LOTTA
Ich war schweißgebadet, als ich mich endlich tief verbeugte und den Beifall aus dem überfüllten Festsaal entgegennahm. Was für ein Glücksmoment! So etwas hatte diese Kleinstadt noch nicht erlebt! Christian Meran hatte seiner goldenen Querflöte Töne entlockt, die diese Musikschule noch nie gehört hatte. Als ich ihn bat, sich zu verbeugen, sprangen die Leute von ihren Sitzen auf. Da standen wir, Hand in Hand – Christian Meran und ich –, und verbeugten uns immer wieder. Der Jubel schwoll zu einem Pfeifen und Kreischen an, als meine drei Kinder aus dem Orchester nach vorn liefen und mir den bereits bekannten überdimensionalen Blumenstrauß überreichten, an dem viele gelbe Luftballons befestigt waren. »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft!« Das wäre der Moment gewesen, in dem wir unsere Verlobung hätten bekanntgeben müssen. Eine winzige Sekunde lang zögerte ich. Ich brauchte nur die Hand zu heben, und dann würde der Beifall verstummen. Ich brauchte Jürgen nur das Zeichen zu geben, auf die Bühne zu kommen. Dann würde er die Stufen hinaufkeuchen, besitzerstolz den Arm um mich legen und laut verkünden: »Die Heilewelter Sparkasse und die Heilewelter Musikschule werden ihre erfolgreiche Partnerschaft nun auch noch mit dem Bund der Ehe besiegeln!« Und dann würde der brechend volle, festlich beleuchtete Saal noch mehr toben …
Nein. Der Moment war alles andere als perfekt.
Es war Christian Meran, mit dem ich auf der Bühne stand und mich verbeugte. Er strahlte und genoss den Applaus genauso wie ich. Er beklatschte anerkennend meine Schüler, darunter auch die zarte, schmale Viktoria im Rollstuhl, die wirklich beeindruckend tonrein Klarinette gespielt hatte. Ich ließ den Blick über das Publikum schweifen: In der ersten Reihe applaudierte stehend mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel. Er hatte stolz alles gefilmt und fuhr sich jetzt mit einem zerknüllten Taschentuch über die glänzende Stirn und die stoppeligen Wangen. Ein paar Taschentuchfusseln blieben darin hängen. Neben ihm saßen meine Eltern, die zwar nicht euphorisch klatschten, aber immerhin anwesend waren. Ich hatte auch schon Konzerte erlebt, da war Mutter Margot kopfschüttelnd durch den Mittelgang rausgegangen. Immerhin tippten ihre Zeigefinger wiederholt aneinander, und das war schon fast zu viel an Anerkennung. Mein Vater Dietrich nickte mir wohlwollend zu, während er sich die Ohren zuhielt. Er hasste Lärm jeder Art. Mutter Margot sprach bereits mit einer Dame hinter ihr. Es war Frau Ehrenreich, unsere Nachbarin. Wahrscheinlich spendete sie ihr das einzig seligmachende Sakrament kompetenter Konzertkritik.
Seitlich von der Bühne stand natürlich Bäckermeister Gerngroß, der so laut »Bravo, Vicki!« und »Zugabe, Klarinedde« brüllte, dass andere schon missbilligend zu ihm hinübersahen.
Das Blitzlichtgewitter der örtlichen Presse zuckte über unseren Köpfen, und immer wieder rief Justus Schaumschläger, der Fotograf und Reporter des Heilewelter Tagblatts: »Bitte noch mal alle Hand in Hand verbeugen, bitte die Blumen nicht vor die Gesichter, bitte die Solisten noch mal nach vorn, und die drei Thalgau-Kinder! Überreicht eurer Mutti noch mal den Strauß. Ja, so ist es schön! Und bitte der Wiener Philharmoniker noch mal ganz in groß. Schön strahlen und lachen! Ja, legt mal den Arm um eure Mutti … und der Wiener Philharmoniker bitte auch.« Als Jürgen mit seinen Sparkassenluftballons auch auf die Bühne kommen wollte, winkte Schaumschläger ab. »Bitte nur die Künstler … Ja, aber ganz dicht zusammen! Mal Wange an Wange, ruhig mal ein Küsschen! Der Flötist und die Dirigentin bitte!«
Aus den Augenwinkeln sah ich das belustigte Grinsen im Gesicht des Flötisten, das immer näher kam, während er den Arm um mich legte.
