LOTTA
»Servus, wie geht’s?«
»Ähm … ich bin gerade nur etwas überrascht.«
In aller Hast hatte ich mich in Sophies Bademantel gehüllt und kauerte nun auf dem Fußboden. Die Beine waren mir regelrecht weggesackt. Sophie hatte mir Champagner nachgeschenkt und sich diskret zurückgezogen.
»Mir geht es ganz gut«, krächzte ich schließlich, als das Herzrasen sich so weit gelegt hatte, dass ich meine eigene Stimme wieder hören konnte. »Und selbst?«
»Nicht so gut«, sagte Christian mit einer mir seltsam vertrauten Stimme. »Meine Frau hat die Scheidung eingereicht, und ich bin meinen Job los.«
Mir zog sich der Magen zusammen. Grüne Sterne tanzten vor meinen Augen.
»Aber … warum denn das?« Das konnte doch nicht wahr sein! Doch nicht wegen … UNS! Oh Gott, Jürgen hatte sie angerufen. Er hatte gepetzt. Aber das sollte doch nur ein Warnschuss sein! Der war doch jetzt nicht etwa nach hinten losgegangen? Oh, bitte nicht!, dachte ich. Bitte sag, dass du nichts von diesem peinlichen Anruf weißt.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Christian, und beim Klang seiner Stimme kribbelte es in meinem Unterbauch, als hätte sich ein ganzer Ameisenhaufen dorthin verlaufen. »Seit Heilewelt ist meine Welt nicht mehr heil.«
»Die Wiener Philharmoniker haben dich … gefeuert?« Ich presste mir die Fäuste an die Schläfen. Das hatte mit mir nichts zu tun. Das KONNTE mit mir gar nichts zu tun haben.
»Wie, um Himmels willen …« Ich brach ab. Es ging mich überhaupt nichts an.
»Unserem Orchestervorstand wurde zugetragen, ich hätte mitten im Weihnachtsgeschäft meine Dienstpflicht vernachlässigt und noch dazu Unzucht mit Minderjährigen betrieben. Völliger Schwachsinn!«
»Unzucht mit Minderjährigen? Hallo, ich bin fünfunddreißig!«
Christians Lachen hallte mir entgegen, aber es klang traurig und ratlos.
»Schön, dass wenigstens du noch Humor hast! Ich finde hier nämlich weit und breit keinen Menschen mehr mit Humor, und niemand will mich aufklären, mir sagen, was eigentlich passiert ist.«
Jetzt hatte ich schon den zweiten traurigen und ratlosen Mann an der Backe. Aber für diesen hier empfand ich unbeschreibliche Zuneigung. Und für Jürgen bestenfalls Mitleid. Und genau das war falsch! Eigentlich müsste ich für Jürgen unbeschreibliche Zuneigung empfinden. Und für Christian Mitleid. Verkehrte Welt!
»Meine Frau hat mich regelrecht vor die Tür gesetzt«, hörte ich Christian sagen, während ich versuchte, nach der Notfallapotheke in Form meines Champagnerglases zu angeln. Mein Arm tat so, als gehörte er nicht mehr zu mir. Er war taub vor Schreck. Christian redete weiter: »Sie hat die Schlösser ausgetauscht, das volle Programm. Gestern habe ich meine Sachen geholt, die hatte meine Frau mir mithilfe von Nachbarn auf die Terrasse in den Schnee gestellt.«
»Nachbarn?« Eine böse Ahnung machte sich in mir breit.
»Na ja, unsere Freunde hier. Aus irgendeinem Grund sind sie vom Paulus zum Saulus geworden. Ich weiß überhaupt nicht, was sie plötzlich gegen mich haben. Ein Anwalt war da, und ich habe sogar einen richterlichen Beschluss bekommen, dass ich mich meiner Frau und den Kindern nicht weiter als bis auf hundert Meter nähern darf.« Er räusperte sich. »Entschuldigung, dass ich dir das alles erzähle. Aber ich weiß einfach nicht, was ich von der Sache halten soll.«
Aber ich!, dachte ich und wand mich innerlich vor Scham.
»Aber dir geht es gut?«, kam es zögerlich aus dem Hörer.
