ANITA

Die Kobaliks hatten es sich nicht nehmen lassen, uns in das schönste Hotel mitten in der Einkaufsmeile im Hanse-Viertel einzuquartieren. Wir hatten eine Juniorsuite im Renaissance-Stil. Da es draußen bitterkalt war, blieb uns nur das Indoorprogramm. Die Kinder fanden es toll, dass eine riesige H&M-Filiale direkt gegenüberlag, in der wir natürlich ausgiebig verweilten. Als ich keine Lust mehr hatte, als lebender Kleiderbügel vor den Umkleidekabinen herumzustehen, gab ich ihnen einfach Christians Kreditkarte und ging zurück ins Hotel, wo ich trübsinnig auf dem Bett lag und wahllos durch die Fernsehkanäle zappte. Wie so oft in letzter Zeit überkamen mich Frust und Weltschmerz. Selbstzweifel plagten mich: Hatte ich wirklich alles richtig gemacht? Ich wollte mir nicht ausmalen, wie unser Leben ohne Christian weitergehen würde! Diese Verkäuferinnen dort! Waren das auch geschiedene Frauen, die sich nun ihren Lebensunterhalt damit verdienten, achtlos hingeworfene Klamotten aufzuheben und wieder auf Bügel zu hängen? Mir wurde ganz anders. Hatte ich Christian zu überstürzt aus unserem Leben verbannt? Hatte ich überhaupt selbst gehandelt oder eher die Kobaliks handeln lassen? Aber es war alles so schnell gegangen! Andererseits: Sie wollten nur mein Bestes. Natürlich konnte ich Christians Dauerbetrug nicht einfach auf mir sitzen lassen. Aber warum hatten sie mir keine Chance gegeben, noch einmal mit ihm zu reden? Schließlich waren mir sämtliche Fremdgehereien nur aus dem Mund der Kobaliks zu Ohren gekommen. Und dann war da natürlich noch der merkwürdige Anruf von diesem Schildbürger Immekeppel aus Heilewelt gewesen, mit dem alles begonnen hatte. Je länger ich darüber nachdachte, desto fragwürdiger kam mir das Ganze vor. Was hatte dieser Übereifrige eigentlich bezwecken wollen, als er mich an Weihnachten angerufen hatte? Meinen Mann sollte ich »zurückpfeifen«. Er hatte über Christian geredet wie über einen Hund. Was für ein unsicherer Mensch musste das sein! Wie er gestottert hatte! Wie verklemmt er sich tausendmal für die Störung entschuldig hatte! Störung? ZERstörung! Ich überlegte, ihn noch einmal anzurufen, ihn zu fragen, was er eigentlich hatte erreichen wollen. Wissen Sie, dass ich die Scheidung eingereicht habe?, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Wissen Sie, dass mein Mann nicht mehr in sein Haus darf? Dass er im Hotel schläft? War es das, was Sie wollten, Herr Immekeppel? Ich habe ihn nicht zurückgepfiffen. Ich habe ihn in den Wind geschossen! Jetzt ist er wieder auf dem freien Markt. Passen Sie gut auf Ihre Frau auf, Herr Immekeppel! Hoffentlich haben Sie die wenigstens zurückpfeifen können. Aber lassen sich Frauen von heute eigentlich noch zurückpfeifen? Diese rothaarige Kleinstadttussi bestimmt. Auf dem Lande ticken die Uhren anders. Bei denen war das Familienglück sicher wieder intakt. Die Rothaarige hatte einen Schreck bekommen, und der Sparkassendirektor hielt wieder das Zepter in der Hand. Aber was würde aus uns werden? Aus mir? Ich wollte nicht darüber nachdenken.

Grazia und Gloria erlösten mich aus diesen quälenden Gedanken, als sie mit prall gefüllten Tüten ins Zimmer stürmten und mir ihre zahlreichen Klamotten vorführten. Ich war unendlich erleichtert, meine zwei quietschlebendigen, selbstbewussten Mädels wieder um mich zu haben. Mit einem Gläschen Sekt aus der Minibar veranstalteten wir eine verrückte Modenschau. Wenn ich meine Töchter sah, wusste ich, dass ich doch etwas richtig gemacht hatte.

Grazia zog wie ein schöner Schwan ihre Bahnen vor dem Spiegel. Natürlich hatte sie sich wieder nur Fetzen ausgesucht, die endlos ausgeschnitten waren.

Gloria stakste unbeholfen wie ein Storch in ihren neuen Klamotten und viel zu hohen neuen Schuhen im Zimmer auf und ab, knickte in den Hüften ein, wie sie es bei den Topmodels im Fernsehen gesehen hatte, und zog einen bemüht arroganten Flunsch. »Ach, Mami, ich sehe so beschissen aus!«

»Na, das hast du dir aber was kosten lassen!« Mit schreckgeweiteten Augen betrachtete ich die Rechnung, die sie mir mitsamt Christians Kreditkarte wieder aufs Bett geworfen hatten.

