LOTTA

Mir war total schlecht. Seit Stunden saß ich in Sophies schwarzem Mercedes und starrte wie hypnotisiert in die graue Winterlandschaft. Gerade hatte ich München hinter mir gelassen und fuhr auf der Autobahn A 8 nach Salzburg. Wahrscheinlich in mein Unglück. Sophie hatte mir vor der Abfahrt noch den Navi programmiert, damit ich das abgelegene Haus am Wolfgangsee auch fand. Es schneite, und die Scheibenwischer quietschten jämmerlich. Was machte ich bloß hier? Ich fuhr doch nicht tatsächlich zu …

»Lotta, trau dich! Bestimmt wartet er auf dich«, hatte Sophie mich noch beschworen.

»Ich weiß nicht …«

»Probier es doch wenigstens aus! Es wird bestimmt gut gehen mit euch beiden!«

»Aber er will es vielleicht gar nicht … Wir sollten nichts erzwingen!«

»Ihr erzwingt ja gar nichts!« Sie hatte gelacht.

»Lass uns lieber noch mal darüber reden.«

»Geredet haben wir lange genug. Du bist doch sonst eine Frau der Tat!«

»Ich kann doch nicht einfach … Sophie, ich trau mich nicht!«

»Vielleicht geht ihr euch schon nach kurzer Zeit auf die Nerven. Dann kannst du Christian endgültig aus deinen Gedanken verbannen!«

»Und wenn nicht?«, hatte ich zitternd und zagend gefragt. Komischerweise war ich mir SICHER, dass wir perfekt zusammenpassten. Und jetzt saß ich in dieser schnurrenden Limousine und rauschte Christian entgegen, der noch nichts davon ahnte. In dem Haus gab es kein Telefon. Möglicherweise war Christian längst nicht mehr dort, sondern wieder bei seiner Frau in Wien. In der Villa mit den Bremer Stadtmusikanten. Ich sah mich schon einsam und verfroren an der Haustür rütteln! Oh Gott, ob das wirklich eine gute Idee war? Eigentlich war es gar keine Idee. Es war ein REFLEX. Und dem hatte ich letztendlich doch gehorcht. Meine Kinder waren mitsamt Caspar bei Sophie. Meine Freundin hatte mir hoch und heilig versprochen, auf sie aufzupassen, bis ich zurück sein und eine Entscheidung getroffen haben würde.

Aber was für eine Entscheidung bitte schön? Wie stellte sie sich das denn vor? Dass ich mit Christian im Schlepptau zurückkam und einfach die Kinder einpackte? Du, sorry, Jürgen, aber a bisserl war das Ganze auch deine Schuld? Nun sei ein fairer Verlierer und gib den Kindern ein paar Computerspiele mit auf den Weg? Wir leben jetzt in einem Ferienhaus am Wolfgangsee? Auch wenn es dort keinen Strom und kein fließend heißes Wasser gibt – wir haben immerhin UNS. Die Kinder werden in St. Wolfgang bestimmt neue Freunde finden. Ein Kindergarten wird die Zwillinge mit offenen Armen aufnehmen, während Paulchen gleich in die Schule für musisch Hochbegabte kommt. Vielleicht in … Dings. Wie hieß die nächste österreichische Kreisstadt gleich wieder, in der man lesen und schreiben kann? Genau. Bad Ischl. Eine … ähm … ehemalige kaiserliche Residenzstadt, in der schon Sissi ihren Nachwuchs aufgezogen hat.

Man muss nur den Mut haben, neu anzufangen!, redete ich mir immer wieder ein, während mein altes, ängstliches Ich immerfort klein beigeben und zu Jürgen zurückkehren wollte. Bestimmt träumte ich das nur. In Wirklichkeit saß ich zu Hause in Heilewelt und wartete darauf, dass dieser schöne Traum ein Ende nahm. In Wirklichkeit hatte ich gar nicht den Mut, mich einfach in Sophies Auto zu setzen und achthundert Kilometer ins Ungewisse zu fahren! In Wirklichkeit rief ich jetzt alle Heilewelter Eltern einzeln an und flehte sie an, mir doch noch eine Chance zu geben.

Die Dame des Navigationssystems unterbrach meine Gedanken: Wenn möglich, bitte wenden! Oh Gott, ich sollte wenden! Sie sagte das auch! Gute Idee. Ich konnte immer noch wenden. Nach Heilewelt, in den Borkenkäferweg zurückkehren. Die Abschiedsszene lief immer wieder wie ein Kurzfilm vor meinem inneren Auge ab: Jürgen hatte befremdet zur Kenntnis genommen, dass ich zu einem Selbstfindungsseminar nach Neuendettelsau in Mittelfranken fahren würde.