Eine peinliche Stille entstand. Ich presste verzweifelt die Lippen zusammen. Noch vor wenigen Minuten hatte ich Jürgen versprochen, nach Hause zu kommen. Christian zu vergessen, hatte ich ihm schon hundertmal versprochen. Und nicht mit ihm zu telefonieren, gefühlte tausendmal.
»Hallo? Lotta?«
»Ähm ja, ich bin noch da.« Beziehungsweise das, was noch von mir übrig war: ein schlaffer, zitternder Körper im fremden Bademantel auf dem Fußboden.
»Bist du gut ins neue Jahr gekommen?«
Meine Antwort war ein unverständliches Krächzen.
»Kannst du nicht ungestört sprechen? Ich hatte eben jemand anders am Telefon?«
»Nein, passt schon. Ich bin bei einer Freundin. Und du?«
»In Wien, im Hotel Imperial.« Ich hörte, wie Christian auf und ab ging. »Aber das ist keine Dauerlösung. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen soll. Vorgestern war meine Tochter bei mir. Sie versteht auch nicht, was in ihre Mutter gefahren ist.« Er seufzte. »Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat!«
Ich biss mir die Lippe blutig.
»Na ja, offensichtlich hat es nichts mit dir zu tun«, sagte er schließlich. »Ich wollte einfach mal wieder mit einem normalen Menschen reden, möchte dich aber in deinem Heilewelt nicht stören. Grüß deine Freundin. Und deine Kinder. Es war … schön bei dir. Ich denke noch oft an unser Konzert. Und an unser … Bier danach.«
Oh ja, ich auch!, hätte ich gern gerufen, aber meine Stimmbänder verweigerten ihren Dienst.
Er räusperte sich, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. »Netter Zeitungsartikel übrigens. Ich habe ihn gegoogelt.« Er zögerte und setzte dann nach: »Jetzt sitze ich im Hotel, bin meinen Job los und starre dauernd auf dein Bild.«
Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Es ging einfach nicht. »Mein Mann hat deine Frau angerufen!«, platzte es aus mir heraus. Mein Herz raste so laut, dass ich seine Antwort nicht verstand. Vielleicht antwortete er auch gar nicht, denn was ich hörte, als sich mein Herzklopfen wieder beruhigt hatte, war ein Rauschen in der Leitung. Hatte er aufgelegt?
»Hallo?«, krächzte ich matt. Ich fühlte mich so entsetzlich schuldig – Christian gegenüber und Jürgen gegenüber. Schließlich war ich schon auf dem Sprung zu ihm zurück.
»Ähm … ja, ich bin noch dran. Ich begreife nur nicht …«
»Jürgen hat deine Frau angerufen, und die hat euren Nachbarn den Hörer gegeben. Und dann haben sie eine Stunde lang …« Ich presste die Lippen zusammen. Genug der Information.
»Unseren Nachbarn?«, kam es fassungslos aus dem Hörer. »Den Kobaliks?«
»Den Kobaliks«, sagte ich. »Feine Freunde!«
»Was haben die Kobaliks eine Stunde lang?«
Ach, egal. Jetzt war es heraus. Er musste es wissen. Das wenigstens stand ihm zu. »Schlecht über dich geredet.«
»Bitte?« Ich hörte, wie er sich am Kopf kratzte. »Was denn … ich meine …« Er lachte ungläubig. »Was haben sie denn gesagt?«
»Dass du ein ganz schlimmer Weiberheld bist«, antwortete ich gespielt vorwurfsvoll. »Alles vögelst, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.«
»Aber woher wollen denn die Kobaliks …«
»Die sind ja immer dabei auf deinen Dienstreisen.«
»Aber das stimmt doch überhaupt nicht!« Wieder lachte er ungläubig.
»Sie wissen noch viel mehr!«
»Was denn?« Totale Verblüffung in seiner Stimme.
