ANITA
»Na, Kindchen? Frohe Weihnachten!« Ursula Kobalik stand mit einem Päckchen in der Verandatür und wollte mir schon wieder das Sakrament ihrer Anwesenheit spenden. Sie schaute irritiert auf mich herunter: »Wat machste denn da?«
»Pilates.«
»Aber doch nicht an Weihnachten?« Ursula Kobalik stieg über mich drüber, die ich auf meiner Gymnastikmatte lag und gerade mit eingezogenem Bauch die gestreckten Beine kreisen ließ.
»Warum nicht?«, keuchte ich, stur weiterkreisend. Schweißtropfen standen mir auf der Stirn. Ich war ungeschminkt und hatte strähnige Haare. Vielleicht würde sie wieder gehen.
»Ja, ist denn dein lieber Gatte immer noch nicht da?«
»Doch. Er war da, ist aber schon wieder weg.« Tja, gestern am Heiligen Abend war er noch mal spazieren gegangen, und heute Morgen war er entweder noch nicht da oder nicht mehr. Ich hatte einen Kater und versuchte gerade, ihn wegzuturnen. Wütend trat ich in die Luft.
»Dass der aber auch immer seine schöne Frau alleene lassen muss. Hoffentlich lohnt sich det. Aber eena muss ja det Haus hier abbezahlen, wa.«
Ursula wuchtete das Päckchen auf den Tisch und starrte einen Moment in den Fernseher, wo Barbara Becker mit ihrer Trainerin Tanja anmutig vorturnte. »Det sieht ja abartig aus! Wozu machste det denn?«
»Das tut mir wahnsinnig gut!« Ich richtete mich auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es hatte keinen Zweck weiterzuturnen, denn Ursula Kobalik machte keine Anstalten, sich wieder zu empfehlen. Es war mir peinlich, im Sport-BH und knappen Höschen vor ihr auf dem Boden zu liegen wie ein Marienkäfer. Das war dann doch ein bisschen zu intim. Aber weil ich so geschwitzt hatte, hatte ich leichtsinnigerweise die Terrassentür offen gelassen. Da hatte sie gleich Lunte gerochen und war rübergewatschelt. Wie die neugierige Ente aus »Peter und der Wolf«. Warum hatte ich auch das Gartentor offen gelassen?
»Mach du nur weiter, lass dich nicht stören«, sagte Ursula Kobalik zwar, meinte es aber nicht so. Wenn doch zufällig ein Wolf vorbeikäme und sie fräße! Dann könnte sie in seinem Bauch weiterquaken. »Nütztn det wat?« Sie griff nach der DVD-Hülle und musterte das Cover.
»Ja, also mir schon.« Ich rollte die Matte zusammen und stellte sie in die Ecke. »Danach fühle ich mich immer viel besser.«
Das könnte dir auch nicht schaden, dachte ich mit einem Seitenblick auf ihre wogende Fülle. Dann hättest du auch nicht mehr solche Langeweile.
Ursula Kobalik öffnete den Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Champagner und ließ sich schnaufend in meinen Fernsehsessel fallen. »Aber det jeht ja jaaanich! Det der Kerl dich sogar heute alleene in deim eijenen Saft schmorn lässt. Ist doch Weihnachten!«
Na ja, in seinem Saft hatte eher ICH ihn schmoren lassen. Gestern. Keine Ahnung, was da in mich gefahren war. Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist schon wieder auf einer Probe.« Das Glas Champagner, das sie mir reichte, lehnte ich ab. »Du weißt ja – das berühmte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker!«
»Ach ja, klar, da gehen wir ja ooch hin.« Sie trank einen Schluck. »Prost, Kindchen. Ick frag mich nur, wohin det noch führn soll mit deinem ewig abwesenden Jötterjatten. Nich, dat der ne andere hat. Da würd ich aber schon hellhörig an deiner Stelle! Und die Kinder sind ooch nich da?!«
Doch, die schlafen noch. Aber das werde ich dir nicht auf deine neugierige Nase binden. Denn dann wirst du Türen öffnen und siehst als Erstes Grazia in den Armen ihres Beischläfers Benni und zweitens Gloria in Christians Bett. Beides wird dich zu weiteren unpassenden Bemerkungen und Schlussfolgerungen verleiten.