»Du willst mich mit meiner Trauer um meine Mutter tatsächlich allein lassen?«, hatte er fassungslos gefragt.

Ich hatte ihn um Verständnis gebeten: »Bitte, Jürgen. Nur zwei, drei Tage.« Und mit einem Seitenblick auf meine Mutter: »Ich halte es hier einfach nicht mehr aus!«

Zu meiner Überraschung hatte sich Jürgen erst ratlos am Arm gekratzt und dann erstaunlich großmütig gesagt: »Bitte. Du bist ein freier Mensch.«

»Danke, ich weiß das sehr zu schätzen. Nur bis sich die Wogen hier wieder ein wenig geglättet haben.«

»Vom Weglaufen glättet sich gar nichts. Aber wer nicht bügeln kann, glaubt so was natürlich … Fahr du nur weiter auf deinem Egotrip!«, keifte meine Mutter dazwischen.

»Na ja, bevor sie wieder tagelang in ihrem Arbeitszimmer sitzt und heult …« Jürgen war verblüffend einsichtig. »Fahr du mal zu deinem Seminar und geh in dich. Und vergiss nicht sicherzustellen, dass du es von der Steuer absetzen kannst!«

Das hatte ich ihm natürlich bereitwillig versprochen.

»Allerdings kann ich mich in deiner Abwesenheit nicht um die Kinder kümmern.«

»Nein. Wo denkst du hin!«

»ICH auch nicht!« Meine Mutter hatte sich bei Jürgen eingehängt: »Ich werde nämlich Walters Einzug überwachen.«

Jetzt, wo Lenchen tot war, würde mein Schwiegervater zu uns übersiedeln, mitsamt Leffers und Unmengen von altem Plunder, der sich bereits in meinem Arbeitszimmer türmte. Ein Grund mehr, Sophies spontanes Angebot, bestehend aus Kinderbetreuung, Wolfgangsee-Ferienhaus und Mercedes mit Navigationssystem, anzunehmen und die Flucht nach vorn anzutreten.

»Ich habe nichts zu verlieren!«, murmelte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Wenn möglich, bitte wenden.« Die Navi-Dame ließ nicht locker.

»Ach, wissen Sie was? Ich kann auch weiterfahren.«

»Wenn möglich, fahren Sie hundertachtundneunzig Kilometer geradeaus und halten sich dann RECHTS.«

»Ja, danke, wird gemacht.«

In meinem Kopf ging es zu wie in einem Ameisenhaufen.

Umkehren.

Weiterfahren.

Unterordnen.

Rausfinden, was das Leben noch so für mich bereithält.

Zum Lachen in den Keller gehen.

Mit Christian schallend lachen.

Frühstück im Borkenkäferweg.

Frühstück am offenen Kamin.

Spaziergang mit Jürgen in den Schrebergärten.

Spaziergang mit Christian am Wolfgangsee.

Romantischer Abend mit Christian.

Ro… ähm … mit Jürgen.

Kurz vor der Ausfahrt Mondsee meldete sich die Dame wieder: »Halten Sie sich RECHTS.«

Ich schluckte trocken. Draußen war es inzwischen stockdunkel. Den ganzen Tag hatte ich nun in diesem Auto gesessen und fühlte mich völlig eingerostet. Wie musste Christian sich gefühlt haben, als er zu mir aufgebrochen war? War er genauso aufgeregt gewesen? So planlos und verzweifelt? Nein. Er hatte, ganz Herr der Lage, noch rote Rosen besorgt. Im dunklen Anzug den perfekten Auftritt hingelegt. Einen Antrittsbesuch alter Schule. Lässig und souverän. Andererseits hatte er eine persönliche Einladung von Jürgen gehabt.

Christians Frau Anita dagegen hatte mir gegenüber keine Einladung ausgesprochen. Im Gegenteil. Die wusste genau, was sie wollte, und hatte sich einen scharfen Anwalt genommen. Für die Scheidungskosten sollte ich aufkommen, am besten noch für ihren Unterhalt. So nach dem Motto: Ehemann gegen Leibrente. So was muss einem erst mal einfallen! Seinen Alten bei eBay verticken wie Schuhe … Dem war ich nicht gewachsen. Bestimmt würde ich als Verliererin aus diesem Rennen hervorgehen.

