ANITA

Am Sonntagmorgen ließ sich Grazia zu einer Joggingrunde um die Alster überreden, während Gloria noch zusammengeringelt in meiner Betthälfte schlief. Draußen herrschten Minusgrade, und ein eisiger Wind peitschte uns Schneeflocken ins Gesicht. Sie fühlten sich an wie Nadelstiche. Grazia war noch nie mit mir gejoggt. Ich hatte eher das Gefühl, dass sie unbedingt allein mit mir sprechen wollte.

»Du weißt, dass ich zu Papa Kontakt habe?«, japste sie auf einmal trotzig, nachdem wir unseren Rhythmus gefunden hatten.

»Ich kann es mir denken.«

»Willst du nicht wissen, wie es ihm geht?« Grazia sah mich durchdringend an.

Wollte ich das? Versuchte ich nicht, jeden Gedanken an Christian schon im Keim zu ersticken? »Natürlich. Wie geht’s Papa?«

»Er wohnt im Hotel. Papa weiß überhaupt nicht, was los ist!«

»Nein? Dann soll er mal ein bisschen nachdenken!«

»Jedenfalls ist er seinen Job los. Die Wiener Philharmoniker haben ihn gefeuert.«

»Bitte WAS?« Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte sie keuchend an.

Grazia trabte ungeduldig auf der Stelle.

»Die Kobaliks haben ihn irgendwie beim Orchestervorstand madig gemacht, danach wurde er ›be-ur-laubt‹!« Grazia malte Gänsefüßchen in die Luft. »Unbezahlter Urlaub! Bis auf Weiteres. Echt krass!« Sie lief kopfschüttelnd weiter.

Mit bleiernen Beinen versuchte ich, Schritt zu halten.

»Was? Was genau wird ihm denn vorgeworfen?«

»Papa ist aus allen Wolken gefallen: Er sei nie da, hat man ihm vorgeworfen! Er würde ständig Privatkonzerte in unpassendem Ambiente geben, das Ansehen der Wiener Philharmoniker dadurch schädigen.«

»Ja, aber …« Christian hatte ein Benefizkonzert in einer Kleinstadt gegeben. Aber das hätten die Kobaliks dem Orchestervorstand doch nicht mitteilen müssen!

»Aber wegen so etwas wird man doch nicht suspendiert!«

»Die Kobaliks haben ihm auch noch diesen Skandal angehängt, von dem du mir erzählt hast. Die Sache mit der Musiklehrerin. Unzucht vor Minderjährigen.« Ihre Stimme klang zynisch. »Oder haben sie sogar gesagt, Unzucht mit Minderjährigen?«

Ich traute meinen Ohren kaum. Die Kobaliks hatten ganze Arbeit geleistet. Warum hassten sie Christian denn plötzlich so? Ich selbst konnte ihn noch nicht mal so hassen! Aber vielleicht kann Hass wachsen. Ich würde daran arbeiten.

»Was hat Papa genau gesagt?« Mein Herz raste, und nicht nur wegen des Joggens.

»Dass er jetzt keine Kohle mehr verdient. Herzlichen Glückwunsch, Mama.«

Oh Gott! Ich bekam keine Luft mehr und musste stehen bleiben. Grazia hoppelte wie ein batteriebetriebener Hase weiter: »Was ist los, Mama? Machst du schon schlapp?«

»Nein, es ist nur …« Ich holte auf. »Das ist alles total blöd gelaufen …«

»Papa sagt, die Kobaliks haben sich gegen ihn verschworen, und das hat alles mit dir zu tun.«

Ich versuchte mein Seitenstechen wegzuatmen. Das lief ja alles so was von gründlich schief! Dass die Kobaliks so weit gehen würden, hatte ich ja nicht ahnen können! Gut, sie hatten mir schon von ihren Möglichkeiten als »Freunde und Förderer« erzählt und auch angedeutet, dass sie Christian schaden konnten. Wolfgang Kobalik hatte irgendwas von einem Denkzettel gefaselt. Ich hatte das für Wichtigtuerei gehalten. Aber dass Christian nun kein Geld mehr verdiente, war doch gar nicht in meinem Sinne! Er sollte mir doch laut Ralf Steiner saftigen Unterhalt zahlen! Mir wurde mit einem Mal verdammt mulmig zumute. Es war, als hätte ich plötzlich einen Mühlstein um den Hals hängen. Mit jedem Schritt wurden meine Beine schwerer.

»Und was sagt Papa noch?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.

»Er hat echt keine Ahnung, was in dich gefahren ist«, sagte Grazia keuchend. »Und ich ehrlich gesagt auch nicht.« Sie sah mich provozierend an. »Selbst wenn er dich betrogen hat, wie du sagst. Aber er schwört Stein und Bein, dass das gar nicht stimmt.«

»Ach, Schatz«, sagte ich schließlich traurig. »Wir haben uns eben auseinandergelebt. Das kommt in den besten Familien vor. Und seinen Job wird er schon nicht verlieren. Immerhin ist er der erste Mann in der Bläsergruppe! Man kann ihn überhaupt nicht so ohne Weiteres ersetzen!«