»Du, es ist alles im grünen Bereich«, sagte ich leichthin. »Ist es okay für dich, wenn ich ganz schnell unter die Dusche springe?«
Vielleicht würde sie dann wieder gehen, und ich könnte weiterturnen. Ich würde kurz das Wasser anstellen, durch den Badezimmertürspalt spähen und einfach auf meine Matte zurückkehren, sobald sie weg war. Trick siebzehn funktionierte aber heute nicht.
»Aba klaa, Kindchen! Wenn de danach Zeit hast, dein Jeschenk auszupacken … Eena muss dir ja heute die Einsamkeit vertreiben!« Mein Schweigen missdeutend, schlürfte Ursula behaglich ihren Champagner.
Meine Lippen waren fest zusammengepresst, als ich mich endgültig von meiner Gymnastikmatte verabschiedete. Mist!, dachte ich und sprang leise fluchend unter die Dusche. Das Telefon klingelte. Das musste Christian sein! Erleichterung keimte in mir auf.
»Soll ick ranjehn?«
»Ja, sag Christian, ich kann ihn sofort abholen!«, antwortete ich und suchte blind nach einem Handtuch. Dann konnte ich Trick siebzehn doch noch anwenden! Selbst Christian kannte ihn und spielte gerne mit. Notfall, sofort kommen, Kobalik-Alarm! Jetzt freute ich mich regelrecht auf ein Versöhnungsmittagessen mit anschließendem Versöhnungsbeischlaf. Beherzt drehte ich den Strahl noch einmal auf kalt. So, blöder kleiner Kater – husch, hinweg mit dir! Ich scheuchte ihn aus dem geöffneten Badezimmerfenster. Nun war ich hellwach und frisch. Für Christian. Ein guter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Als ich wenig später im Badehandtuch mit Turban aus der Dusche kam, hielt Ursula mir vielsagend den Hörer hin.
»Für dich!« Mit theatralischer Geste deckte sie die Muschel ab.
Ja logisch, Ursula. Das ist schließlich keine Überraschung. ICH wohne hier, nicht du.
»Nicht Christian?« Fieberhaft suchte ich nach dem nächsten Trick.
»Ein Herr Immekeppler oder so ähnlich! Aus Heilewelt! Von irgendeiner Sparkasse!«
Hä? Heute? Wollte der mir was verkaufen? Das lief gerade ganz und gar nicht nach Plan. Ich räusperte mich verlegen. »Für MICH?« Ich zeigte auf meine Brust, die ich mühsam mit dem Badehandtuchknoten verdeckte. Warum rief der mittags am ersten Weihnachtsfeiertag bei mir an? Ich starrte Ursula ratlos an. Sie beäugte mich mit unverhohlener Neugier. Sollte ich sie mit der Hand verscheuchen wie eine streunende Katze? Oder wäre sie dann tödlich beleidigt? Aber wenn mich ein Mensch aus HEILEWELT sprechen wollte, war es vielleicht doch besser, wenn sie blieb? Irgendwie fühlte ich mich plötzlich verunsichert.
»Ja?«, sagte ich in den Hörer.
»Guten Tag, mein Name ist Jürgen Immekeppel«, drang eine ziemlich aufgeregte Männerstimme an mein Ohr. »Es tut mir leid, dass ich Sie heute an Weihnachten stören muss!«
Tja, da war er heute schon der Zweite, der das musste. Stille. Mein Geduldsfaden war bis zum Zerreißen gespannt. »Ja?«
Ursula Kobalik hielt ihren Kopf dicht neben den meinen, um mitzuhören. Da sie aus dem Mund stank, stellte ich einfach auf laut.
»Haben Sie einen Moment Zeit?« Hatte ich?
Ursulas Blick hing gebannt an mir. Sie nickte.
»Ja.«
Der Mann klang so, als sei etwas wirklich Schlimmes passiert. Hätte ich Christian nicht schon gesehen, hätte ich geglaubt, er hätte dort einen Unfall gehabt oder eine Sparkasse überfallen. Aber er war ja gut gelaunt und heil nach Hause gekommen, ja, er hatte sogar mit mir schlafen wollen.