Fürs Erste konnte ich nur hoffen, DASS Christian überhaupt in der Hütte war! Dass er ALLEIN in der Hütte war! Vielleicht söhnte er sich dort genau in diesem Moment mit seiner blonden, Blüten streuenden Anita aus. Oder eine Abordnung der Wiener Philharmoniker leistete ihm Gesellschaft! Vielleicht übten sie die launische Forelle oder ein anderes thematisch passendes Streichquartett! Sie würden ihre Brillen auf die Stirn schieben, ihre Geigen und Bratschen weglegen und mich irritiert anstarren: Was wollen Sie denn hier, so mitten in der Nacht? Der Mann gehört Ihnen nicht! Machen Sie, dass Sie wegkommen! Oder Christian hatte sich ein Dorfdirndl angelacht? Eine dralle Bauerntochter aus der Nachbarschaft, damit sie ihn auf andere Gedanken brachte? Doch die Navi-Dame blieb zuversichtlich und schlug mir vor, den Mondsee rechts zu umrunden.

Bald darauf entdeckte ich inmitten von Nebelschwaden auf einem Hügel das Ortsschild »Sankt Gilgen«. Ich bekam Gänsehaut. Was tat ich nur, was tat ich? Ich war verrückt geworden. Absolut verrückt. In meiner Verwirrtheit las ich auf dem nächsten Schild »Sankt Galgen«. Hier konnten sich abtrünnige Familienmütter bestimmt hervorragend aufhängen. Stillgelegte Seilbahnen schaukelten einsam im Wind. Rechts von mir baute sich bedrohlich ein steiler schwarzer Berg auf. Eingeschüchtert sah ich mich um. In dieser Landschaft würde ich niemals Fuß fassen können. Ich brauchte meine ausgetretenen Trampelpfade. Hauptsache, es ging nicht bergauf.

Hauptsache, es ging nicht bergauf? Hatte ich das tatsächlich gedacht? Vielleicht sollte es endlich mal bergauf gehen in meinem Leben! Auch wenn es Mut kostete! Entschlossen trat ich wieder aufs Gas. Ich war hier und würde das jetzt durchziehen. Zurückfahren konnte ich morgen immer noch. Oh Gott, wie lange dauerte das denn noch? Ich wusste nicht, was ich mehr fürchtete: weitere Stunden durch diese dunkle Einöde fahren oder vor der Hütte mit Christian stehen. Und dann?

Der Wolfgangsee lag zu meiner Linken. Vom anderen Ufer leuchtete die Kirche von Sankt Wolfgang herüber. Der spitze Turm spiegelte sich im See. Nicht weit davon lag das Ferienhaus. Auf einmal beflügelte mich ein ungekanntes Selbstbewusstsein, und ich fühlte mich den Gipfeln der mich umgebenden Berge näher als je zuvor.

Die Navigationsdame leitete mich bis ans hinterste Ende des Sees. Die Straße wurde immer enger, die Häuser immer dunkler und abweisender. Im Sommer schmückten hier sicherlich Blumenmeere die Balkone, aber jetzt war alles tot und abgestorben. Das Ortsausgangsschild »Ried am Wolfgangsee« lag hinter mir, danach kam nur noch der finstere Schafberg. Es war dreiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig. Keine Uhrzeit, zu der man irgendwo auftaucht und behauptet, man wolle nur mal kurz Hallo sagen. Die Straße wurde zum Feldweg. Im zweiten Gang holperte ich über vereiste Schlaglöcher. Rechts von mir schwarz und schweigend der Wald. Vor mir die noch schwärzere Felswand. Links schwarz der See. Hier war das Ende der Welt.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Na toll, vielen Dank auch!

Auf einer schneeverkrusteten Ebene entdeckte ich das Ferienhaus. Jemand hatte Schnee von den Stufen geschaufelt. Die Schaufel lehnte an der Hauswand. Es waren unterschiedliche Fußabdrücke zu sehen. Oder bildete ich mir das nur ein? Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Wenn sie jetzt da drin war! Wenn sie eng umschlungen da drinnen schliefen! Was fiel mir dummer Gans ein, hierherzufahren! Als ob er tagelang auf mich warten würde!

Ich hatte nicht den Mut zu klopfen.

Was, wenn Christian mir die Tür vor der Nase zuschlagen würde? Was, wenn Anita mir mit dem Jagdgewehr eins überbraten würde? Was, wenn sie mich beide auslachen würden? Oder, noch schlimmer, bemitleiden! Komm doch rein, du armes verwirrtes Hascherl! Hier hast du eine heiße Suppe, aber bleiben kannst du nicht.

