LOTTA
»Also, dieses Weihnachten will ich für immer vergessen!« Laut aufseufzend lehnte ich mich auf dem schwarzen Biedermeiersofa meiner Freundin Sophie zurück und schloss die Augen. Sophies Söhne Clemens und Max gingen auch zu mir in die Musikschule, und Sophie und ich waren allerbeste Freundinnen geworden. Wenn ich zu jemandem Vertrauen hatte, dann zu ihr. Es war einer dieser kurzen grauen Tage »zwischen den Jahren«, und ich fühlte mich hundeelend. Dankbar nahm ich einen Schluck von dem Glühwein, den Theresa gebracht hatte. Theresa war die Haushälterin mit der gestärkten Schürze. Wenn ich Sophie nicht so gern gehabt hätte, hätte ich sie wohl vor Neid erwürgt. Sie hatte einfach alles: ein strahlendes Lachen, schwarz glänzende Haare, zwei süße Söhne, die freiwillig Geige und Klavier spielten, eine geschmackvoll eingerichtete Villa und das Beste: einen reichen Ehemann namens Bodo, der sie einfach in Ruhe ließ! Der mehrfache Millionär war Rollmopsfabrikant und immer unterwegs. Hier gab es keine Oma Margot, die ständig im Mittelpunkt stehen wollte, keinen ewig nörgelnden Opa, der missmutig in der Ecke saß, keine Schwiegereltern, keinen kläffenden Köter und keinen weinerlichen Mann, der sie bedrängte. Deshalb hatte ich mich mit den Kindern einfach zu ihr geflüchtet, nachdem die Stimmung bei uns zu Hause endgültig im Keller war. Bei Sophie würde meine heimliche Verliebtheit genauso aufblühen dürfen wie ihre Weihnachtssterne auf den Fensterbänken. Doch auch die würden in wenigen Tagen entsorgt werden. Seufzend sah ich durch die riesigen Panoramafenster in den parkartigen Garten hinaus. Hinter einem Zaun sah ich Sophies Pferde grasen. Rechts lag verwaist der Tennisplatz und links die private Driving-Range. Überall in den Bäumen hingen bunte Lichterketten, und auch hier im Haus war alles liebevoll geschmückt. Es duftete nach Sophies köstlichen Vanillekipferln und Zimtsternen, nach Glühwein und Kakao, nach Nestwärme und Kaminfeuer, nach leben und leben lassen. Sophie ließ mich einfach »nur hier sitzen«. Fast fühlte ich mich schon wie Opa Dietrich: Ich sitze, also bin ich noch. Ganz allmählich fiel die Anspannung der letzten Tage und Nächte von mir ab.
»Es sieht alles wunderschön aus, Sophie. Du hast so einen tollen Geschmack! Du schaffst es, so viel Gemütlichkeit und Wärme zu verbreiten!«
Warum wollte MIR das nicht gelingen? Ich hatte einfach kein Händchen für so was!
»Aber Lotta!« Sophie strahlte mich herzlich an. »Dafür kannst du viele andere Sachen! Vor ein paar Tagen hast du ein sensationelles Konzert dirigiert! Du hast ganz Heilewelt Prokofjew nahegebracht! Du hast die Kinder dieser Stadt für immer geprägt! Die meisten spielen ein Instrument! Sie üben jetzt schon für deine ›Carmina Burana‹ im nächsten Jahr, weil sie unbedingt dabei sein wollen. Das soll dir erst mal einer nachmachen!«
Ach, tat das gut! Offensichtlich war ich doch zu irgendwas nütze. Aber die ständige »berechtigte Kritik« von Oma Margot und Jürgens kulturelles Desinteresse hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Trotzdem, ich bin eine miserable Hausfrau.«
»Du kannst vielleicht keinen Kuchen backen, aber dafür hast du ja deine Mutter.« Sophie lachte. »Wenn ich es so recht bedenke, ist Jürgen viel eher ihr Typ als deiner.« Sie grinste mich entwaffnend an. »Er ist einer der Männer, von denen die Generation unserer Mütter immer geträumt hat.«
»Gediegen, zuverlässig und solide«, sagte ich nickend. »Diese Eigenschaften besingt sie gern.«
»Aber du verdienst dein eigenes Geld«, stellte Sophie fest. »Da muss doch noch mehr sein!«
»Wir ergänzen uns eben: Er ist der Vernünftige, und ich bin die Chaotin. Sagt Oma Margot immer.« Ich hörte selbst, wie wenig überzeugend das klang. »Pippilotta wäre sonst gar nicht lebensfähig«, zitierte ich sie erneut und verzog das Gesicht. »Wie du weißt, habe ich schon mal einen sechsstelligen Scheck zum Altpapier getan! Du kannst dir nicht vorstellen, wie Jürgen sich aufgeregt hat. Dabei war es ein Verrechnungsscheck.«
Sophie ließ ihr Glas leise an meines klirren: »Prost, Pippilotta! Beim nächsten Mann wird alles anders!«
»Ach, komm!« Ich grinste resigniert: »Du weißt doch, dass nur Romane so heißen.«
Sophie zwinkerte mir zu. »Du bist erst Mitte dreißig! Vielleicht kommt die große Liebe noch!« Schelmisch tippte sie auf ihren Ringfinger: »Du bist nicht verheiratet!«
»Hallo? Sophie? Ich hab drei Kinder. Der Zug ist abgefahren.«
»Für Männer gilt diese Regel aber nicht«, meinte Sophie vielsagend. »Die können Kinder haben, so viel sie wollen: Wenn sie sich neu verlieben, sind sie ganz schnell weg!«
»Ja. Männer dürfen so etwas ungestraft, Frauen dagegen werden als Hexen verbrannt.« Fröstelnd rieb ich mir die Arme. Nie, niemals würde ich es wagen, meinen Froschtümpel zu verlassen.