»Tja, ähm, also es ist mir unendlich peinlich, aber ich bin der Lebensgefährte von Lotta von Thalgau.«
»Ja?« Die kannte ich nicht. Nur Lotta aus der Krachmacherstraße.
»Meine Frau ist die Direktorin der Musikschule hier in Heilewelt.«
»Ja?«, sagte ich hilflos. War das die mit dem improvisierten chaotischen Konzert?
»In der Ihr Mann vorgestern bei ›Peter und der Wolf‹ mitgespielt hat.«
»Ja?« Ursula gab mir einen wissenden Stoß zwischen die Rippen, und mir entfuhr unwillkürlich ein Schreckenslaut.
»Ähm … sind Sie allein?«, flüsterte der Mann am anderen Ende der Leitung, als handelte es sich um eine Verschwörung.
Da Ursula Kobalik mich erneut in die Rippen stieß und heftig nickte, log ich: »Ja.« Bisher war ich recht einsilbig gewesen. Ich hatte sechsmal »Ja« gesagt. Sonst nichts. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
»Tja, ich habe lange überlegt, ob und wie ich es Ihnen sagen soll …« Die Stimme des Fremden am anderen Ende der Leitung brach. Weinte der etwa?
»Ja?« Sieben.
»An Heiligabend erreichte mich die Mail eines, ähm, sagen wir mal Freundes, der es gut mit mir meint, und … Sind Sie noch dran?«
»Ja.« Acht.
»Und dieser Herr … na ja, der Name tut nichts zur Sache, ist ein, sagen wir mal, Kunde meiner Frau …«
»Ja?« Neun. Ännchen von Tharau hatte also einen guten Bekannten. Das kommt sogar in Kleinstädten vor.
»Ja, und der ließ mich wissen, dass … So schwer es mir auch fällt, Ihnen das mitteilen zu müssen … Ausgerechnet an Weihnachten …«
»Ja?« Zehn. Mein Gott!, dachte ich. Spuck’s aus! Mein Herz klopfte inzwischen so wild, dass sich der Knoten meines Handtuchs löste und ich es mir mit einer Hand zuhalten musste.
»Er hat jedenfalls beobachtet, wie meine Frau und Ihr Mann eine sehr, ähm, intime Begegnung …« Er schluckte. »Im Treppenhaus. Sie haben zusammen Bier getrunken und … Also, ich sag es jetzt einfach frei heraus: Sie haben sich geküsst.«
Das musste ich erst mal verdauen.
Um Ursula Kobaliks Mundwinkel zuckte es, als müsste sie sich mühsam bremsen, nicht laut zu rufen: Na siehste, Kindchen, ick happes jewusst! Sie stieß mich diesmal dermaßen fest und triumphierend zwischen die Rippen, dass es schon richtig wehtat. Mein Herz tat einen dumpfen Schlag, und ich musste mich setzen. Ursula Kobalik hielt mir ihr Glas Champagner hin und legte mir eine Wolldecke über die Schultern. Dabei fror ich gar nicht. Mir brach eher der Schweiß aus.
»Überrascht Sie das?«, fragte Herr Immekeppel. »Ich meine, tut der das öfter?«
Ursula nickte heftig wissend und machte eine Handbewegung, als wollte sie jemanden ohrfeigen.
»Ja, ähm, ich meine, nein. Ich weiß nicht.« Unsicher schaute ich Ursula Kobalik an, die heftige Grimassen schnitt. Was sollte ich denn jetzt sagen? Mein Herz hämmerte, und mein Mund war wie ausgedörrt. Ich war mit dieser Situation komplett überfordert! Außerdem: Ich kannte diesen stotternden Menschen da am Telefon doch gar nicht! Wie kam der dazu, mich anzurufen und mir solchen Blödsinn zu erzählen? Ich wollte ihn einfach nur elegant loswerden. Aber wie? Ich öffnete den Mund, aber mir fiel nichts Passendes ein, also klappte ich ihn wieder zu.
»Ich möchte nur wissen, wie ich Ihren Mann einschätzen muss«, erklärte Herr Immekeppel indessen eifrig wie ein Kriminalkommissar. Vielleicht machte er sich Notizen.
»Wie … einschätzen?«, fragte ich verwirrt.