Ich blieb lange im Wagen sitzen, umklammerte das Lenkrad, starrte auf die Holztür, betete und bangte. Ich hatte nicht die Kraft, auszusteigen, nicht den Mut, an diese Tür zu klopfen. Leise schneite die Scheibe zu. Ich würde hier drin noch erfrieren, wenn ich jetzt nicht eine Entscheidung traf! Am liebsten hätte ich meinen Kopf aufs Lenkrad gelegt und einfach aufgehört zu atmen. Ich sollte Sophie anrufen. Ob sie noch wach war? War hier überhaupt Handyempfang? Panik überkam mich. Besser, ich ging ins Hotel. Morgen war auch noch ein Tag. Besser, ich peilte die Lage bei Tageslicht. Irgendein Hotel musste in Sankt Wolfgang doch noch offen sein! Ich ließ den Motor wieder an und legte den Rückwärtsgang ein. Die Räder drehten durch. Mist! Wie schnell konnte man denn hier einschneien? Ich trat aufs Gas, der Motor heulte hysterisch auf. Vor lauter Schreck rollte ich vorwärts und wäre fast im See gelandet. Meine Hände zitterten. Noch einmal ließ ich den Motor aufheulen, wollte im Rückwärtsgang mit Schwung den Hügel hinaufzufahren. Ohne Erfolg. Ein Albtraum. Wann würde ich endlich aufwachen? Das war die gerechte Strafe. Wieder rutschte ich ein paar Meter nach vorn. Ich würde im Wolfgangsee ertrinken. Meine aufgedunsene Leiche würde allerdings erst im Sommer gefunden, wenn spielende Kinder beim Angeln …

Plötzlich ging die Tür des Holzhauses auf. Der warme Schein eines Kaminfeuers fiel auf den verschneiten Feldweg, und eine männliche Gestalt stand in meinem Scheinwerferlicht.

Der Schein einer Taschenlampe huschte über mein Auto.

Es war Christian. Da stand er, im Schneegestöber. Ich hielt den Atem an. Doch keine blonde Frauengestalt im weißen Negligé schob sich fragend neben ihn. Er war allein. Er trug einen grob gestrickten Pullover und hatte einen Schürhaken in der Hand.

Sein erster Blick galt meinem Nummernschild. Sein besorgter Gesichtsausdruck wurde weich, ein fragendes Lächeln schlich sich um seine Mundwinkel, und ehe er es verhindern konnte, stand ihm die helle Freude ins Gesicht geschrieben. Rasch trat er auf meinen Wagen zu. Ich ließ das Fenster hinunterfahren. Seit dem misslungenen Wendemanöver hämmerte mein Herz wie ein Presslufthammer. Aber ich HATTE nicht gewendet! Auch wenn die Navi-Dame mir das nahegelegt hatte.

Sein vertrautes Gesicht kam immer näher. Ich war entzückt. So also sah Christian privat aus. In einem dicken Pullover, ohne weißes gestärktes Hemd, mit ungekämmten, ein wenig zu langen Haaren. Er hatte einen Dreitagebart, der ihn fast schon verwegen wirken ließ.

»Bist du es wirklich?«

In der Eiseskälte stand ihm sein Atem in weißen Wölkchen vor dem Gesicht. Er riss die Tür auf und zog mich behutsam aus dem Auto. Stumm sank ich in seine Arme. Meine Beine hätten mich ohnehin nicht mehr getragen.

»Ich glaube, das mit der Autosuggestion funktioniert tatsächlich«, murmelte Christian mir ins Ohr. »Ich habe intensiv an dich gedacht, und jetzt bist du da.«

»Ja. Ich bin da!«, stammelte ich. »Ich habe dich gefunden.«

»Du bist der Wahnsinn!«

»Ich bin wahnsinnig! Das trifft es eher!«

»Komm rein, du bist ja ganz durchgefroren …« Christian zog mich mit warmen Händen ins Haus, das eigentlich eher eine Hütte war. Es roch nach feuchtem Holz. Sophie hatte mir schon erzählt, dass sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen war und die Hütte bestimmt in einem erbärmlichen Zustand sei. Verstohlen sah ich mich um. Nichts deutete darauf hin, dass noch eine andere Frau zugegen war. Eine Matratze lag vor dem Kamin, darauf eine graue Wolldecke und ein abgewetztes Sofakissen. Auf dem gescheuerten Holztisch stand eine angebrochene Flasche Rotwein. Außerdem sah ich ein Brett mit Käse, Brot und Speck sowie ein Taschenmesser. Weiter hinten konnte ich seinen Flötenkasten und ein paar Noten erkennen.