»Und die Männer sind nach wie vor Helden. Boris Becker, Til Schweiger, Franz Beckenbauer, Udo Jürgens, Fritz Wepper, Arnold Schwarzenegger …«
Die nächste halbe Stunde vertrieben wir uns damit, prominente Männer aufzuzählen, die sich trotz angeblicher Traumfamilie und demonstrativ vor sich hergetragener christlicher Werte einfach die Freiheit genommen hatten, sich einer neuen Liebe zuzuwenden und neue Kinder in die Welt zu setzen. Und das, ohne dafür auch nur im Geringsten von der Öffentlichkeit geächtet zu werden.
»Freundin, das Leben ist lebenswert!«, sang Sophie gut gelaunt und prostete mir zu.
Nachdenklich drehte ich mein Glas: »Deines vielleicht. Meines ist eine ziemliche Katastrophe.«
Sollte ich ihr von dem unwürdigen Streit erzählen, den ich in der Nacht mit Jürgen gehabt hatte? Bei dem ich Dinge ausgesprochen hatte, die ich nie hatte sagen wollen? Aber all das nur, weil Jürgen mich so provoziert hatte mit seiner übertriebenen Eifersucht. Mit seinen geschmacklosen Unterstellungen. Mit seiner kränkenden Wortwahl. Ja, genau, es war ganz allein seine Schuld! Später. Vielleicht. Vorher brauchte ich noch ein weiteres Glas Glühwein.
»Hast du schon Zeitung gelesen?«
Sophie wollte mich unbedingt aufheitern.
»Eine zweiseitige Lobeshymne auf dein Konzert! Du bist in aller Munde! Schau mal!« Sie schlug mit der flachen Hand auf das Heilewelter Tagblatt, das sie bereits an der richtigen Stelle aufgeschlagen hatte. »Da ist ein zauberhaftes Bild von dir! Du strahlst so viel Charme aus, dass …«
»Ach, Sophie, jetzt übertreibst du aber!«
»Hier steht, dass sich die Anmeldungen für die Musikschule verdoppelt haben! Das ist keine Schmeichelei, das sind Tatsachen! Ich zitiere: ›Beispiellose Musikbegeisterung bei Jung und Alt …‹«
»Stimmt doch gar nicht.« Ich wurde vor Freude ganz rot. Sophie konnte so neidlos gönnen! Oma Margot hätte auf dieser Seite Kartoffeln geschält. Ach, mir war so danach, mein Herz auszuschütten! Wenn nicht bei meiner geliebten Sophie, bei wem dann?
»Weihnachten war einfach beschissen«, hob ich an. Anschließend redete ich mir alles von der Seele, erzählte die ganze Misere vom sogenannten Fest der Liebe. Vertrauensvoll beugte ich mich vor: »Hast du den Flötisten gesehen?«
»Der bei ›Peter und der Wolf‹ so bezaubernd den Vogel gespielt hat?« Sophies Augen leuchteten. »Wie hätte ich den übersehen sollen!«
»Wie findest du den?« Plötzlich überzog mich eine Gänsehaut, und mein Herz machte einen nervösen Hopser. Ich sah mich wieder auf der kalten Treppenstufe zur Parkgarage sitzen. In seiner Frackjacke. Ich roch ihn noch. Und spürte seinen Händedruck. Und ach, sein Kuss …
Sophie wärmte ihre Hände am Glühweinglas und sah mich versonnen an. Ihre Augen schimmerten ganz merkwürdig. »Ich habe gesehen, wie du ihn während des Konzerts angesehen hast. Keine weiteren Fragen.«
»Ich hab ihm seine Einsätze gegeben.« Errötend vertiefte ich mich in mein Glas.
»Ja, ja«, machte Sophie und zog ein Bein auf den Sessel. »Sehr spezielle Einsätze. Mit den Fingerspitzen. Nicht mit dem Taktstock.«
»So einen seltenen Vogel darf man schließlich nicht verscheuchen«, verteidigte ich mich und spürte, wie die Röte über meine Wangen kroch. »Aber natürlich ist er längst wieder weggeflogen.«
»Du hast dich in ihn verknallt.« Das war eine Feststellung und keine Frage.
»Hm«, machte ich und pustete in mein Glas. Meine Brille beschlug, sodass sie mir nicht direkt in die Augen sehen musste. »Leider ist es nur einseitig.«
»Natürlich. Weil du ja so hässlich bist, so nichtssagend und langweilig.« Sophie sah mich herausfordernd an. »Und Jürgen hat das mitgekriegt.«
Ich erwiderte ihren Blick. »Gerngroß hat es ihm gemailt. An Heiligabend.«
»Gerngroß? Der Bäckermeister? Ist der bescheuert?! Wie kommt der denn dazu, der größenwahnsinnige Idiot?« Meine feine Sophie konnte durchaus deutlich werden. »Ach, ich kann es mir schon denken«, brauste sie auf. »Du hast dich geweigert, seine querschnittsgelähmte Viktoria bei Wetten, dass zu vermarkten und den Wiener Philharmonikern als Stargast unterzujubeln. Weißt du, dass er sogar schon dem Papst seine Viktoria aufdrängen wollte? Und Heilewelt als neue Pilgerstätte statt Lourdes?«
»Er hat uns gesehen«, sagte ich düster. »Im Parkhaus. Auf der Treppe.«
»Und? Was habt ihr da gemacht?« In Sophies Augen lag ein seltsamer Glanz.
»Na ja, das kannst du dir ja denken.«
»Geknutscht?« Jetzt kam aber Leben in Sophie! Sie stellte ihr Bein wieder auf den Boden und beugte sich gespannt vor. »Echt? Ihr habt geknutscht?«
»Nur ein kleiner Abschiedskuss«, spielte ich die Sache herunter. Die Röte kroch mir bis zu den Haarwurzeln hinauf.