»Nun ja, Sie müssen verstehen: Ich hatte meiner Frau gerade einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat abgelehnt …«
Ursula hörte gar nicht mehr auf, mich mit Rippenstößen zu malträtieren.
»Ihrer … Frau?«
»Na, also meiner bisherigen Lebensgefährtin. Wir haben drei kleine Kinder, und Ihr Mann gefährdet hier eine ganze Familie!«
Der Mann stieß ein merkwürdiges Geräusch aus. War das ein Schluchzen? Ich zuckte zusammen. Ursula Kobalik war total von den Socken.
»Ich muss über diesen Mann alles wissen!«, unterbrach der ungebetene Anrufer unsere ratlose Stille. »Ich brauche Ihre Hilfe! Wir sitzen doch in einem Boot!«
Mein Herz setzte aus. War das hier vielleicht eine Finte? Das konnte doch gar nicht ernst gemeint sein! Fragend sah ich Ursula an, doch die hielt bemüht die Luft an, um nur keinen Piepser von sich zu geben. Drei kleine Kinder? Also das würde Christian nie tun! Er ließ vielleicht seinen Charme spielen, flirtete auch mal, und ich wollte auch nicht ausschließen, dass er möglicherweise auf der einen oder anderen Konzertreise … Ich schluckte. So genau wollte ich das auch gar nicht wissen. Aber eine heile Familie würde er nie zerstören. Außerdem, wie war das noch gleich? Eine heile Familie lässt sich gar nicht zerstören! Warum konnte ich das dann nicht sagen?
»Bitte, ich will mir nur ein Bild von Ihrem Mann machen können«, bedrängte mich der Mann am Telefon. »Ist er ein notorischer Schwerenöter?«
Ich schüttelte stumm den Kopf, während Ursula Kobalik triumphierend nickte.
»Oder meint er es etwa ernst mit meiner Lebensgefährtin? Dann müsste ich nämlich Gegenmaßnahmen ergreifen.« Der Mann klang plötzlich richtig gefährlich.
»Gegenmaßnahmen?«
»Dann würde ich einen Detektiv auf ihn ansetzen. Oder ihm sonst wie einen Denkzettel verpassen.«
Bitte? Der war doch nicht ganz dicht! Ich presste die Hand vor den Mund. Dann würde hier so eine Art Matula im Garten stehen und sich hinter den Bremer Stadtmusikanten verstecken. Sehr witzig! So langsam glaubte ich an einen schlechten Scherz.
»Aber vielleicht sind SIE ja bereit, mir Auskunft über ihn zu geben«, beharrte der Anrufer. So verunsichert und aufgeregt er auch wirkte: Es schien ihm todernst zu sein.
Tja, war ich das? Eigentlich nicht. Was sollte ich einem Wildfremden Auskunft über meinen Mann geben? Na, der hatte Ideen!
»Meine Frau scheint sich jedenfalls Hals über Kopf in ihn verliebt zu haben, auch wenn sie das heftig abstreitet«, erklärte dieser Immekeppel. Ursula Kobalik hielt noch immer die Luft an. Gleich würde sie platzen.
»Ich will meine Lebensgefährtin ja auch nur vor einer großen Dummheit bewahren. Sie ist so leicht zu beeinflussen, so leicht zu blenden!« Er lachte traurig. »Sie gehört hierher, zu mir, nach Heilewelt.«
Er tat mir leid. Und alles, was er sagte, tat mir richtig weh. Aber ich verstand immer noch nicht, warum er mich anrief! Konnte er das nicht mit seiner Frau klären?
»Sie müssen mir helfen, eine Katastrophe abzuwenden! Bitte!«
»Ja.« Ich konnte wirklich nichts anderes sagen. So ein Telefonat hatte ich noch nie geführt.
»Sie wollen doch Ihre Familie auch nicht zerstören!«
»Nein.« Woher wusste der von meiner Familie? Ich rieb mir fröstelnd über die nackten Arme. Vielleicht war das ein Trickbetrüger, der rausfinden wollte, ob und wann mein Mann zu Hause war? Oder war der von Versteckte Kamera? Vielleicht wurde ich hier nur vorgeführt, vor einem Millionenpublikum, das sich lachend auf die Schenkel schlug? Vielleicht war Ursula Kobalik der Lockvogel? Bestimmt!, schoss es mir durch den Kopf. Das würde zu ihr passen. Die hatte doch immer solche Langeweile. Und mischte gern irgendwo mit, um sich interessant zu machen. In einer plötzlichen Aufwallung reichte ich Ursula den Hörer. »Sag du was!« So. Jetzt war der Ball bei ihr.