Bäckermeister Gerngroß wollte auch noch seine Viktoria ins Bild schieben, aber die wehrte sich und schlug mit ihrer Klarinette nach ihm. Ich mochte das Mädchen.
Ich war erschöpft bis zum Umfallen, aber auch glücklich wie schon lange nicht mehr. Die Lichter des Weihnachtsbaums verschwammen vor meinen Augen, als mir Tränen der Dankbarkeit und Erleichterung kamen. Immer wieder drückte ich die Hände meiner lieben Mitwirkenden, und ganz besonders drückte ich die Hand von Christian Meran. Ich umarmte meinen Flötisten noch ein letztes Mal herzlich, und dann ging endlich der Vorhang zu.
Hunderte von aufgeregten Kinderbeinen trappelten ins Foyer, wo es bereits verführerisch nach Gerngroß’ frischen Krapfen duftete. Bald war ich von allen möglichen Eltern umringt. »Ja, Ihre Klara hat das großartig gemacht, Herr Doktor Heimschmidt. Nächstes Jahr kann sie sicherlich schon die erste Geige spielen.« »Danke, dass Sie mir Ihren Sohn für das dritte Horn zur Verfügung gestellt haben, Frau Apothekerin. Ich weiß, er hätte eigentlich heute Nachtdienst gehabt.« »Ja, Mäuschen, dein Bild vom Wolf und den Jägern war das allerschönste! Hast du gesehen, wie groß wir es auf die Leinwand geworfen haben, als die Pauken die Schüsse spielten? Und bist du denn noch gar nicht müde?« »Auf Wiedersehen, Herr Bürgermeister. Ja, ein Foto. Mit Ihrer Gattin. Gern.« »Sie haben recht, Herr Stadtrat, der Wiener Philharmoniker war ein Glücksgriff. Es ist der Heilewelter Sparkasse zu verdanken, dass wir es geschafft haben, den zu bekommen! Ja, vielen Dank, ich werde es ausrichten!«
Natürlich kam jetzt auch der Bäckermeister auf mich zugestürzt, bevor ich es in meine Garderobe schaffte. »Was ist jetzt, Lodda? Was sagt der Wiener Philharmonigä zu meiner Vicki?«
»Er sagt, deine Vicki hat das hervorragend gemacht! Sehr weicher Ton, und den Rhythmus exakt getroffen! Für eine Zwölfjährige sehr beachtenswert.«
»Du weißt, was ich mein! Die Weltkarriere! Ich hab des ZDF schon angerufen und einfach mal den Hörer draufgehalten, als die Vicki dran war …«
»Später, Gerngroß, später.« Der hatte sie doch nicht alle! Meine eigenen überdrehten Kinder hingen an meinem Rockzipfel: »Mami, Mami, dürfen wir Krapfen?« Und Jürgen hielt mit seiner Videokamera auf uns drauf. »Toll gemacht, meine rattensch… ähm … Supermutter, ganz toll!« Ich war ihm dankbar, dass er das peinliche Adjektiv in diesem Rahmen wegließ. Zumal meine Eltern in Hörweite standen. In diesem Moment platzte mit lautem Knall auch schon der erste Sparkassenluftballon.
»Der Wolf ist tot, hahaha!«, rief irgendein Witzbold mit einem Bier in der Hand.
Ich presste die Blumen an meine Brust und sehnte mich plötzlich auch nach einem großen Bier. Ich war am Verdursten. Vor dem Konzert hatte ich vorsichtshalber nichts mehr getrunken – es hätte keinen guten Eindruck gemacht, wenn die Dirigentin mal schnell zum Pipimachen verschwunden wäre! Aber jetzt hatte ich einen ganz trockenen Mund.
Die Leute drängten sich bereits um die Getränkestände, plauderten, winkten, lachten und riefen einander Glückwünsche zu. Einige waren dabei, ihren Nachwuchs schon wieder warm einzupacken.