»Oh Gott, wie süß«, seufzte sie, stellte ihr Glas auf den Beistelltisch und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie ich dir das gönne!«
»Ich mir auch«, murmelte ich traurig. »Aber es war wirklich nur ein kleiner Abschiedskuss!« Ich nahm meine Brille ab: »Na ja, eigentlich hatte ich mich an ihm festgesaugt wie eine Ertrinkende! Mann, konnte der küssen! So was habe ich noch nie erlebt.«
»Bis jetzt hast du immer nur Frösche geküsst, wie?«
»Hm. Und jetzt einen Prinzen.«
Sophie sah mich liebevoll an: »Wie schön für dich, Lotta! Du hast dich bisher immer unter Wert verkauft, wenn du mich fragst!«
Oh Gott. Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Mir wurde ganz anders. Sophie schaute mich an und fragte: »Ihr habt euch also geküsst. Und dann?«
»Und genau in dieser Sekunde steckt dieser Bäckermeister seine Hitlerfrisur zur Tür herein …«
»Herr, gib Kraft!«, sagte Sophie. »Ganz schlechtes Timing.«
»Jedenfalls hat er meinem Jürgen eine anonyme Mail geschickt. ›Von einem Freund, der es gut mit Ihnen meint‹, stand darunter. Ich malte Gänsefüßchen in die Luft.
»Weißt du was? Dieser Gerngroß ist zum Kotzen!« Sophie war ganz weiß um die Nase geworden.
»Ja. Da sagst du mir nichts Neues.«
»Und? Weiter? Wie hat Jürgen reagiert?«
Ich erzählte ihr von Jürgens weinerlichen Vorwürfen und Unterstellungen.
»Würg!«, sagte Sophie.
Auch, dass ich hatte schwören sollen, Christian nie wiederzusehen. Beim Augenlicht meiner Kinder. Jetzt kannte ich kein Halten mehr: »Verdammt, ich bin verliebt. Ich hatte schon ganz vergessen, wie sich das anfühlt. Um ehrlich zu sein: So ein Gefühl hatte ich überhaupt noch nie!«
»In deinen Jürgen warst du nie wirklich verliebt? Ich meine so richtig mit Schmetterlingen im Bauch?«
»Meine Mutter sagt immer, Liebe kann wachsen.« Ich schaute sie verzweifelt an.
»Da kannst du lange warten!«, sagte Sophie. »Dein Hüftumfang kann wachsen. Dein Hintern. Die Anzahl deiner Feinde. Dein Schuldenberg. Oder bestenfalls dein Konto. Aber Liebe? Da muss ich mal bei Wikipedia nachlesen.«
Ich seufzte tief. »Ach, Sophie. Danke, dass ich dir vertrauen darf.«
»Aber Lotta!« Sophie sprang auf und umarmte mich. »Das ist doch selbstverständlich!«
»Jedenfalls haben wir uns nachts im Bett ganz fürchterlich gestritten«, fuhr ich fort. »Also Jürgen und ich. Wir haben uns angeschrien und uns die fürchterlichsten Dinge an den Kopf geworfen. Kannst du dir ja denken.«
Sophie sah mich nur mitfühlend an. Es lag keinerlei Sensationsgier in ihrem Blick. »Du wolltest in der Heiligen Nacht nicht mit ihm schlafen.«
»Jürgen wollte es unbedingt wissen: Warum nicht? Liebst du mich nicht? Bin ich nicht begehrenswert? Du denkst doch nur an ihn! Wenn du mich liebst, schläfst du jetzt mit mir! Was hat der, was ich nicht habe …«
»Blöde Frage. Das sieht doch jeder.« Sophie kicherte.
»Und dann wurde er vulgär. Der Vergleich mit gewissen Künsten lag nahe.«
»Danke, ich kann es mir denken.«
Ich umklammerte mein Glas so fest, dass es fast zersprang. »Aber ich habe Jürgen die Musikschule zu verdanken«, gab ich zu bedenken. »Ohne ihn wäre ich nicht, wo ich heute bin. Das hat er mir natürlich immer wieder unter die Nase reiben müssen.« Ich presste die Lippen zusammen.
»Er hat dir einen Kredit für die Musikschule gegeben. Aber, wenn er es nicht getan hätte, wärst du zu einer anderen Bank gegangen. Außerdem zahlst du den Kredit doch zurück! Mit Zins und Zinseszins!« Sophie lachte verärgert auf. »Das hat überhaupt nichts mit eurer Beziehung zu tun.« Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn: »Das ist sehr gefährlich, Lotta, weißt du das? Jürgen verwechselt da was, drängt dich in die Rolle der Almosenempfängerin!«
»Er glaubt, mich in allem kontrollieren zu müssen, weil ich von den wichtigen Dingen des Lebens keine Ahnung habe«, seufzte ich erschöpft. »Er nimmt sich das Recht heraus, jeden Brief, den ich bekomme, zu lesen. Seit Neuestem kontrolliert er meine Mails, meine SMS-Nachrichten und hört meine Mailbox ab.«
»Spinnt der? Was soll das? Hat der kein Eigenleben? Machst du das auch bei ihm?« Sie strich sich gereizt eine Strähne aus dem Gesicht. »Liest du auch sämtliche Kontoauszüge seiner Kunden?«
»Nein. Natürlich nicht.« Ich druckste herum. Sollte ich es ihr wirklich sagen? Es war so was von peinlich, dass ich es fast nicht auszusprechen wagte.
»Er hat Angst, ich könnte Christian anrufen. Er ist der festen Überzeugung, dass ich nichts anderes vorhabe.«
»Und WENN schon! Du musst dich sowieso noch mal für das Konzert bedanken, das gebietet ja schon die Höflichkeit.« Sophie war aufgesprungen und rannte aufgeregt hin und her. »Oder meinetwegen schick ihm Blumen!«
»Das wäre noch viel schlimmer!« Ich wischte mir über die Stirn. »Dann würde Jürgen glauben … Tja. Es ist alles ein bisschen verkrampft.«
»Allerdings!« Sophie musterte mich besorgt.