»ICH?« Ursula tat entsetzt. »Was soll ICH denn dazu sagen? Das steht mir doch gar nicht zu!«
Ein zögerliches Klopfen an der Tür ließ uns beide aufblicken.
»Hallo? Jemand zu Hause?«
In diesem Moment entdeckte ich Wolfgang Kobalik in der Terrassentür. Wahrscheinlich wollte er schauen, wo sein liebendes Weib geblieben war. Oder er war der andere Lockvogel. Und das war jetzt punktgenau sein Auftritt.
»Ich wäre einfach nur sehr dankbar für eine Auskunft«, kam es gleichzeitig aus dem Hörer. »Damit ich meine Frau wieder zur Vernunft bringen kann.«
Ursula winkte sensationslüstern ihren Gatten herbei.
»Können Sie mir nicht irgendwas NEGATIVES über Christian Meran sagen? Damit sie aufhört, für ihn zu schwärmen. Manchmal muss man Verliebten einfach die Augen öffnen. Ich will meine Frau ja nur vor sich selbst schützen!« Er lachte wieder so selbstmitleidig.
»Etwas Negatives?«, fragte Ursula Kobalik. Verhörte ich mich da, oder schwang tatsächlich so etwas wie Freude in ihrer verrauchten Stimme mit?
»Oh ja, das können wir!«, rief Wolfgang Kobalik und stieß ein joviales Lachen aus. »Von dem können wir ein Lied singen!« Er beugte sich vertrauensvoll vor und sprach in den Hörer: »Hallo, ick bins, der Nachbar von nebenan. Kobalik mein Name. Wat kann ich für Sie tun?«
Meine Rippen schmerzten plötzlich heftig, ich musste husten, mir wurde schlecht. Die amüsierten sich hier auf meine Kosten! Inzwischen klebten wir zu dritt an dem Hörer.
Die Stimme des Unbekannten sagte beflissen: »Ja, hallo, Immekeppel. Sparkassenleiter aus Heilewelt.« Er räusperte sich verlegen. »Es geht um meine Lebensgefährtin und Ihren, ähm … Nachbarn, Herrn Meran. Die beiden haben sich wohl … Ich sagte es bereits zu Frau Meran.« Er räusperte sich heiser. »Wir hatten heute Nacht furchtbaren Streit. Meine Lebensgefährtin hat mir im Zorn gesagt, sie könne sich vorstellen, mit Christian Meran zusammenzuleben. Sie nannte mich einen Spießer und Langweiler, Christian Meran dagegen sei ein toller, interessanter, witziger und einfühlsamer Mann.« Seine Stimme brach.
»DAS hat sie gesagt?« Wolfgang Kobalik schlug sich mit gespielter Entrüstung auf die Schenkel.
Ganz klar: ein abgekartetes Spiel. Man gab sich gegenseitig das Stichwort. Ich würde einfach gar nichts mehr sagen. Sollten sie ihre komische Nummer doch allein aufführen. Unauffällig suchte ich nach der Kamera, die die beiden Spaßvögel vielleicht hatten installieren lassen. Silvester würden sie uns das womöglich auf ihrer Party vorspielen und sich dabei auf unsere Kosten kaputtlachen.
»Wolfjang, mach du det.« Ursula überreichte ihm mit großer Geste den Hörer.
»Also, was wollen Sie wissen?«, stellte sich Wolfgang ahnungslos. »Wie können wir die Situation entspannen?« Er tat total männlich-diplomatisch, so als ginge es mindestens um den Weltfrieden. Er sprach sofort wieder Hochdeutsch.
Aha, dachte ich. Sie zögern es heraus, um die Spannung zu steigern. Das war die Rache für meinen Trick siebzehn. Jetzt verarschten sie MICH.