Christian räumte ein paar Klamotten von der Holzbank und schob mir ein Kissen hin. »Setz dich doch!«

Statt mich zu setzen, fiel ich ihm erneut um den Hals. »Ich bin auch überrascht«, stammelte ich. »Dass du wirklich hier bist! Dass ich dich nicht geträumt habe!«

Er umarmte mich und roch nach Schafwolle, Kaminrauch und Geborgenheit. Sein Dreitagebart pikste ein bisschen. Es kam mir vor, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Auf einmal fühlte ich mich angekommen. Es war verrückt, verboten, absolut unmöglich!

Christian betrachtete lächelnd mein Gesicht, in dem wahrscheinlich gerade tausend Sommersprossen explodierten. In seinen braunen Augen spiegelte sich das Kaminfeuer. Kleine Flammen tanzten in seinen Pupillen, und in den züngelnden Flammen erkannte ich meine roten Haare. Bestimmt war ich schon in der Hölle. Aber wenn, war es dort wunderbar. Ich schloss die Augen.

Sein Kuss war weich und liebevoll. Alle Anspannung fiel von mir ab, und damit verschwanden auch die Selbstzweifel, das Gefühl, etwas Böses zu tun. Christian sah mich nach wie vor an, als wäre ich ein seltener Schmetterling.

»Du bist ein Engel, dich schickt der Himmel! Seit Tagen sitze ich hier und frage mich, was du wohl machst, wie es dir geht, was du denkst und was du fühlst …« Er nahm das Rotweinglas und reichte es mir. »Und auf einmal stehst du vor der Tür!«

Der Wein war samtig schwer und schmeckte wunderbar. Als Engel hatte mich noch nie jemand bezeichnet.

»Wie mutig von dir, einfach herzukommen«, sagte er. »Nach allem, was war.«

»Es ging nicht anders«, antwortete ich.

»Was meinst du damit?«

»Du bist mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«

»Mir ging es genauso. Dabei habe ich es wirklich versucht.« Christian steckte die Hände in die Hosentaschen und wandte sich ab. »Wir machen so viele Menschen unglücklich, so viele Hoffnungen zunichte, enttäuschen so viel Vertrauen …«

Plötzlich fror ich bis ins Mark. Gleichzeitig schmolz ich dahin. Weil er nämlich alles andere als ein Luftikus war! Ich erzählte ihm vom Tod meiner Schwiegermutter, davon, dass man mir die Schuld daran gab. Ich berichtete von den bösen Blicken, dem Spießrutenlauf durch meine Stadt.

»Mein armes Herz!«, sagte Christian. »Und das alles meinetwegen.«

Ich nahm einen Schluck Wein und sah ihn verzweifelt an: »Ich habe das alles nicht mehr ausgehalten. Es kam der Punkt, wo ich einfach nur noch weg wollte. Sophie hat mich schließlich überredet.«

»Und dein Mann? Weiß er, dass du hier bist?«

»Nein, er denkt ich bin auf einem Seminar.«

»Und die Kinder?«

»Die sind bei Sophie. Mein Au-pair-Junge auch. Für ein paar Tage ist das schon okay.«

»Du kannst froh sein, dass du Sophie hast. Und deinen Caspar. Ein feiner Kerl übrigens! Deine einzigen Verbündeten.«

»Fast!«, sagte ich und schaute ihn vielsagend an. Nach einem tiefen Seufzer fragte ich: »Wie soll es jetzt weitergehen? Was ist dein Plan?«

»Na, für den Moment hätte ich da schon eine Idee …«

Christian strich mir ganz sanft über die Wange und fuhr mit dem Daumen meine Lippen nach. Sie kribbelten wie tausend Stecknadeln.

»Ich bin nämlich auch nur ein Mann, weißt du …« Mein Blick folgte dem seinen zur Matratze vor dem Kamin.

»Und ich nur eine Frau«, flüsterte ich heiser. »Es ist nur ein bisschen kalt hier …«

Christian nahm ein paar Scheite und warf sie ins Feuer. Schlagartig wurde es heiß. Richtig heiß. Christian zog mich an sich, bedeckte mich mit zärtlichen Küssen. Ich fühlte mich nicht bedrängt, nicht überfallen, nicht in der Pflicht, die Sache irgendwie zu Ende zu bringen. Ich ließ meine Jacke von den Schultern gleiten und achtlos zu Boden fallen.