»Papa sieht das anders«, widersprach Grazia mir mit geröteten Wangen. »Er sagt, wenn er keinen Job mehr hat, kann er auch keinen Unterhalt für uns zahlen. Dann können wir uns unsere Ausbildung sonst wohin stecken. Papa hat keine Ahnung, was in deinem Kopf vorgeht!«, giftete sie mich an. »Du zerstörst ihn, und WIR sind die Leidtragenden! Ist dir das überhaupt klar? Wenn du dich rächen willst, dann bitte nicht auf unsere Kosten!«

Nun hatte sie sich wohl doch auf seine Seite geschlagen. Das konnte ich nicht ertragen. »Ach, ich zerstöre IHN? Und EUCH? Ich war immer für euch da, habe alles für euch aufgegeben!«, stieß ich verletzt hervor. »Ich bin NICHT schuld an der ganzen Misere! ER ist schuld!«

»Papa sagt, dass die Kobaliks dir ins Hirn gepisst haben! Dass du keine eigenen Entscheidungen mehr triffst. Dass du nicht mal mehr mit ihm redest, hat er nach achtzehn Ehejahren nun wirklich nicht verdient!«

Also, das war doch … ICH hatte nicht verdient, dass er mich betrog! Nach so vielen Ehejahren! WER hatte denn nun den Schwarzen Peter? Ich hatte die Kinder da raushalten wollen. Aber er zog sie mit hinein!

»Es war Papas freie Entscheidung, mich zu betrügen«, spuckte ich wütend aus.

»Wieso gibt Papa das mir gegenüber dann nicht zu?«

»Keine Ahnung. Welcher Mann gibt schon gern zu, dass er ein Arschloch ist!«

Oh. Oh Gott. Das hatte ich so nicht sagen wollen. Jetzt ging die Wut mit mir durch. Ich drosselte automatisch das Tempo, denn Grazia blieb nun ihrerseits schnaufend zurück.

»Papa ist kein Arschloch!«, schrie sie wütend hinter mir her. Kopfschüttelnde Jogger überholten uns.

»Nein. Entschuldige. Natürlich nicht.«

»Also? Redest du wenigstens noch mal mit ihm? Papa sagt, er geht auch gerne mit dir zu einer Eheberatung! Du musst ihm doch noch eine Chance geben!«

»Liebes, wir schaffen das auch allein. Die Kobaliks beraten mich bereits hervorragend.«

»Was haben die eigentlich damit zu tun?« Grazia zog verärgert ein Taschentuch aus der Hose und schnaubte hinein. »Wenn Gloria und ich uns streiten, sagst du doch auch immer, dass wir das untereinander regeln sollen.«

»Die Kobaliks haben beide schon eine Scheidung hinter sich, und ihre Tochter auch. Die wissen genau, was zu tun ist!«

»Bist du sicher, Mama? Dass die unser Vorbild sind?«

»Sie helfen uns, laden uns ins Musical ein und spendieren uns ein tolles Hotel!«, rief ich meiner Tochter wieder ins Gedächtnis. »In unserer Abwesenheit regeln sie alles, damit es uns nicht so wehtut. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar.«

»Mich stört das, Mama! Ich kann die nicht leiden, diese großkotzigen Angeber! Jeden Tag sitzen die jetzt bei uns rum! Und Papa darf nicht mehr rein! Ich finde das nicht fair, Papa gegenüber!«

Ach! Wie fair war ER denn? Ich stieß ein verärgertes Schnauben aus. »Papa hat überall auf der Welt eine andere Freundin. Und ich habe niemanden, nur euch. Aber euch möchte ich nicht damit belasten. Deshalb brauche ich die Kobaliks.«

»Papa hat keine Freundinnen!«

»Kobaliks kennen mindestens ein Dutzend. Mit Namen.«

»Aber Papa sagt, er ist dir nie fremdgegangen!« Wütend stampfte Grazia mit dem Fuß auf.

»Hat er das wirklich gesagt?« Irritiert starrte ich sie an.

»Ja-ha! Ich hab dir doch gesagt, er hat voll keine Ahnung, wieso du so krass drauf bist!«

Leise Zweifel schlichen sich ein, und unwillkürlich lief ich wieder schneller. »Was sagt Papa denn noch?« Mein Herz klopfte wie wild.

»Dass er dir Zeit geben, dich in Ruhe lassen will, bis du dir die Sache noch mal überlegt hast. He, Mama, ich kann nicht so schnell.«

»Liebes, da gibt es nichts zu überlegen. Er hat mich immer wieder betrogen. Und damit ist jetzt Schluss.« Ich trat einen Stein vor mir her, bis er seitlich im braunen Gras verschwand.

»Und das weißt du von den Kobaliks.«

»Das weiß ich von den Kobaliks UND von dem Mann einer Frau, mit der Papa mich ebenfalls betrogen hat.«

»Der Typ von der Sparkasse. Der bei uns angerufen hat. Und dem glaubst du mehr als Papa?«

»Ja. Wenn schon gehörnte Ehemänner bei gehörnten Ehefrauen anrufen, und das auch noch an Weihnachten, dann ist doch das Maß voll, oder?«

Grazia sagte nichts mehr. Plötzlich blieb sie stehen und keuchte: »Ich habe Seitenstiche.«

»Seitenstiche sind besser als Herzstiche«, sagte ich. Den Rest der Alsterrunde absolvierten wir im Schritttempo.