Der besorgte Herr Immekeppel aus Heilewelt wiederholte sein Anliegen: Er wolle Informationen über Christian Meran, um ihn seiner Lebensgefährtin auszureden. »Der Mann muss doch auch Schwächen haben! Ich weiß, dass er gut aussieht. Aber ist er vorbestraft? Oder wenigstens verschuldet? Ich will sie ja nur beschützen! Sie ist so naiv, dass sie auf jeden Weiberhelden reinfällt, der ihr ein Bier reicht und schöne Augen macht!«
»Na jaaaaa!«, sagte Wolfgang Kobalik hochzufrieden. »Also grundsolide ist er natürlich nicht. Alkohol ist bei Berufsmusikern immer im Spiel. Da hat er Ihre Frau also gefügig gemacht. Hm, det is ja ’n Ding.«
Endlich hatte er auch mal eine Sprechrolle. Das Sprechen übernahm nämlich sonst immer Ursula.
»Ja, als Weiberheld könnte man ihn schon bezeichnen.« Wolfgang Kobalik steckte sich genüsslich eine dicke Zigarre an und spuckte einen Tabakkrümel auf mein frisch geputztes Parkett. Ursula hatte ihm bereits meinen Fernsehsessel unter den Hintern geschoben.
Ich stand da und wusste nicht, ob ich lachen, weinen oder einfach weglaufen sollte. Das Gespräch dauerte mir eindeutig zu lange. Am besten, ich unterbrach es sofort. Ich holte tief Luft und griff nach dem Hörer, aber die Kobaliks genossen dieses Interview, als wären sie live bei der Verleihung des goldenen Tratschweibs. Furchtbar, was sie da über meinen Mann zum Besten gaben! Nein. Von mir würde nichts kommen. Mit einem kleinen Schaudern hörte ich mir dieses merkwürdige Telefonat an.
»Ja, wenn Sie mir bitte einfach mal den Charakter des Herrn Meran schildern würden«, bat Herr Immekeppel. »Ich weiß, dass meine Frau sich da in was Fatales verrennt, wenn ich sie nicht warne!«
»Er ist sehr von sich überzeugt«, sagte Wolfgang Kobalik mit tiefer Stimme. »Hält sich für einen Mann von Welt.«
»Genau DAS hat meine Frau gestern im Streitgespräch auch gesagt!«, erregte sich Herr Immekeppel. »Dass der ein Mann von Welt sei im Gegensatz zu mir.«
»Tja, das kann ich schlecht beurteilen«, brummte Wolfgang Kobalik jovial.
»Dabei isser jar keena!«, schrie Frau Kobalik plötzlich schrill dazwischen, was ich äußerst deplatziert fand. Was zu weit geht, geht zu weit!
»Der macht immer auf selbstbewusst und lässig und männlich, der weeß jenau um seine Wirkung. Det is klaa, det Ihre Frau dem verfalln is!«
»Dann macht er das wohl öfter?«
»Wat jetz jenau?«
»Na, Frauen den Kopf verdrehen?«
»Det machta imma.«
»Besonders bei so naiven Mädels vom Lande.«
»Da hatta noch ne Schangse.«
Wie jetzt? War das Ganze etwa doch kein Spaß? Die Kobaliks waren doch auf fast allen Reisen dabei. Sie hatten es also beobachtet und mir nie etwas davon gesagt?!
Herr Immekeppel schien über diese Informationsflut sehr erleichtert zu sein. »Sie müssen wissen, dass meine Lebensgefährtin noch nie aus Heilewelt rausgekommen ist.« Er kicherte nervös. »Im Moment hat sie so eine Phase, wo sie einfach mit dem Haushalt, den Kindern und der Musikschule überfordert ist. Klar, dass sie da anfällig ist für so einen Blender.«
Das musste ein geschmackloser Scherz sein, das ging gar nicht anders. Schluss, aus, vorbei: Wenn die das im Fernsehen senden wollten, würde ich aber vorher den Sender verklagen. Ich fand das alles nicht mehr witzig.
»Ja, da haben Sie sicher recht!«, brummte Herr Kobalik und zog schmatzend an seiner Zigarre. »’n rischtja Blenda! Det isser!«
Ursula nickte, dass ihr Doppelkinn wackelte. »Wissen Sie, wie wir den immer heimlich nennen, mein Mann und ich? Blendax-Män!« Sie lachte fett.