»Dass du sie schon um Geld gebeten hast.«
»ICH habe die Kobaliks um Geld …?!«
»Für dein Haus.«
»DAS haben die Kobaliks DEINEM Mann erzählt?« Das ungläubige Lachen verwandelte sich in ein fassungsloses Schnaufen. »Wolfgang hat mir das angeboten, nachdem er mir sein Nachbarhaus quasi aufgedrängt hat … Ich habe damals gesagt, es ist mir zu teuer, aber sie wollten uns unbedingt in ihrer Nähe haben …«
Wieder kam nur Rauschen aus dem Hörer. Ich hörte regelrecht, wie seine Gehirnzellen arbeiteten.
»Aber das Schlimmste ist …«, sagte ich mit Grabesstimme, während mich eine komische Verzweiflung überkam: »… du hast krumme, dicke Beine.«
»Das haben sie NICHT gesagt!«
»Doch. Leider.«
»Wie kommen die darauf?«
»Ursula weiß es. Sie hat dich in Thailand in Shorts gesehen.«
»Du nimmst mich auf den Arm!«
»Leider nicht.«
»Und DAS haben sie DEINEM Mann erzählt?«, wiederholte er ungläubig. »Und der hat es dir erzählt, oder was?!« Seine Fassungslosigkeit schwappte mir regelrecht entgegen.
»Er hat es mir vorgespielt. Auf Band.«
»Er hat das Telefonat mitgeschnitten?! Wissen das die Kobaliks?«
»Nein.«
Wieder vergingen gefühlte fünf Minuten mit Rauschen und Knacken. Ich hörte bei ihm quasi jeden Groschen einzeln fallen.
»Das ist alles nicht wahr, oder?«
»Es tut mir wahnsinnig leid, Christian«, sagte ich schließlich mit brüchiger Stimme. »Ich schäme mich in Grund und Boden.«
Schweigen. Ein unerträglich langes Schweigen. Ich hörte förmlich die Euros durch die Leitung rauschen.
»Christian?«
»Weiß dein Mann, was er da angerichtet hat?«, kam es nach weiteren quälenden Minuten aus dem Hörer.
»Nein. Ich bin mir sicher, das hat er nicht gewollt.«
»Ich habe meine Frau nicht betrogen! Jedenfalls nicht bis zu unserem Kuss im Parkhaus! Da hat es mich zugegebenermaßen ein bisschen erwischt.«
Mein Herz raste. Es hatte ihn auch erwischt! Nicht nur mich!
»Ich meine, was wollte dein Mann denn damit bezwecken?«
»Ich weiß es nicht, Christian. Er ist einfach durchgedreht. Es tut ihm auch schon schrecklich leid.«
»Woher wusste er denn überhaupt von dem … ähm … Kuss?«
»Er bekam an Weihnachten eine anonyme E-Mail. Von einem Freund, der es gut mit ihm meint.«
»Wir haben offensichtlich lauter gute Freunde, die es gut mit uns meinen …«
Wieder hörte ich Christian ungläubig schnaufen. Ich sah förmlich vor mir, wie er sich die Haare raufte und nervös in seinem Hotelzimmer auf und ab ging.
»Lotta …«, sagte er schließlich.
»Ja?« Oh Gott. Mein Herz dröhnte in meinen Ohren.
»Was hat dir unser Kuss bedeutet?«
Alles!, wollte ich schreien. Es war der schönste Kuss meines Lebens. Ich habe mich unsterblich in dich verliebt! Ich will mit dir abhauen, bis ans Ende der Welt. Lass uns alle diese Spinner, die Gott spielen wollen, hinter uns lassen!
»Und dir?«, krächzte ich stattdessen.
Stille. Rauschen. Knacken.
»Er hat mir viel bedeutet«, sagte Christian schließlich. »Ich bin selbst überrascht, wie oft ich seitdem an dich denken muss.« Ich hörte es rascheln. »Ich halte gerade dein Bild in den Händen.«
Oh Gott. Er hatte es sich ausgedruckt! Mein Herz schlug Purzelbäume. Die kleinen Lämpchen über dem Waschbecken funkelten wie ein verrückt gewordener Sternenhimmel. Doch halt! Falscher Zeitpunkt. Falscher Film. Falsches Leben! Geht nicht! Klappe!
