel gerollt war. Jetzt klang sie noch unangenehmer berührt als vorher.
»Es war Silvester«, verteidigte ich mich. »Wer trinkt da nicht?«
Grazia hatte den Kopf von mir abgewandt, die Schultern hochgezogen und die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt.
Wie erklärt man seinem Kind die Zusammenhänge, ohne wie eine paranoide Irre zu klingen?
»Mama, hast du jetzt ernsthaft die Schlösser ausgetauscht?«, wollte sie fassungslos wissen. »Du hast es also bewusst drauf angelegt, dass der Papa in der Kälte steht. Und nicht weiß, was Sache ist.«
Ich schaute in ihr strenges Gesicht. »Äh, es war eine schwere Entscheidung«, brachte ich schließlich verlegen hervor. »Die Kobaliks haben mir ganz toll beigestanden.«
Grazia ließ sich auf den Fußboden plumpsen, so geschockt war sie. »Was ist das für eine bescheuerte Scheiße?«
»Liebes, wir wollten doch solche Wörter nicht …«
Sie verdrehte die Augen. »Was haben die Kobaliks damit zu tun? Wieso mischen die sich eigentlich in deine Ehe ein? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«
»Ich wollte dir deine Silvesterparty nicht verderben.« Ich klopfte neben mich auf das Polster: »Komm, meine Große, setz dich mal her.«
Grazia rappelte sich verdutzt auf und ließ sich neben mich sinken. »Mama, ich hoffe, dass das alles nur ein blöder Scherz ist, weil sonst …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wüsste nicht, zu wem ich halten soll!«
»Grazia, das tut jetzt sehr weh, aber es ist besser für uns alle«, versuchte ich es noch einmal. »Und ich hoffe doch, du weißt, zu wem zu halten sollst …« Ich biss mir auf die Lippe.
»Die Kobaliks halten ja schon mal zu dir!«
»Die Kobaliks waren Zeugen des Telefonats und haben gehört, was der Papa diesem armen Mann angetan hat«, sagte ich verzweifelt.
»Aber Mama, der hat sie doch nicht alle, dass der dich anruft!«, rief Grazia mit glühenden Wangen. »Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, hat er Papa bei dir verpetzt?! Was ist denn das für ein Weichei?« Grazia schnaubte vor Verachtung.
Mir wurde ganz mulmig. Ja, das war ja auch mein erster Gedanke gewesen. »Aber bei der Gelegenheit haben die Kobaliks mir eben auch erzählt, dass der Papa ständig fremdgeht«, rutschte es mir heraus. »Mit einer Schauspielerin und deren Schwester, mit einer Fernsehansagerin oder war es eine Sängerin?« Meine Kopfschmerzen brachten mich schier um. »Sie waren ja immer dabei auf den Dienstreisen, während ich bei euch geblieben bin und von alldem nichts mitbekommen habe …« Ich verstummte und schlug mir die Hände vor das Gesicht. »Die Kobaliks haben gesagt, sie wollten mich schonen und haben mir deshalb jahrelang nichts gesagt. Aber jetzt ist das Maß voll!«
»Mein Gott.« Grazia war schockiert. »Ich hatte ja keine Ahnung! Papa hat dich jahrelang betrogen? Und die Kobaliks wussten davon? Mama, das muss schlimm für dich gewesen sein!« Auf einmal strich sie mir ganz sanft über das Haar. »Dass er dir das angetan hat … Das ist echt nicht fair!«
»Die Kobaliks haben mir die Augen geöffnet«, antwortete ich mit erstickter Stimme. Jetzt rannen mir doch die Tränen in Sturzbächen aus den Augen, und Grazia weinte gleich mit.
»Wir kriegen das irgendwie hin«, schluchzte Grazia. »Wir müssen jetzt einfach nur zusammenhalten.«
Ich nickte und schluckte einen riesigen Kloß herunter. »Wichtig ist nur, dass wir ab sofort nicht mehr mit Papa sprechen und ihn nicht mehr ins Haus lassen. Der Anwalt hat mir eingeschärft, dass jetzt alles haargenau so laufen muss, wie er das anordnet.« Ich zog die Nase hoch und suchte nach einem Taschentuch. »Wenn wir uns an seine Spielregeln halten, können wir das Haus behalten und unseren Lebensstandard auch. Und das willst du doch, oder?«
Grazia nickte stumm.
»Darf ich auch nicht mehr mit dem Papa reden?«, fragte ein dünnes Stimmchen.
Oh Gott, auf dem Treppenabsatz stand Gloria. Sie war leichenblass und starrte uns entsetzt an. Wie lange stand sie schon da? Was hatte sie mitgehört?
»Auch nicht am Telefon? Er hat mich nämlich gerade angerufen! Er will wissen, was los ist!«
»Die Eltern lassen sich scheiden«, schluchzte Grazia. »Weil der Papa fremdgegangen ist.«
Gloria rannte die Treppe herunter. Wir lagen uns alle drei weinend in den Armen und waren ein einziges, zitterndes Häufchen Elend.