Das tat weh. Auch wenn es nur ein Scherz sein sollte: Ich wollte das nicht hören!
»Und so schön, wie er immer tut, isser ja nun oooch nich, wa, Uschi!«
»Ja, also ick war zum Beispiel total enttäuscht von seine Beene«, fing Uschi den Ball auf. »Wir warn da mal in Thailand zusammen am Strand. Sonst sieht man den Christian ja immer nur im Frack, und da sieht er schnieke aus. Aber in Schooots, neee, det sind ja janz krumme dicke Beene!«
Christian war ein leidenschaftlicher Skifahrer und Bergsteiger, ja, und zugegeben: Er hatte so viel Muskeln in den Waden wie Frau Kobalik Speck in den Oberarmen.
»Tja, ähm, das ist natürlich Geschmackssache«, hüstelte Herr Immekeppel verlegen. »Ich dachte da eher an fundiertere Informationen. Wie sieht es denn mit seiner Kreditwürdigkeit aus?«
»Ach je«, sagte Herr Kobalik. »Der Christian ist mehr so ein Lebemann, der über seine Verhältnisse lebt.«
»Also so gar nicht bodenständig, wie Sie det wohl sind«, fügte Ursula Kobalik hinzu.
Wolfgang Kobalik ließ inzwischen Asche auf meinen Teppich fallen. Die Luft war zum Schneiden dick wegen seines Zigarrenqualms, und mir war schon total schlecht.
»Ick will Ihnen mal was sagen«, wurde Wolfgang Kobalik nun vertraulich: »Der musste sich dat Jeld für sein Haus zum großen Teil bei mir leihen, so schlecht haushaltet der.«
Mir zog sich das Herz zusammen. Also fair war das nicht, wie Wolfgang das jetzt darstellte: Die Kobaliks hatten uns dieses Haus hier vermittelt – ja es uns regelrecht aufgedrängt! Wolfgang hatte immer wieder onkelhaft versichert, dass er gern bei der Finanzierung behilflich sei.
»Also, ich bin in Gelddingen natürlich sehr korrekt«, sagte Herr Immekeppel am anderen Ende der Leitung. »Meine Frau ist da ein bisschen chaotisch, sie hat da gar nicht den Überblick. Sie hat sogar schon mal aus Versehen einen sechsstelligen Scheck zum Altpapier getan!« Jetzt kicherte er halb mitleidig, halb schadenfroh. »Sie ist so mit ihrer Musikschule beschäftigt …«
»AUWEIA!«, entfuhr es Kobalik. »Da wäre der Christian der JANZ FALSCHE! Wenn DER ’n Scheck in die Finger kriegt, wirft er das Geld gleich zum Fenster raus. Der würde sich sofort ne Rolex dafür kaufen.«
Das musst du gerade sagen, Kobalik!, dachte ich entrüstet. Du würdest drei Rolexe nebeneinander tragen, wenn deine Frau dich nur ließe.
»Er wäre also völlig ungeeignet für meine Lebensgefährtin?«, fragte Herr Immekeppel hoffnungsfroh. »Sie will sich von mir einfach nicht sagen lassen, was gut für sie ist! Sie hat nämlich hier in Heilewelt durchaus einen Ruf zu verlieren! Sie macht sich noch unglücklich!«
»Na, und der Christian erst!«, freute sich Herr Kobalik. »Wir gehören nämlich zu den Freunden und Förderern der Wiener Philharmoniker, wenn Sie wissen, wat ick meene. Ein Wort von mir zum Vorstand, und der kann seine Flöte packen.«
»Das könnten Sie doch tun!«, schlug Herr Immekeppel eifrig vor. »Nur so als kleiner Warnschuss! Damit er merkt, dass er zu weit gegangen ist!«
»Ja, und Sie könnten Ihrer Frau auch einen kleinen Denkzettel verpassen«, beteiligte sich Wolfgang Kobalik an der Verschwörung. »Da wird Ihnen doch sicherlich was einfallen. Sie sind doch ein kluger Kopf.«
»Noch erfreut sich meine Frau hier in Heilewelt großer Beliebtheit«, sprudelte es nur so aus Herrn Immekeppel hervor, dem dieses Gespräch immer mehr Freude zu machen schien. »Aber das kann sich natürlich ganz schnell ändern! Sie hat bisher völlig skandalfrei gelebt! Tja! Was können wir nur machen, um sie zur Vernunft zu bringen?«
»Beschädigen Sie ihr Image«, sagte Kobalik. »Dasselbe tun wir hier mit Meran!«
Also wie absurd war DAS denn? Hatte dieser Immekeppel seine Frau gefesselt und geknebelt und gezwungen, sich das Telefonat anzuhören? Oder stand sie genau so verwirrt in der Ecke wie ich? Wieso regelten eigentlich andere Menschen unsere Angelegenheiten? Warum schaffte ich es nicht, den Kobaliks den Hörer aus der Hand zu reißen und diesem Immekeppel zu sagen, was ich von Petzen halte? Der gab den Berliner Plaudertaschen hier jedenfalls immer neue Stichworte.