»Ich male es mir schon die ganze Zeit aus«, murmelte Christian, während er mich sanft auf die Matratze zog. »Ich habe jede Sekunde an dich gedacht.«

»Und ich an dich! Kommen wir dafür in die Hölle?«

Er sah mich durchdringend an: »Wenn wir gemeinsam dort landen, kann es so schlimm nicht werden! Liebste, lass dich einfach fallen!«

Und das tat ich dann auch.

Sieben verhaltene Glockenschläge drangen an mein Ohr. Vorsichtig schlug ich ein Auge auf, in Erwartung des Heilewelter Kirchturms und der grauen Reihenhäuser des Borkenkäferweges vor dem Schlafzimmerfenster. Aber ich lag wirklich auf der schmalen Matratze vor dem Kamin in Sophies Hütte. Vor dem Fenster wogten dunkelgrüne Tannen im Wind, und ein Kahn schaukelte auf den Wellen. Christian hantierte bereits fröhlich pfeifend am Herd und brutzelte Eier mit Speck. Ein verführerischer Duft zog mir in die Nase. Als Christian merkte, dass ich wach war, kam er mit einer Tasse Kaffee zu mir, beugte sich zu mir hinab und reichte sie mir lächelnd. Der Kaffee duftete betörend. Er war heiß und stark. Sehnsüchtig zog ich Christian zu mir herunter. Wir liebten uns ausgiebig und zärtlich, fühlten uns wie im siebten Himmel. Bis mein Handy in der Handtasche »Halleluja« sang. Nanu! Wieso hatte mein blödes Handy hier Empfang? Handys haben nur Empfang, wenn man sie gerade nicht braucht!

Christian griff in meine Handtasche, die neben meinem Kopfkissen stand, und reichte es mir. »Geh dran!«, sagte er. »Es könnten deine Kinder sein.«

Mit einem Blick auf das Display stellte ich fest, dass es Caspar war, und nahm den Anruf entgegen.

»Wie geht es dir?«, fragte Caspar mit seinem süßen Akzent. »Bist du gut gekommen?«

Ich musste lachen. »Ja, doch. Danke der Nachfrage.«

Christian grinste ebenfalls. Fürsorglich stopfte er mir das Kissen in den Rücken.

»Und bei euch? Alles in Ordnung?«

»Ich habe gebrochen«, sagte Caspar mit ungewohnt näselnder Stimme.

»Oh! Hast du was Falsches gegessen?«

»Nase gebrochen.«

Erschrocken setzte ich mich auf. »Was ist passiert?«

»Wir sind gestern auf Sophies Trampolin herumgesprungen, und ich bin gegen einen Pfosten gehüpft. Es tut mir furchtbar leid, aber ich bin im Krankenhaus.«

»Nein!«, heulte ich auf. »Bitte, Caspar, sag, dass das nicht wahr ist!«

»Leider wahr. Aber Sophie sagt, sie schafft das auch allein, und du sollst ruhig bleiben. Sie hat mir verboten, dich anzurufen, aber ich denke, ich muss dir die Wahrheit sagen.«

Ich fuhr mir hilflos über die Stirn: »Natürlich, Caspar. Ich danke dir. Ähm … wie lange musst du im Krankenhaus bleiben?« Ich presste die Lippen zusammen, so schäbig kam ich mir vor.

»Leider auch noch Schläfe geprellt und Schulter ausgekugelt«, sagte Caspar.

»Tut es sehr weh?«, sagte ich verzweifelt.

»Stehe unter Schmerzmitteln«, informierte mich Caspar. »Aber der Arzt sagt, ich kann erst mal nicht arbeiten. Es tut mir wirklich leid, Lotta! Du sollst doch Spaß haben!«

Doch wie sollte ich Spaß haben, wenn meine Freundin jetzt fünf Kinder an der Backe hatte? Man kann sein Glück auch überstrapazieren.

Ich wünschte Caspar gute Besserung und rief Sophie an.

Inmitten von tosendem Lärm meldete sie sich betont fröhlich: »Hallo, Lotta! Hier ist alles im grünen Bereich! Ich habe Caspar eingeschärft, dich in Ruhe zu lassen! Sorge dich nicht, lebe!«

Wieder konnte ich mir nicht verkneifen, zu sagen: »Sophie, du weißt doch, dass nur Bestseller so heißen!«

»Wie geht es euch? Ist die Hütte halbwegs wohnlich?«, erkundigte sie sich.

»Es ist alles ein Traum, Sophie! Aber wir können doch nicht …«

»Lotta, wer A sagt, muss auch B sagen. Du bist jetzt da unten und nutzt die Zeit!« Sophie lachte so glockenhell, dass ich mich kurz entspannte.