»Ich musste ihm schwören, dass ich Christian nicht anrufe. Und nie mehr an ihn denke.«
»Deine Gedanken will er also auch schon kontrollieren. Vom wem habe ich noch mal das Lied gelernt, ›Die Gedanken sind frei‹?«
»Eigentlich wollte er, dass ich es ihm schriftlich gebe.«
»Unter Androhung einer hohen Geldstrafe?«, spöttelte Sophie.
»Unter Aufsicht eines Notars.« Ich nickte düster. »Leider meint der das ernst.«
Sophie musste sich setzen. »Wie grässlich ist DAS denn! Du merkst hoffentlich, dass er mit seiner lächerlichen Eifersucht zu weit geht. Lass dich um Gottes willen nicht auf so einen Quatsch ein.«
Ich presste die Lippen zusammen. »Ich versuche, ihn zu verstehen. Natürlich ist er im Moment fürchterlich gekränkt.« Ich nahm ein Vanillekipferl und biss hinein. »Diese Sache im Parkhaus hat ihn dermaßen verletzt, dass er glaubt, er müsse mich jetzt auf Schritt und Tritt beobachten. Zu meinem eigenen Schutz, wie er sagt. Er muss mich vor mir selbst schützen. Weil ich so labil und beeinflussbar bin.«
»Sagt er.«
»Ja. Sagt er. Und auch, dass er noch zu ganz anderen Methoden greifen kann.«
»Er tut mir leid«, sagte Sophie. »Glaubt Jürgen, er kann dich so an sich binden? Womöglich deine Liebe zurückgewinnen? Der tickt doch nicht richtig!« Sophie schüttelte sich entsetzt. »Das ist doch keine Basis für eine funktionierende Beziehung. Lotta! Ihr seid noch nicht mal verheiratet. Du hast ihm nie die Treue geschworen. Du wirst deine Gründe dafür haben. Du hast gerade seinen Heiratsantrag abgelehnt. Da muss er doch ein bisschen was begreifen! Warum stellt er sich plötzlich so dämlich an?«
»Ich habe neun, fast zehn Jahre mit ihm verbracht. Um die dreitausendfünfhundert Tage oder so.«
»Wenn sie langweilig waren, dann waren sie nicht gut.«
»Wir haben Kinder. Er hat Angst um unsere Familie.«
Sophie schüttelte verärgert den Kopf. »Das hat mit den Kindern gar nichts zu tun! Im Gegenteil! Er hat sich doch noch nie um sie gekümmert!« Sie stellte ihr Glas mit heftigem Klirren auf dem Couchtisch ab. »Wie bescheuert muss ein Mann sein, dass er auf diese Weise ein Recht auf dich einfordern will?« Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Zumal sich jeder Notar kaputtlachen wird!«
»Ich weiß, es ist ungeschickt von ihm. Auf seine tollpatschige Art will er mir klarmachen, dass ich nicht einfach ausbrechen kann.« Ich rollte mich wie ein Igel auf meinem Sessel zusammen.
»Du bist eine erwachsene berufstätige Frau, die ihr eigenes Geld verdient! Er hat dich nicht in der Hand. Lass dich nicht einschüchtern!« Sophie packte mich an der Schulter. »Lotta! Du zahlst ihm den Kredit zurück! Mit Zins und Zinseszins!« Sie schüttelte resigniert den Kopf: »Du hättest dich nie auf eine Beziehung mit ihm einlassen dürfen!«
»Na ja, meine Mutter meinte damals, ich könne froh sein, einen so gut verdienenden, zuverlässigen Mann zu bekommen. Und dass sich die Frauen von Heilewelt alle zehn Finger nach ihm ablecken würden.«
Sophie fasste sich nur an den Kopf: »Du zahlst deinem Lebensgefährten MIETE für euer Reihenhaus! Er hat nichts, aber auch gar nichts, wonach man sich die Finger ablecken könnte! Er setzt dich ganz plump unter Druck, und du lässt es dir gefallen mit deinen ewigen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen, die dir deine Mutter eingeredet hat! Männer sind keine Helden, und dein Jürgen schon gar nicht!«
Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Ich habe ihn verletzt. Ihn in seiner Männlichkeit gekränkt.« Mit einem säuerlichen Lächeln lehnte ich mich so weit es ging in meinem Sessel zurück.
»Da ist doch noch etwas!«, sagte Sophie, und ihre grünen Augen wurden fast schwarz. Sie ging vor mir in die Hocke und zwang mich, sie anzusehen. »Raus damit!«
Ich seufzte und nahm all meinen Mut zusammen: »Er sagt, dass er heute Nacht in ein zwielichtiges Etablissement gefahren ist. In die Nachbarstadt, wo ihn keiner kennt. Er sagt, dass er viel Spaß hatte. Er sagt, was ich kann, kann er schon lange.«
»So. Sagt er das?«, meinte Sophie halb amüsiert, halb entsetzt.
»Er hat ein paar eindeutige Utensilien in einer Plastiktüte im Flur liegen lassen. Damit ich sie finde.«
Sophie verzog angewidert das Gesicht: »Sag, dass das nicht wahr ist.« Neugierig beugte sie sich vor. »Was denn für Utensilien?«
Ich schaute besorgt zur Tür. Es würde doch keines der Kinder plötzlich hereinplatzen?
»Jetzt sag schon! Bin ich nun deine beste Freundin oder nicht?« Sie schob die Hände vor ihr Gesicht und spähte spöttisch zwischen ihren Fingern hervor.
Ich holte tief Luft. Das wurde jetzt so was wie »Sex and the City« für Arme. Schlüpfrige Bekenntnisse unter Freundinnen.
