LOTTA
Nachdem Christian weg war, breitete sich eine unheimliche Leere in mir aus. Ich funktionierte nur noch. Da waren die Proben in der Musikschule, die Arbeit am Schreibtisch, die Telefonate mit den Eltern meiner Schüler, die nötigen Handgriffe im Haushalt: All das tat ich wie in Trance. Jürgen hatte Christian herbestellt und wieder weggeschickt. Er hatte das Machtspiel gewonnen. Mechanisch richtete ich die Noten für »Carmina Burana« ein, vereinfachte die schweren Stellen, klebte und übermalte und vermied es, auf die Flötenstimme zu schauen. Vielleicht konnte ich die Flöte ganz streichen. Trotzdem dachte ich dabei jede Sekunde an Christian. Wo war er, wie ging es ihm, was machte er, wovon lebte er? Hatte er versucht, zu seiner Frau zurückzukehren? Vielleicht saß er längst wieder in der schönen Villa mit den Bremer Stadtmusikanten. Ich sah ihn in seinem Wohnzimmer am Flügel stehen und üben. Er spielte den Vogel aus »Peter und der Wolf«. Er konnte fliegen. Ich konnte es nicht.
In der Nacht zuvor hatte ich von ihm und seiner Familie geträumt: Sie wohnten in einer wunderschönen Straße mit prächtigen Erkerhäusern auf großen Grundstücken. Nicht in einem spießigen Reihenhaus wie wir. Alle Gärten waren kahl und schneebedeckt, nur einer blühte in den herrlichsten Farben. Darin stand eine Frau mit wallenden langen blonden Haaren. Sie schien zu schweben wie eine Fee und schüttelte immer mehr duftende Blumen aus ihrem Seidennachthemd. Ich versuchte, auf das Haus zuzugehen, wollte nur mal schauen, nur mal Hallo sagen und mich davon überzeugen, dass es Christian gut ging. Aber meine Beine waren bleischwer. Es ging so steil bergauf! Es war so eisglatt! Immer wieder rutschte ich aus, nicht zuletzt, weil ich peinlicherweise immer noch meine Filzpantoffeln anhatte, in denen ich im wahrsten Sinne des Wortes kalte Füße bekam. Ich fühlte mich dick und plump, und meine roten Haare standen mir vom Kopf ab, als wären sie aus Draht. Sie verfingen sich in den kahlen Ästen und ließen mich nicht vom Fleck kommen. Deshalb sah ich das Paradies, in dem Christian wohnte, nur aus der Ferne. Auf einmal spürte ich, dass ich seine Ruhe und Schönheit nicht stören durfte. Ich wollte umkehren, aber auch das ging nicht mehr. Die Straße fiel viel zu steil ab und war eisglatt! Plötzlich hörte ich die Kinder rufen: Mami, dein Kopf brennt! Ich riss mir die Haare aus, die nun alle in Flammen standen, und warf sie in einen Vorgarten, der plötzlich aussah wie unserer im Borkenkäferweg. Doch dann brannte der ganze Garten: Der Sandkasten und die Schaukel – ja sogar Leffers, der Hund meiner Schwiegereltern, brannte lichterloh. Ein fürchterlicher Albtraum, aus dem ich schweißgebadet erwachte.
Ich war ein psychisches Wrack, reif fürs Müttergenesungswerk. Nach zwei oder drei Tagen völliger Apathie kamen die Tränen. Ich konnte sie nicht mehr stoppen, sie strömten mir ohne Unterlass über die Wangen. War das jetzt Selbstmitleid oder was? Ich hasste Selbstmitleid, verachtete es! Worum weinte ich eigentlich? Um Christian? Den ich kaum kannte? Den ich mir irgendwie zurechtträumte wie ein verknallter Teenager? Um ein verpfuschtes Leben? Ich hatte doch alles! Ich hatte drei wundervolle Kinder, die sich im Arbeitszimmer abwechselnd an mich schmiegten und mir tröstende Worte sagten. »Mama, alles wird gut, wir haben dich lieb!« Jürgen lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und verbuchte meine Heularien unter Midlife-Crisis. »Mama fühlt sich alt und hässlich«, sagte er.
»Du bist nicht alt und hässlich! Du bist wunderschön!«, protestierte Paulchen.