»Die Kinder sind so gut erzogen, sie helfen mir im Haushalt und … Nicht, Luna, lass das stehen, das geht kaputt …« Ein mittleres Erdbeben drang durch die Leitung.

»Sophie?«

»Ach, das war nur die Blumenvase.« Sophies Stimme klang etwas erstickt »Aber Luna weint jetzt, ich glaube, sie hat sich wehgetan. Vorsicht, Stella, nicht barfuß in die Scherben treten!« Ich hörte Luna und Stella entsetzt aufheulen und weiteres Geschirr zu Bruch gehen. »Paulchen, bring mir schnell den Staubsauger, und du, Clemens, den Verbandskasten …«

Die Leitung wurde unterbrochen.

Das war ein Zeichen: Es sollte eindeutig nicht sein. Mein Glück war nur ein gestohlenes Glück. Mein Herz war schwer wie Blei, als ich Jürgen anrief.

Christian verzog sich wieder diskret in die Küche.

Ich erzählte Jürgen von Caspars Unfall und bat ihn, bei Sophie vorbeizuschauen.

»Gern, sobald ich hier in der Sparkasse ein wenig Luft habe«, ächzte Jürgen. »Allerdings habe ich meinen Vater zu Hause sitzen. Und den Hund. Ständig kommen Trauergäste. Es ist alles ein bisschen viel für mich.« Ich hörte ihn etwas in seinen Laptop tippen. »Und du? Konntest du schon die eine oder andere Erkenntnis gewinnen? Wie läuft dein Seminar?«

Ich wollte im Boden versinken vor Scham. »Oh, ähm. Mein Seminar. Ja, es ist sehr aufschlussreich.«

»Hast du ein bisschen über unsere Beziehung nachgedacht?«

»Pausenlos.«

»Und über deine Mutterpflichten?«

»Jürgen, ich komme fast um vor Schuldgefühlen!«

»Dann scheint das Seminar ja zu wirken.« Seine Stimme klang zuckersüß.

»Ja. Versprich mir, dass du nach den Kindern schaust!«

»Wie gesagt, ich habe Prioritäten. Aber ich könnte deine Mutter darum bitten.«

»Nein, DU sollst nach ihnen schauen!« Meine Stimme nahm einen schrillen Klang an.

Christian steckte besorgt den Kopf durch den Türspalt. Wie gut, dass der Duft nach kross gebratenem Speck und Frühstückseiern nicht durch den Hörer nach Heilewelt wabern konnte.

»Weißt du, Lotta …«, sagte Jürgen, als spräche er mit einer geistig unzurechnungsfähigen Patientin. »Ich finde, du solltest ruhig noch ein bisschen in dich gehen. Lass dir von anderen dabei helfen.«

»Aber ich kann hier nur … ähm … an mir arbeiten, wenn ich weiß, dass bei euch zu Hause alles in Ordnung ist«, stieß ich verzweifelt hervor. »Sonst kann ich mich nicht aufs Wesentliche konzentrieren!«

»Wir werden hier geduldig abwarten, bis du herausgefunden hast, was das für dich ist«, sagte Jürgen einfühlsam.

»Jürgen, ich komme sofort heim«, wimmerte ich. Fast wünschte ich mir, er würde es mir befehlen! Oder weinerlich darum betteln! Alles konnte ich ertragen, nur nicht dieses beschämende Verständnis. »Wenn ich jetzt ins Auto steige, bin ich heute Abend da.«

»Nein, ich schaff das schon«, kam es aus dem Hörer. »Befrei dich von seelischem Ballast. Komm mit dir ins Reine. Was nutzt mir eine unglückliche Frau und den Kindern eine unerfüllte Mutter?«

Oh Gott, ich war gerade so was von glücklich und erfüllt und mit mir im Reinen. Am liebsten wäre ich für immer hiergeblieben. Nur die Kinder waren am falschen Ort

»Leb dich aus. Du bist ein freier Mensch«, wiederholte Jürgen sein neues Lieblingsmantra. Und in dem Moment wurde mir alles klar: Er wusste es, er wusste Bescheid. Diesmal kamen keine Vorwürfe und Drohungen von Jürgen. Diesmal gefiel er sich in der Rolle des Tapferen, der heldenhaft einen Seitensprung ertrug – nur um die Familie zu retten. Man würde ihm in Heilewelt ein Denkmal setzen. Ich wusste, dass ich nicht frei war. Und nie sein würde.