»Also, eine Piccoloflasche Sekt …« Ich wischte mir verlegen über die Stirn.
»Das ist ja nicht besonders verwerflich«, sagte Sophie fast schon enttäuscht und nahm die Hände von ihrem Gesicht.
»… eine Lederpeitsche …«, fuhr ich fort. Oh Gott, das war wirklich so was von peinlich!
Sophie starrte mich an. »Sag, dass du dir das gerade ausdenkst!«
»… und Handschellen.« Ich räusperte mich. »Und eine Augenbinde. Ja, ich glaube, das war das Wichtigste. So, jetzt weißt du es.«
»In einer Plastiktüte. Im Flur.« Sophie sah mich an, als hätte ich gerade auf ihren Teppich gepinkelt.
»Ja«, sagte ich. »Von Aldi.«
Sophie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ihr fiel offensichtlich nichts ein, also klappte sie ihn wieder zu.
»Caspar hat mir ganz verlegen die Tüte gereicht«, fuhr ich fort. »Ich dachte, ich hätte vergessen, meine Einkäufe wegzuräumen, und habe nachgeschaut, was drin ist. Zum Glück waren die Kinder gerade beim Fernsehen. Wäre ja nicht schön gewesen, wenn die das Zeug gefunden hätten.«
»Dein Caspar wird sich seinen Teil gedacht haben.«
»Ja, der merkt schon, dass es bei uns ganz schön kriselt!«
»Reife Leistung von deinem Jürgen.« Sophie nickte wie der Wackeldackel auf der Hutablage von Opa Walters Opel. »Echt männlich und … sehr erwachsen.«
Ich starrte in mein leeres Glas. »Ähm …hast du noch mehr von dem Zaubertrank?«
»Bedien dich!« Sophie erhob ihre Stimme: »Dein Jürgen ist ECHT KEIN HELD!«
Ich starrte sie beschämt an. »Pssst! Wenn die Kinder das hören!«
»Besser wäre es«, rief Sophie in Richtung Tür. Sie tat so, als wollte sie sich in den Glühweinkessel übergeben. »Ich schäme mich fremd«, sagte sie schließlich und fuhr dann zu mir herum: »Über deinen ›schwulen Sklaven aus Timbuktu‹ tuscheln die feinen Heilewelter Herrschaften und kommen sich als was Besseres vor. Aber vor deinem biederen Sparkassenhengst mit dem Seitenscheitel ziehen sie den Hut!«
Jetzt musste ich hilflos lachen. »Komm, Sophie. Jetzt übertreibst du aber.«
»Nein, das ist wirklich das LETZTE!«, sagte Sophie und sprühte nur so vor Verachtung. »Wenn mein Bodo so was machen würde, hätte er mich zum letzten Mal gesehen! Egal, wie viele Kinder wir miteinander haben! Emotionale Erpressung! Das ist so arm und so durchschaubar!« Sie funkelte mich aus zornesgrünen Augen an: »Liebst du den eigentlich immer noch?«
»Ach, Sophie«, seufzte ich und zog energisch den Reißverschluss meiner Handtasche auf. Ich suchte nach einem Taschentuch, weil mir die Tränen kamen. »Was heißt hier ›immer noch‹? Habe ich ihn je geliebt? Oder habe ich mich nur bemüht, ihn zu lieben?«
»Lass dir doch beim Notar ein Zeugnis ausstellen«, sagte Sophie mitleidig. »Sie hat sich stets bemüht.«
»Ist das nicht alles furchtbar beschissen?«, sagte ich niedergeschlagen.
»Ja. Überleg dir gut, ob du mit diesem Mann wirklich dein Leben verbringen willst.« Sophie nahm meine Hand: »Lotta, du bist viel zu jung und zu schön, um dein Leben in Tretern zu verbringen, die deine Mutter für dich ausgesucht hat. Schlüpf in deine eigenen Schuhe! Und gestatte dir ruhig ein paar schicke hochhackige Pumps. Die stehen dir zu!«
Süßer Vergleich, irgendwie. Die Hoffnung, Christian je wiederzusehen, war ähnlich realistisch wie die, schmerzfrei in tollen High Heels herumzustöckeln. Aussichtslos! Zu mir gehörten solide Treter. »Es ist besser, sich keine Hoffnungen auf Dinge zu machen, die ohnehin unerreichbar sind. Ich gehe besser durchs Leben, wenn ich meine Erwartungen nicht zu hoch schraube. Ich kenne meinen Weg, und der geht immer geradeaus.« Ich stand auf und schnäuzte mich geräuschvoll. Es hatte keinen Sinn, hier in Selbstmitleid zu verfallen. Nebenan hörte ich die Kinder mit Caspar fröhlich singen. Er brachte ihnen Kinderlieder auf Afrikaans bei. »Goeie morgen mijn vrouw, goeie morgen mijn man, daar is koffie in die kan!« Ach, am liebsten würde ich mit ihnen allen bei Sophie einziehen. Hier war es so warm und gemütlich. Es zog mich nichts mehr in den Borkenkäferweg. Ich fror, wenn ich an zu Hause dachte. Wer weiß, welche »Sicherheitsmaßnahmen« Jürgen inzwischen schon wieder ergriffen hatte? Oder welche »Warnschüsse« er abgefeuert hatte, so wie den mit der Plastiktüte.
Sophie hob den Kopf, sah mich an und sagte laut und deutlich: »Gut, dass du ihn nicht geheiratet hast. Es wäre der größte Fehler deines Lebens gewesen.«
»Irgendein Instinkt hat mich davor bewahrt«, murmelte ich und versank dankbar in meinem Glas. Dass ich ihr das anvertraut hatte!