»Ja, sogar wenn du weinst! Dann siehst du aus wie eine Rose im Regen!«
Solch wunderschöne Worte sagten die Zwillinge, und das brachte mich erst recht zum Weinen. Christian hatte tatsächlich mit einem riesigen Strauß roter Rosen hier bei mir auf der Matte gestanden. Auf unserer Fußmatte mit der Aufschrift: »Tritt ein, bring Glück herein!«
Tja. Das hatte er auch versucht, doch dann hatte Jürgen sein Veto eingelegt. Inzwischen waren Christians Rosen längst verwelkt und ließen die Köpfe hängen. Genau wie ich. Ich weinte und weinte.
»Mama, was ist denn?«, fragte Paulchen ganz erschrocken. »Heulst du, weil du heute im Tischtennis gegen mich verloren hast?«
»Ja, genau«, schluchzte ich – so lange, bis ich das letzte Taschentuch der Familiengroßpackung verbraucht hatte.
»Mama! Ist doch nicht so schlimm! Man muss auch mal verlieren können!« Paulchen streichelte hilflos meinen Arm. »Beim nächsten Mal gewinnst du wieder.«
Hatte er gesagt: »Beim nächsten MANN gewinnst du wieder«? Nein. Quatsch.
»Ja. Man muss auch mal verlieren können«, wiederholte ich und starrte an die Zimmerdecke. Ich wollte mich gerade zusammenreißen und das Abendessen machen, als die Tür aufging und meine Mutter im Zimmer stand. Jürgen hatte sich keinen anderen Rat mehr gewusst, als sie herzubestellen.
»Kinder, alle mal raus hier! So!« Sie stand neben mir und strich mir doch tatsächlich über meine widerspenstige Mähne!
Im selben Moment schoben eifrige kleine Hände eine Rolle Klopapier durch den Türspalt. Meine entzückenden aufmerksamen Kinder! Da musste ich schon wieder heulen und konnte nicht mehr damit aufhören. Und das ausgerechnet vor meiner Mutter!
»Jürgen sagt, du lässt dich schon seit Tagen so vor den Kindern gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du hast Mutterpflichten!«
Na ja, aus Spaß heulte ich bestimmt nicht. Ich litt an einem gebrochenen Herzen. Zum ersten Mal war mir die Bedeutung dieses Wortes so richtig bewusst. Ich riss meterweise Klopapier ab und schnäuzte hinein.
»Ist es etwa wegen des Flötisten? Jürgen hat mir erzählt, dass er sogar hier war?«
Ich nickte und durchweichte das Klopapier.
»Das sind ja höchst hysterische Anfälle!«, sagte sie tadelnd. »Wenn du früher so geflennt hast, habe ich dir kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Das hat immer gewirkt.«
Gute Idee!, dachte ich. Am besten, sie taucht mich gleich in einen Brunnen mit Eiswasser. Damit meine Haare aufhören zu brennen.
»Du hast dich da in etwas ganz Törichtes reingesteigert. Das kann man sich vielleicht mit fünfzehn leisten, aber nicht mit fünfunddreißig. Und erst recht nicht als Mutter dreier Kinder.«
»Ich weiß«, schluchzte ich zerknirscht. »Es tut mir auch furchtbar leid!«
»Du KANNST doch nicht deine Familie zerstören«, sagte meine Mutter mit schneidender Stimme. »Jürgen sagt, du warst drauf und dran, mit diesem Wiener Schönling abzuhauen. Er konnte den Mann gerade noch davon abhalten. Wie STELLST du dir das denn vor!?«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte ich weiter. »Jürgen hat ihn herbestellt und gesagt: ›Sie können meine Frau abholen‹.«
»So hat er das bestimmt nicht gesagt. Du übertreibst wieder maßlos!« Sie tätschelte mir kurz und kräftig die Schulter. Mehr Solidarität war nicht drin. Sie war noch nie verschwenderisch damit umgegangen, und auch jetzt konnte ich nicht mehr erwarten als einen halb gefüllten Fingerhut.
»Doch, das hat er genau so gesagt! Und Christian hat es ernst genommen!«
»Der Mann hat dich gar nicht zu interessieren. Dass DEIN Mann auch langsam durchdreht, kann man ihm nicht verübeln! Die ganze Stadt spricht schon von der Parkhaus-Affäre! Du solltest dich was schämen!«
So. Nun hatte sie mich dort, wo sie mich haben wollte: Ich schämte mich, ich weinte, ich war am Boden.