»Jeder hier kennt und schätzt sie, sie hat die volle Unterstützung der Heilewelter Presse, und ich stärke ihr mit meiner Sparkasse den Rücken. Es wäre doch unendlich schade, wenn sie durch eine Liebschaft mit so einem … unsoliden Menschen all das zerstören würde.«
»Na, das können Se laut sagen! Zumal der Christian überhaupt keine erfolgreiche Frau neben sich ertragen könnte. Der braucht eene, die brav zu Hause auf ihn wartet.«
Ich zitterte unter meinem Frotteehandtuch. Hatten Sie etwa vergessen, dass ich auch noch da war?!
»Wie sieht se denn aus, Ihre Frau?«, wollte Herr Kobalik wissen.
»Sie ist eher klein, sommersprossig und rothaarig!«, gab Herr Immekeppel Auskunft. »Sie kann ihre Haare kaum bändigen. Ihre Mutter Margot nennt sie immer Drahthaarterrier.« Er kicherte wieder halb mitleidig, halb schadenfroh. »Und eine Brille trägt sie auch.«
»Nee, da können Sie beruhigt sein!«, lachte Wolfgang Kobalik schnaubend. »Der steht nur auf große blonde Models!«
»Also nicht, dass meine Lebensgefährtin nicht auch hübsch wäre auf ihre Art …«
»Na, ick meen ja bloß! Wenn da eine nicht aussieht wie Claudia Schiffer oder die Dings, wie heißt denn die? Na sach schon, Uschi, dann passt sie nicht in sein Beuteschema.«
Ich wollte mich am liebsten in Luft auflösen.
»Ja, der Christian. Det is so ne Marke für sich!«, rundete Wolfgang Kobalik das Telefoninterview ab. »Eine beeindruckende Erscheinung, ein toller Hecht, witzig und ein begnadeter Künstler. Also die Flötentöne kann er, hahaha, aber der meint es nie und nimmer ernst mit Ihrer Frau!«
»Ich bin ja so erleichtert! Vielen Dank für die Auskunft«, sagte Herr Immekeppel höflich.
»Na, hoffentlich hilft Ihnen det«, brummte Herr Kobalik, Rauch ausstoßend. »Sonst sind wir gerne jederzeit behilflich.«
»Ich denke, ich kann jetzt auf meine Frau einwirken«, gab sich Herr Immekeppel zuversichtlich. »Nochmals danke für Ihre Kooperation.«
Mir kam es vor, als hätten sich Eltern und Lehrer über zwei ungeratene Kinder unterhalten und ihre Erziehungsmethoden aufeinander abgestimmt. Man wünschte sich noch gegenseitig frohe Weihnachten und bedankte sich für das interessante Gespräch. Herr Immekeppel entschuldigte sich nochmals, am Weihnachtstag gestört zu haben. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass das Gespräch über eine Stunde gedauert hatte.
»Und grüßen Sie bitte nochmals die liebe verehrte Frau Meran«, säuselte Herr Immekeppel beflissen. »Es war sehr nett von ihr, dass sie ihre Freunde für eine solch ehrliche Auskunft herangezogen hat. Ich denke, auf diese Weise können wir beide unsere Familien retten.«
»Aba imma!«, sagte Wolfgang in onkelhaftem Ton. »Jeden Tag eine gute Tat. Den Spruch hab ich übrigens von Christian Meran.«
Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dieses Weihnachten wollte ich am liebsten für immer vergessen.