»Aber Christian? Den hättest du geheiratet?«
Mein Herz fing plötzlich an zu klopfen. Christian war so locker und selbstbewusst und unverkrampft und humorvoll und … männlich! Solche Männer gab es auch? Die Gedanken sind frei! Ich sah mich verstohlen um, ob auch keines der Kinder mithörte. »Sofort!«, entfuhr es mir. »Wenn er mir unter anderen Umständen begegnet wäre, hätte ich ihn mir geschnappt und nie mehr losgelassen.«
»Süß«, sagte Sophie. »Ihr wärt ein Traumpaar.«
»Sind wir aber nicht. Und jetzt lass uns über was anderes reden.«
Sophie nahm meine Hand: »Und? Wirst du ihn wiedersehen?«
»Natürlich NICHT! Genau das unterstellt mir Jürgen ja!«
»Aber anrufen? Jetzt? Hier?! Danke fürs Konzert sagen? Ein frohes neues Jahr wünschen?«
»Nein, nein«, sagte ich schnell. Meine Hände kribbelten vor Aufregung.
Sophie wählte bereits die Auskunft. »Christian Meran in Wien bitte. Ja, stellen Sie durch.«
»NEIN! Mach das nicht! Lass das!« Mein Herz raste. »Ich werde NICHT mit ihm sprechen.« Ich schüttelte meine Hände, als hingen tausend giftige Ameisen daran. Ich würde den Hörer nicht nehmen!
Sophie zuckte enttäuscht die Schultern: »Besetzt.«
Ich war so erleichtert, dass mir die Tränen kamen.
Als ich mit Caspar und den Kindern nach Hause kam, stand Jürgen mit meiner Mutter im Vorgarten. Sie schienen in einer wichtigen Besprechung zu sein. Opa Dietrich saß wie immer in seinem Sessel vor dem Fernseher mit abgedrehtem Ton. Ich sah seinen Hinterkopf durchs Fenster.
»Aha!«, sagte meine Mutter mit stechendem Blick. »Da kommt ja unsere Ausreißerin.«
»Ich bin doch nicht ausgerissen!« Fröstelnd half ich den Kindern aus den Kindersitzen und hievte sie aus dem Auto. Jürgen stand tatenlos daneben und kratzte sich am Ellbogen. Sein Gesicht sah aus wie drei Tage Regenwetter.
»Dabei hättest du allen Grund dazu«, sagte meine Mutter. »Kinder, marsch ins Haus. Hände waschen, hinsetzen, beten. Die Oma hat gekocht, weil es ja sonst keiner tut.« Ja, ja. Ich war eine Herumtreiberin, die sich mit ihrer besten Freundin einen angesoffen hatte.
»Wir haben keinen Hunger!«, rief Paul, der einen Bogen um sie schlug wie ein Hase, um ins Haus zu gelangen.
»Wir haben bei Sophie Kakao und Kuchen bekommen«, riefen die Zwillinge. »Und Vanillekipferl!«
Caspar ging ganz selbstverständlich mit ihnen ins Haus, nicht ohne mir einen verständnisvollen Blick zuzuwerfen.
»Das ist mal wieder typisch unsere Lotta!«, sagte meine Mutter so laut, dass es die Blätter harkende Frau Ehrenreich hinter ihrer Hecke bestimmt auch noch mitbekam. »Die Kinder mit Süßigkeiten vollstopfen und ihnen den Appetit aufs Abendessen verderben.«
»Wir hatten nur einen netten, gemütlichen Nachmittag«, erwiderte ich lasch. »In einer harmonischen Atmosphäre!« Davon würde ich wieder wochenlang zehren. Schon jetzt fieberte ich meinem nächsten Besuch bei Sophie entgegen.
»Du riechst nach Alkohol«, sagte Jürgen. »Bist du okay?«
»Natürlich bin ich okay. Wir hatten nur ein paar Gläser Glühwein.«
»Das ist doch ungeheuerlich!«, rief meine Mutter in die benachbarten Vorgärten hinein. »Sie betrinkt sich am helllichten Tag! Als Mutter von DREI Kindern!«
Ja, ja. Ich war eine kriminelle Alkoholikerin und trieb mich mit einem schwulen Ausländer herum, statt zu Hause meinem zuverlässigen Mann die Socken zu bügeln. In ihren Augen war ich die totale Versagerin. Als ich, beladen mit den Rollmopskisten, die Sophie mir noch für Jürgen mitgegeben hatte, ins Haus gehen wollte, packte Jürgen mich am Arm. »Ich muss mit dir reden.«
»Und das geht nicht drinnen, wo es warm ist?« Ich stellte die Kisten ab und bog das Kreuz durch. »Was ist los?«
»Na, da werde ich mich mal taktvoll ins Haus verziehen«, schnarrte meine Mutter. »Und nach den Kindern schauen, weil es ja sonst keiner tut.«
»Caspar tut es!«, widersprach ich trotzig.
»Na ja!«, sagte meine Mutter verächtlich und schnaubte durch die Nase. »Ob das der Richtige ist?«
Mit einem lauten Scheppern schloss sie die Haustür.
»Was gibt’s?« Ich stemmte die Arme in die Hüften und sah Jürgen nicht gerade herzlich an. Nach der Sache mit der Plastiktüte waren meine guten Vorsätze, ihn ab sofort inniglich zu lieben, deutlich abgekühlt.
Ich sehnte mich nach einem heißen Bad – allein allerdings. Ich wollte auf keinen Fall die Füße massiert bekommen. Ich wusste nämlich, wohin das führte. Nein danke. Im Moment nicht.