Nach einem sehr schweigsamen Frühstück mit Christian machten wir uns auf nach Salzburg. Ich überließ Christian das Fahren, während ich noch einmal Sophie anrief und mit allen Kindern sprach. Sie versicherten mir, dass alles in Ordnung sei. Und Sophies Stimme hörte sich erholt und ehrlich an, als sie mich aufforderte, noch zu bleiben und es zu genießen.

Ich atmete tief durch und genoss den Anblick der Festung, die majestätisch im Nebel über der Stadt thronte. Was für ein Monument! Wie viele Sorgen, Nöte und Intrigen sie wohl schon gesehen hatte!

Christian parkte Sophies Mercedes in der Felsengarage des Festspielhauses. Feuchtkalte Luft schlug uns entgegen, als wir aus dem Auto stiegen. Fröstelnd klappte ich den Mantelkragen hoch. »Wo gehen wir hin?« Ich kam mir vor wie ein scheues Tier, das mal kurz aus seiner Höhle kommt, um neugierig etwas Freiheitsluft zu schnuppern. Aber bei den geringsten Schwierigkeiten würde es blitzschnell wieder in seiner Höhle verschwinden. Christian war da ganz anders: Er schaute nach vorn. Er glaubte wirklich an uns. An eine gemeinsame Zukunft. Er meinte es ernst.

Als er mein Zögern bemerkte, sagte er: »Komm, mein Herz. Zerbrich dir nicht dauernd den Kopf. Jetzt bist du hier. Genießen wir den Augenblick!«

Christian zeigte mir das Festspielhaus, in dem er schon oft mit den Wiener Philharmonikern gastiert hatte, und den Residenzplatz mit dem Dom. Wir tranken eine Melange im Café Tomaselli, wo wir dicht aneinandergeschmiegt in einer dunklen Ecke saßen und das Für und Wider einer gemeinsamen Zukunft besprachen.

Für Christian war alles klar. »Melange! Du holst die Kinder, und wir gründen eine Patchworkfamilie.«

»Ach, Christian«, seufzte ich traurig. »Wenn das so einfach wäre! Und was ist mit deinen Töchtern?«

»Meine Töchter werden zurzeit einseitig beeinflusst, aber ich vertraue auf ihre Intelligenz und ihr Vermögen, sich in beide Elternteile hineinzuversetzen. Du wirst sie lieben. Sie sind großartig!«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Diese Modeltöchter würden auf mich spucken!

Doch Christian ließ sich nicht bremsen. »Auch Anita ist im Grunde ein herzensguter Mensch. Sie ist nur so leicht beeinflussbar …«

»Dasselbe sagt Jürgen von mir!«, unterbrach ich ihn lakonisch. Wir mussten beide lachen.

Ich starrte verschämt in meine Kaffeetasse. Die ganze Zeit über fühlte ich mich beobachtet, aber wahrscheinlich war das nur mal wieder mein schlechtes Gewissen.

Nach einem ausführlichen Stadtbummel und dem Besuch von Mozarts Geburtshaus spazierten wir über die Staatsbrücke und schlugen den Weg zum Kapuzinerberg ein. Eisiger Wind schob dunkle Wolken vor sich her. Steil wand sich der Pfad hinauf, gesäumt von reich bebilderten Kreuzwegstationen. Voll die krasse Folterung!, hätte Paulchen begeistert gesagt. Ich mochte gar nicht hinschauen. Genau so würde ich in der Hölle gefoltert werden. Keuchend stiegen wir die mehreren Hundert Stufen hoch und kamen an einem abweisend wirkenden Kloster vorbei, in dessen Kirche ich mich gar nicht hineintraute.

Meine ursprüngliche Hoffnung, Christian und ich würden womöglich gar nicht zusammenpassen, verlor sich auf diesem Spaziergang endgültig. Selbst wenn ich mit diesem Mann auf dem Mond nach einem McDonald’s gesucht oder auf dem Mars Golf gespielt hätte – es wäre mir nicht annähernd so sinnlos vorgekommen, wie mit Jürgen durch die Heilewelter Schrebergärten zu spazieren. Christian wärmte meine eiskalte Hand, indem er sie in seine Manteltasche steckte. Instinktiv suchten meine Finger nach einem schwarzen Filzstift. Aber es war nur ein weicher Lederhandschuh zu spüren. Trotzdem verließ mich mein schlechtes Gewissen für keine Sekunde. Als der einsetzende Eisregen auf mein Gesicht prasselte, fühlte er sich an wie tausend verdiente Ohrfeigen.