»Ach Quatsch, sie sieht nicht beschissen aus. Unsere kleine Drama Queen will nur von dir hören, wie hübsch sie ist!«, lästerte Grazia.

»Ihr seht beide toll aus«, beeilte ich mich zu sagen.

Grazia zwängte sich bereits mit wilder Entschlossenheit in eine Netzstrumpfhose, die noch auf der Reeperbahn übertrieben gewirkt hätte.

»Liebchen«, sagte ich sanft. »Wenn du schon oben Dekolleté zeigst, dann verhülle deine Reize wenigstens untenherum. Weißt du, dieses … ähm … Beinkleid sieht etwas zwielichtig aus.«

»Eh, Mama, du hast KEINE AHNUNG! Das ist jetzt absolut Mode, das tragen jetzt ALLE!«

»Aber es könnte Männern ein falsches Signal geben!«

»Das ist doch deren Problem, nicht meins!« Grazia wollte sich absolut nichts sagen lassen.

»Ach, Mami, ich weiß nicht, was ich heute Abend zum Musical anziehen soll!« Gloria warf bereits das dritte oder vierte Outfit frustriert auf den Boden. »Ich hab nur Scheiße eingekauft, ich bring das alles zurück! Ach, ich bin so hässlich!«

»Du willst dich bloß wichtigmachen«, patzte Grazia sie an. »Los, zieh jetzt das Teil an, das wir extra für heute Abend gekauft haben, und hör auf zu jammern!«

Irgendwie war ich fast dankbar, dass die beiden im wahrsten Sinne des Wortes stritten, dass die Fetzen flogen! Sie hatten mich wieder mal aus der Grübelfalle gerettet. Solange wir drei zusammenhielten, war alles gut. Am Ende saßen wir kichernd auf dem Bett und nippten an unseren Gläsern. Unter Gelächter und kleinen Gemeinheiten schminkten wir uns und fuhren schließlich mit dem Taxi zum Hafen, wo wir auf die gelbe Fähre stiegen, die uns über die brauntrübe Elbe brachte. Immer wieder musste ich mich zwingen, nicht an Christian zu denken, der genau in diesem Moment im Schneesturm seine Sachen von unserer Terrasse holte. Unter den strengen Blicken des Anwalts und den schadenfrohen Kommentaren der Kobaliks. Selber schuld, Christian! Du hast mich betrogen!, dachte ich trotzig und zog fröstelnd die Schultern hoch. Er hätte hier sein können. Aber er hatte die rothaarige Schildbürgerin geküsst. Und damit waren die Würfel gefallen. Ob Christian sich inzwischen auch einen Anwalt genommen hatte? Ob Christian sich wehrte? Ob er sich mit den Kobaliks anlegte? Womöglich würden sie handgreiflich werden? Schreckliche Bilder schoben sich vor meine Augen.

Christian, verzweifelt im Schnee stehend: »Lasst mich doch bitte noch mal mit meiner Frau reden! Ich weiß gar nicht, was überhaupt los ist!«

»Det kannste dir ja wohl denken!«

»Nein! Ich habe keine Ahnung, was ich auf einmal falsch gemacht habe! Weihnachten war doch noch alles in Ordnung!«

»Wir haben da so unsere Informanten.« Wolfgang Kobalik, breit grinsend, weil Christian nicht die geringste Ahnung hat.

»Was für Informanten? Worum geht es eigentlich?«

»Ick sage nur: Heilewelt.«

»Uschi, halt die Klappe.«

»Heilewelt? Ich war Heiligabend nicht früh genug zu Hause, um den Baum aufzustellen, aber das ist doch kein Grund, die Scheidung einzureichen!« Christian, blass und übernächtigt, sich fassungslos die Haare raufend. »Ich meine, ihr seid doch meine Freunde! Helft mir doch!«

»Ick sage nur … Immekeppel.«

»Uschi, du sollst die KLAPPE halten!«

»Ick sage nur: Parkhaus.«

»Uschi, noch EIN WORT!«

Christian, langsam begreifend, mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Sich suchend nach mir umdrehend. »ANITA! So lass uns doch wenigstens noch mal reden!«

»Da jipptet nüscht zu reden! Anita hat ihre Entscheidung getroffen!«

»Aber wo ist sie denn? Und wo sind die Kinder?«

»In Sicherheit.« Ursula Kobalik, eine undurchschaubare Miene aufsetzend. »Weit weg jedenfalls. Sie können dich nicht hören, sosehr du auch tobst. Du kannst hier alles kurz und klein schlagen, wenn du willst.«

Ein vorsorglich bestellter Fotograf, sich ungeschickt hinter der Hecke verbergend. Falls man Beweisfotos braucht, um Christian seinen Orchesterstuhl unter dem Hintern wegzuziehen. Die Kobaliks haben da so ihre Mittel.