»Lotta.« Jürgen nahm mich bei den Schultern und schaute mir tief in die Augen. »Ich meine es doch nur gut mit dir. Ich will doch nur dein Bestes!«
»Ja. Aber so funktioniert das nicht.«
»Die Sache mit der Plastiktüte gestern war nicht so geschickt, das gebe ich zu. Ich wollte mich rächen.«
»Ich weiß.« Genervt schaute ich auf meine nassen Schnürschuhe. Ich konnte diese mitleidheischenden Hundeaugen jetzt nicht ertragen. Ein heißes Bad! In meinem eigenen Haus! Warum durfte ich nicht endlich hinein? Warum waren meine Erziehungsberechtigten schon wieder hier? Hatte Jürgen sich Verstärkung geholt? Was sollten diese Andeutungen? Wieso hatte ich Grund zum Ausreißen? Er hatte doch nicht … Er würde doch nicht etwa meinen Eltern … Hatte er gepetzt?! Jürgen war doch ein erwachsener Mann. Mir war kalt. Und auch ein bisschen schlecht von dem Glühwein. Das Gespräch mit Sophie ging mir nicht aus dem Kopf. Musste ich mir seine Erziehungsmaßnahmen wirklich gefallen lassen? »Die Daumenschrauben anlegen«, hatte er gesagt. »Die Zügel kürzer halten.« Ich räusperte mich. »Ich würde dann jetzt gern …«
Jürgen packte mich am Arm. »Lotta. Denkst du immer noch an diesen Flötisten?«
»Ach«, sagte ich ironisch. »Ich hatte den ganzen Tag noch nicht an ihn gedacht. Aber jetzt, wo du mich darauf bringst, fällt er mir wieder ein.«
»Das ist nicht lustig.« Jürgen sah mich tadelnd an.
»Nein.« Was war denn schon lustig mit Jürgen? Seine neckischen Wortspiele à la »Blaukraut bleibt Blaukraut, und Brautkleid bleibt Brautkleid«? Wie uncool war das denn! Sophie würde lachend kontern: »Weichei bleibt Weichei, und Traummann bleibt Traummann.«
»Liebst du mich denn gar nicht ein kleines bisschen?« Diesmal hatte ich seine kalte Hand in meinem Gesicht.
»Ja, doch, natürlich.«
»Aber?«
Hach! Ging das jetzt schon wieder los! »Kein Aber!«, brauste ich unwirsch auf und drehte den Kopf weg. »Gib mir doch nur ein kleines bisschen Zeit!«
»Wozu brauchst du denn Zeit?«
»Zeit halt! Zum Nachdenken!«
»Zeit, um an IHN zu denken?«
»Lass mich doch einfach mal durchschnaufen! Bitte!« Ich schüttelte ihn ab und wollte zur Haustür gehen, aber …
»Ich BESTEHE auf einer Aussprache!«
»Also gut. Wieder mal ein Spaziergang.« Ich drehte mich um wie ein dressiertes Pferd.
»Hier und jetzt!«
»Was WILLST du denn nun?«, herrschte ich ihn an und kam mir vor wie eine der knollnasigen Keifen von Loriot. »Erst willst du was LESEN, und dann willst du FERNSEHEN, und dann willst du SPAZIEREN GEHEN, und dann willst du DOCH NICHT spazieren gehen. Was WILLST du denn nun?« Mit Grauen stellte ich fest, dass wir im Begriff waren, genau so ein Paar zu werden!
Jürgen packte mein Kinn und wollte mich zwingen, ihn anzusehen.
Ich riss seine Hand aus meinem Gesicht und stieß sie weg. »Ich hatte jetzt wochenlang Stress mit dem Konzert, dann ein unerfreuliches Weihnachten, tausend Vorwürfe, traurige Kinder – alles ist schiefgelaufen. Ich war keine Sekunde mal für mich! Deshalb bitte ich dich, mich einfach mal ein bisschen in Ruhe zu lassen! Und wenn das in meinem eigenen Haus nicht geht, dann fliehe ich eben in den Wald!«
»Aber ich LASSE dich doch dauernd in Ruhe! Du beschwerst dich doch selbst, dass ich immer nur vor dem Computer sitze!« Nun hatte er schon wieder Tränen in den Augen. »DAS ist also der Stand unserer Beziehung. So gehen wir also ins neue Jahr.«
»Lass doch das neue Jahr aus dem Spiel!«, kläffte ich zurück. »Ob altes Jahr oder neues Jahr: Du sitzt am Computer, und ich habe die Kinder und den Haushalt an der Backe. Der Einzige, der zu mir hält, ist Caspar, und der passt euch nicht, weil er schwul ist! Ich halte das alles nicht mehr aus!«
»Ach! Jetzt bin ICH schuld, dass du mit dem Flötisten im Treppenhaus herumgeknutscht hast!«
»Nein, natürlich nicht! Bitte, Jürgen, lass doch jetzt Christian aus dem Spiel!«
»ICH soll CHRISTIAN aus dem Spiel lassen? DU hättest ihn aus dem Spiel lassen sollen!« Er stieß ein trauriges Lachen aus. »Okay, wir hatten jetzt beide unser Spiel. Mit dem Unterschied, dass du dir deinen Christian immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen hast, während mein Ausflug in die Nachbarstadt völlig unverbindlich war.«
»Der Vergleich hinkt.«
»Das ist ja das Schlimme!« Plötzlich nahm Jürgens Stimme einen ganz anderen Tonfall an. »Weißt du eigentlich, was für ein Mensch das ist, dein toller Christian?«
»Ja. Ein netter. Der gerne lacht. Und fantastisch musiziert. Mehr weiß ich von ihm nicht.« Ich stutzte. »Wie meinst du das?« Mein Jürgen führte doch schon wieder was im Schilde!