Ich hörte Christian mit langen Schritten durchs Zimmer gehen. Plötzlich blieb er stehen. »Aber ich hätte nie und nimmer meine Ehe aufs Spiel gesetzt. Und deine auch nicht.«
»Nein.« Das Blut pochte mir in den Schläfen. »Was … was hast du jetzt vor?«, fragte ich kleinlaut. Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Christian nach langem Zögern. »Weißt du, meine Lebenssituation hat sich komplett geändert.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Meine Frau fordert das Haus, einen sechsstelligen Zugewinnausgleich und Unterhalt für sich und die Kinder. Ich darf mich dem Haus nicht nähern. Ich komme mir vor wie ein Verbrecher.«
»Aber kannst du nicht noch mal mit ihr reden?«, fragte ich zaghaft wie ein Kind, das ein Spielzeug kaputt gemacht hat und hofft, es sei noch zu reparieren.
Wieder kam sehr lange nichts.
»Das habe ich versucht. Aber jetzt, wo ich weiß, was da hinter meinem Rücken gelaufen ist … Und mit welchen Bandagen sie plötzlich kämpft … Ich soll sie angeblich geschlagen haben!«
Diesmal blieb ich länger stumm. Hatten die Kobaliks recht? Hatte ich mich in einen miesen Gewalttäter verknallt?
»Dem Gericht liegt ein Foto vor, auf dem sie ein blaues Auge hat.«
Ich zögerte, doch dann wagte ich die Frage zu stellen. »Und? Hast du?«
»Natürlich nicht.«
Wir schwiegen beide.
»Wirst du der Scheidung zustimmen?«, fragte ich schließlich mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung.
»Wahrscheinlich. Und du?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Ach ja. Richtig. Also … wirst du bei deinem traurigen Helden bleiben?« Er lachte verbittert.
»Ich weiß nicht …Er ist der Vater meiner Kinder.«
»Lotta, darf ich dir was sagen?«
»Ja, aber schnell … Es kommt jemand.«
Auf der Treppe hörte ich schwere Schritte. War Sophies Mann wieder da? Unwillkürlich hielt ich meinen Bademantel über der Brust zusammen. Was Christian sagte, konnte ich nicht so genau verstehen. Irgendwas mit Chance oder so.
»Hör zu, ich glaube, ich muss Schluss machen …«
»Darf ich dich wieder anrufen? Ich glaube, ich bin ein bisschen am Durchdrehen …«
Ja gern!, hätte ich am liebsten geschrien. Ruf mich jederzeit an. Dreh ruhig noch ein bisschen durch. Du kannst dir doch denken, dass ich von nun an jede Sekunde darüber nachdenken werde, wie es mit dir weitergeht. Und am Durchdrehen bin ich nicht nur ein bisschen.
Es war auf jeden Fall nicht Sophie oder eines der Kinder. Es waren viel schwerere Schritte.
»Darf ich dich anrufen, wenn ich Sehnsucht nach dir habe?«, fragte Christian plötzlich mit rauer Stimme. Oh Gott, davon träumte ich, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte!
Die Schritte waren jetzt schon ganz nahe herangekommen.
»Und das wäre wie oft?«, hauchte ich, einer Ohnmacht nahe.
»Stündlich. Nein, im Ernst, Lotta. Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«
Die Tür ging auf.
Es war Jürgen, der schwitzend und freudestrahlend in der Tür stand. Auf jedem Arm einen Zwilling und an jedem Zwilling ein Dutzend gelbe Luftballons. Er hatte die beiden Fünfjährigen die Treppe hinaufgeschleppt?! Ach ja, er hatte ja versprochen, sich ab sofort um die Kinder zu kümmern. Er machte Ernst, er hielt Wort! Und ich? Hatte ich nicht gerade mein Versprechen gebrochen? Die Kinder grinsten mich glücklich an und streckten die Arme nach mir aus.
Halt mich, halt mich fest, zeig mir den richtigen Weg, hilf mir, die richtige Entscheidung zu treffen!, wollte ich schreien, wusste aber nicht, wem das galt.
»Wenn du mich liebst, rufst du mich nie wieder an«, flüsterte ich mit einer seltsam fremden Stimme ins Handy und klappte es mit zitternden Fingern zu. Hastig steckte ich es in Sophies Bademanteltasche. Mit zittrigen Beinen taumelte ich wie ein staksiges Reh auf meine Familie zu.