»Und jetzt hole ich einen Eimer mit kaltem Wasser. Oder wenigstens einen nassen Lappen! Und damit schlagen wir dir dann diesen Filou aus dem Kopf! Du wirst schon sehen, das hilft!«
Ja, so eine kalte Abreibung würde mir bestimmt guttun. Ich musste meiner Mutter dankbar sein für ihre drakonischen Maßnahmen. Ich durfte mich auf keinen Fall mehr so gehen lassen. Plötzlich stand Vater Dietrich neben mir. Dass er sich überhaupt in mein Arbeitszimmer bequemt hatte! Er wappnete sich gegen die Unzumutbarkeiten der Welt, indem er ihr einfach den Ton abdrehte. Wollte er mir den Trick auch verraten?
»Hm, Tochter?« Seine magere weiße Hand berührte die meine. »Hat es dich so schlimm erwischt?«
»Ich schaffe das schon«, heulte ich. »Brauch halt ’n bisschen Zeit!«
»Lache, Bajazzo!«, sagte mein Vater und kehrte dann mitsamt seiner Zeitung wieder zu seinem Fernsehsessel zurück. Für seine Verhältnisse war das ein sagenhaft konstruktives Gespräch. Meine Mutter kam tatsächlich mit einem nassen Lappen zurück, den ich mir dankbar aufs Gesicht drückte.
»Jürgen baut einen Mist nach dem anderen«, murmelte ich zu meiner Verteidigung. »Ich kann ihn einfach nicht mehr lieben.« Dabei fing ich schon wieder an zu heulen.
»Jetzt hör mir mal gut zu, Lotta! Ich habe deinen Vater auch nicht immer nur geliebt. Und ich hatte auch Chancen bei anderen Männern.«
Verwundert hob ich den Kopf und schaute sie aus brennenden Augen an.
»Tja! Da staunst du! Ich war auch mal schön!«
Sie schob mir eine frische Packung Tempotücher hin: »Aber ich war Mutter und Ehefrau und habe mich verdammt noch mal zusammengerissen. Und das wirst du auch tun! Jeder hat mal ne Ehekrise, da reißt man sich zusammen und hängt das nicht an die große Glocke! Oder meinst du, ich hätte nicht auch mal die Faxen dicke gehabt mit deinem Vater?«
Dass die Tür zum Wohnzimmer offen stand, schien sie nicht weiter zu stören.
»Jeder hat seine Eigenheiten. Dein Jürgen kämpft halt auf seine Weise um seine Familie. Zugegebenermaßen ziemlich ungeschickt.« Sie schob mit dem Fuß die Tür zu und hob ihre Stimme. »Aber du darfst nicht im ENTFERNTESTEN darüber nachdenken, ihn zu verlassen. Was sollen denn da die Leute sagen?«
Ich schwieg betroffen. Die Leute. Tja. Das war auch noch so ein Problem.
»Stell dir mal vor, dein Vater und ich könnten samstags nicht mehr auf den Markt gehen, ohne dass die Leute auf uns zeigen und tuscheln!« Sie stemmte erzürnt die Hände in die Hüften. »Hast du DARÜBER schon mal nachgedacht, oder denkst du immer nur an dich?«
Das waren schwerwiegende Argumente. Zugegeben, ich hatte noch nicht darüber nachgedacht.
»Und außerdem geht es Oma Lenchen ganz schlecht. Sie liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation. Du willst doch nicht allen Ernstes daran schuld sein, wenn sie stirbt?«
Erschrocken zuckte ich zusammen. »Um Gottes willen, nein! Steht es wirklich so schlimm um sie?« Ich weinte schon wieder. Das arme alte Lenchen! »Das wollte ich nicht«, stammelte ich. »Das tut mir alles unendlich leid!«
Ich fühlte mich verantwortlich für das Elend, das ich über unsere Familie gebracht hatte. Ich versprach meiner Mutter, mich augenblicklich zusammenzureißen und für Jürgen da zu sein, der im Begriff war, seine geliebte Mutter zu verlieren. Noch am selben Abend besuchte ich mit Jürgen Oma Lenchen auf der Intensivstation. Die Fahrt dorthin verlief schweigend. Nur ab und zu tauchte eines unserer Plakate im Autoscheinwerferlicht auf: »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft«. Jürgen versuchte meine Hand zu nehmen, aber ich entzog sie ihm. Als Jürgen nicht aufgab, setzte ich mich irgendwann auf meine Hände. Ich konnte seine Berührungen einfach nicht ertragen. Tränenblind und schuldbewusst stand ich kurz darauf an Oma Lenchens Bett und hielt ihre altersfleckigen Hände, mit denen sie geistesabwesend imaginäre Wäsche faltete. Sie erkannte mich nicht mehr.