»Verklärst du ihn nicht total? Nur weil er gut küssen kann?«
»Jürgen! Ich habe dich gebeten, dieses Thema …« Unauffällig spähte ich zur Nachbarhecke hinüber, wo sich leise raschelnd braune Blätter bewegten. »Wir haben uns einmal zum Abschied geküsst«, zischte ich mit Tränen in den Augen. »Und das wird nie wieder vorkommen. Es tut mir LEID, und nun lass es doch endlich auf sich beruhen!«
»Weißt du eigentlich, was für ein BLENDER er ist, dein Christian Meran?«
»Bitte! Bitte, Jürgen! Wir sind doch durch mit dem Thema!«
»Sind wir das? Oder denkt meine kleine Lotta ständig an den guten Bläser?«
»Jürgen, bitte. Ich versuche es doch.«
»So. Du versuchst es. Das muss aber schwere Arbeit sein.«
»Wenn du nicht immer wieder mit dem Thema anfangen würdest, würde es mir viel leichter fallen«, blaffte ich zurück. »Können wir jetzt reingehen?«
»Nicht, bevor wir die Sache zu Ende besprochen haben.«
»Okay«. Ich atmete tief durch. Er war verletzt. Tief verletzt. Ich hatte ihn schwer brüskiert. In seiner Mannesehre gekränkt. Seine Autorität untergraben. Unsere Familie gefährdet. Das hatte mein armer Jürgen nicht verdient. Ich war mir übrigens sicher, dass Jürgen in der Nachbarstadt gar nichts getan hatte. Er hatte die Utensilien bloß gekauft und in den Flur gelegt. Um mich zu provozieren. Der verdammte Bäckermeister Gerngroß war an allem schuld! Dieses kranke Hirn hatte unseren Familien- und den Kleinstadtfrieden gestört. Dabei gibt es bestimmt viele Kleinstädte, in deren Parkhäusern mal fremdgeküsst wird. Aber Bäckermeister Gerngroß hatte mit seiner Wichtigtuerei einen regelrechten Taifun im Froschtümpel entfacht.
»Lass uns reinen Tisch machen.« Jürgen bebte vor Entschlossenheit. »Das sind wir unseren Kindern schuldig.«
Die Kinder hatten eigentlich nichts damit zu tun. Wenn er die Parkhaussache schon meiner Mutter gepetzt hatte, dann doch wohl hoffentlich nicht auch den Kindern!
»Es kam an Weihnachten einfach ein bisschen viel zusammen«, versuchte ich die Sache noch einmal zu erklären. »Ich war ein bisschen neben der Spur. Erschöpft. Anlehnungsbedürftig. Ich brauchte einen Moment Halt. Es tut mir leid.«
»Und mir tut es auch leid.« In Jürgens Augen standen Tränen. »ICH will dir Halt geben.«
»Ja. Beim nächsten Mal.«
»Nur eines noch.«
»Was denn jetzt schon wieder?« Ich sah unwillig auf die sich bewegende Hecke. Fast hatte ich das Gefühl, Frau Ehrenreich würde alle Blätter wieder einzeln hinlegen, um länger mithören zu können. »Wirklich, Jürgen, es ist passiert, ich bereue es zutiefst, und je mehr du darauf herumhackst, umso schmerzhafter wird es für uns. Jetzt stehen wir schon eine Viertelstunde im Vorgarten, ich habe eiskalte Füße und würde gern deine Rollmöpse reinbringen. Mit lieben Grüßen von Sophie übrigens.«
Jürgen schüttelte nur traurig den Kopf. »Verrat mir nur eines: Hast du mit ihm telefoniert? Vielleicht von Sophie aus? Hm??!«
Ich wurde rot. Ich konnte ja schlecht zugeben, dass dort über eine Stunde lang besetzt gewesen war! Eine ganze Stunde hatte Christian telefoniert. Oder seine Frau. Oder die beiden miteinander. Das versetzte mir einen schmerzhaften Stich. »Nein! Verdammt! Wieso sollte ich?« Ich spürte, wie ich einen ganz heißen Kopf bekam.
Plötzlich legte Jürgen in scheinbar friedlicher Absicht den Arm um mich und schubste mich Richtung Gartentor. »Ich möchte, dass du einen Spaziergang machst.«
»Wie jetzt? Ich? Allein?«
Was WILLST du denn nun? Erst willst du HIER STEHEN, und dann willst du eine AUSSPRACHE, und dann willst du, dass ICH SPAZIEREN GEHE!?
»Ja. Allein. Du sollst Zeit haben zum Nachdenken.«
Wie kam er denn zu dieser plötzlichen Einsicht? Er wollte mich wirklich in Ruhe lassen? Ich durfte … einfach so gehen? Und nachdenken? War das Kreuzverhör jetzt beendet?
»Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
»Ich möchte nur, dass du dir DAS hier dabei anhörst.« Jürgen hielt mir ein kleines Aufnahmegerät unter die Nase, das er aus seiner Tasche gezogen hatte. Seine Hände zitterten.
»Was ist das?«
»Das wirst du schon sehen. Beziehungsweise hören. Dabei kannst du dich von deinem Flötisten innerlich verabschieden.«
»Du hast das Konzert mitgeschnitten?«
»Das ist eine Überraschung!, sagte Jürgen geheimnistuerisch.
Ich bekam Gänsehaut. Mein lieber, guter Jürgen! Er hatte mir eine Freude machen wollen. Ich sollte in aller Ruhe mein Konzert noch einmal anhören dürfen. Wie lieb von ihm! Das war ja doch noch ein verspätetes Weihnachtsgeschenk! Damit wollte er mir zeigen, dass er meine Bedürfnisse verstanden hatte. Was für eine nette Geste! Die ganze Streiterei von vorhin hätten wir uns sparen können. Wir hatten so blöde Sachen gesagt!
»Ich liebe Überraschungen!« Meine Augen leuchteten, und spontan umarmte ich ihn. »Das finde ich toll von dir, Jürgen.« Ich küsste ihn beherzt auf beide Wangen. »Weißt du was? Ich fange schon wieder an, dich zu lieben. Alles wird gut.«
Mit diesen Worten marschierte ich frohgemut in Richtung Schrebergärten.