»Was soll das überhaupt mit dem Vorwurf der Gewalttätigkeit?« Christian, wütend zu den Kobaliks herumfahrend. »Das Foto ist vom letzten Karneval, und das blaue Auge hat sie sich selbst gemalt!«

»Jetzt ist es aber genug mit dem privaten Geplänkel!« Wolfgang Kobalik, langsam ungehalten werdend.

»Machen Sie hinne, Mann, Ihre Stunde ist gleich abgelaufen!« Ralf Steiner, an seinem schwarzen Porsche lehnend, die Hände in den Manteltaschen vergraben.

»Aber Ralf, wieso siezt du mich denn wieder? Wir sind doch alte Golffreunde!«

»Von Freundschaft kann überhaupt keine Rede sein!« Ralf Steiner, sein Haifischgesicht ziehend, Dollarzeichen in den Augen: »Bis jetzt hast du mich im Golf geschlagen, aber jetzt schlage ich DICH!«

»Aber warum nur, Ralf, was habe ich dir getan?«

»Das steht hier nicht zur Debatte. Tatsache ist, dass deine Frau die Scheidung eingereicht hat und ich sie vertrete.« Ralf Steiner, in den Schnee spuckend.

Und im Hintergrund Jarek und Olga, auf Wolfgangs Kommando hin Christians Schreibtisch, seine Bildersammlung und seine persönlichen Wertsachen aus der Garage tragend.

Dann: Herunterfallende, kostbare antike Musikinstrumente, die im Schnee zerbersten. Ein lautes Scheppern, als die dicke Olga aus Versehen auf unser Hochzeitsfoto tritt, sodass das Glas splittert. Ich zuckte zusammen und verzog das Gesicht.

»Mami, träumst du?« Gloria wedelte mit den Händen vor meinem Gesicht herum. »Los, aussteigen, sonst fährt die Fähre wieder zurück!«

Dankbar verscheuchte ich die schrecklichen Bilder in meinem Kopf.

Das Musical-Zelt war hell erleuchtet und warm. Die Menschen strömten erwartungsvoll in den Saal. Beeindruckt ließen wir die Blicke schweifen. Es war wirklich kein einziger Platz mehr frei! Wir schoben uns im Gedränge ganz nach vorn. Kobaliks hatten uns Plätze in der dritten Reihe spendiert. Ich spürte die bewundernden und vielleicht auch ein wenig neidischen Blicke der Menge hinter uns. Eine Männerstimme hinter uns sagte anerkennend das Wort »Drillinge«. Ich drehte mich errötend zu ihm um. Ja, das tat gut. Ich gehörte doch noch nicht zum alten Eisen. Ich war noch nicht unsichtbar.

Und dann gaben wir uns drei Stunden lang dem afrikanischen Traum hin. Mitreißende Musik hüllte uns ein. Das Bühnenbild und die Kostüme waren eine Sensation. Mit welcher Liebe und Raffinesse die Fantasiewelt ausgestattet worden war! Giraffen staksten majestätisch vorüber, Löwen aalten sich auf ihrem Felsen, Hyänen kreischten, die buntesten Vögel schwirrten über unsere Köpfe hinweg, und erschreckt zuckten wir zusammen, als noch ein paar Dutzend überlebensgroße Tiere plötzlich laut brüllend durch die Gänge eilten!

Die Geschichte zog mich völlig in ihren Bann: Wie der fiese falsche Löwe den Kleinen täuscht, um selbst an die Macht zu kommen! Wie der kleine Naive ihm Glauben schenkt und sich in die Hyänengruft locken lässt! Wie der Vater zu Tode kommt, als er versucht, seinen Sohn zu retten! Mir liefen die Tränen über die Wangen. Sollte der fiese Hinterhältige etwa gewinnen? Der eigentliche König der Löwen wird in die Verbannung geschickt. Dort leidet er unter schrecklichen Schuldgefühlen, weil er glaubt, seinen Vater auf dem Gewissen zu haben, während der Fiese Land und Löwen in den Ruin stürzt. Erst ganz am Schluss finden sich die Liebenden, retten das Land und vertreiben den Bösen, der schließlich in seine eigene Falle stürzt und stirbt.

Tausend Menschen hatten feuchte Augen, als sie sich wieder auf die Fähre drängten. Ich war den Kobaliks unglaublich dankbar, dass sie uns eine so schöne Auszeit geschenkt hatten. Sie waren so großzügig und fürsorglich! Ja, sie wollten wirklich nur mein Bestes. Sie meinten es gut mit uns. Sie liebten mich wie eine Tochter. So wie ich meine Töchter liebte. Ich brauchte Christian nicht mehr. Ich hatte neuen Halt gefunden. Die Kobaliks waren jetzt mein Zuhause.