»Vergiss nicht, allen Kindern zum Abschied einen Luftballon in die Hand zu drücken«, raunte Jürgen mir verschwörerisch zu. »Und lass den Eltern gegenüber ganz unauffällig das Wort Bausparvertrag fallen! Das ist das Mindeste, was du jetzt für mich tun kannst!«
Herrje, ich kam mir schuldig vor. Andererseits wollte ich in diesem Moment einfach keine Werbung für seine Sparkasse machen! Ich wollte nur kurz meine Ruhe! Nur ganz kurz!
»Lodda, was ist jetzt mit meiner Vicki? Der Flötenspieler! Was sagt er? Wo ist er? Kann ich ihn jetzt endlich in Ruhe sprechen? Er hat es versprochen!«
»Jetzt nicht, Gerngroß! Später!« Suchend schaute ich mich um.
»Nein, ich lass dich nicht davonkomme! Des Konzert is vorbei! Ich hab mich taktvoll zurückgehalten!« Das meinte er ernst! Gerngroß und taktvoll! »Ich will den Flötenspieler sprechen!«
»Ich glaube, er ist schon abgereist«, sagte ich müde. Hoffentlich war dem so, in seinem eigenen Interesse. In meinem leider nicht. Ich hätte mich so gern noch von ihm verabschiedet. Und bedankt. Und noch einmal tief in seine braunen Augen geschaut.
»Das geht nicht, Lodda! Du hast es mir versprochen! Was meinst du, warum ich die gefräßige Meute hier gratis mit Krapfen vollstopf? Eine Hand wäscht die andere!«
Ich versuchte, ihn zu überhören, und drehte mich selbst suchend um. War Christian wirklich schon gefahren? Ich spürte so ein merkwürdiges Ziehen.
»Du musst Paul morgen für die erste Schulstunde eine Entschuldigung schreiben«, schrie mir Jürgen ins Ohr. »Der kommt morgen früh nicht aus den Federn! Da vorn steht die Lehrerin! Ergreif die Gelegenheit beim Schopf und gib ihr gleich noch für alle Kinder Luftballons mit!«
Ich fühlte seine Hand auf meinem Rücken, die versuchte, mich durch die Menge zu schieben wie der Bäckermeister sein Kind im Rollstuhl. Ich bockte wie ein störrischer Esel. Warum konnte Jürgen das nicht selbst machen? Wenigstens in diesem Moment? Ich hatte doch tausend Leute zu verabschieden! Während ich noch Hände schüttelte, stand plötzlich Christian Meran vor mir. Wie aus dem Boden gestampft. Mit einem Bier.
»Hier!«, sagte der Flötist. »Nehmen Sie einen großen Schluck!« Er hielt mir seine bereits geöffnete Flasche hin.
»Aber das ist doch Ihres!«, stammelte ich.
»Die Lehrerin«, raunte mir Jürgen zu. »Lauf hin! Gleich ist sie weg!«
»Lotta, sprich jetzt endlich ein Machtwort!«, keifte Mutter Margot an meinem anderen Ohr. »Keine fettigen Krapfen mehr! Die Kinder kotzen uns heute Nacht noch die Betten voll!«
»Frau von Thaaaalgau?«, fragte ein nasebohrendes Kind. »Wann ist die nächste Proooooobe? Meine Oma kann mich nämlich nicht faaaaahrn, die hat einen wehen Aaaaaarm!«
»Frohe Weihnachten, Frau von Thalgau! Und guten Rutsch! Wann darf meine Katharina Ihnen mal was auf der Bratsche vorspielen? Sie kann jetzt schon vier leere Saiten, nicht wahr, Katharina?«
»Machen wir nächstes Jahr Carmina Buraaaana?«
»Krieg ich nächstes Jahr auch ein Sooooloooo?«
»Lotta! Sie geht! Nun lauf ihr doch nach!« Jürgen drohte, mir seinen ganzen Pulk Luftballons umzuhängen.
Ich sah in Christian Merans dunkelbraune Augen. Stand Mitleid darin? Oder ein Hauch von Spott?! Er hatte jedenfalls Lachfältchen um seine Augen.
»Ah, da sind Sie ja!«, drängte sich Gerngroß dazwischen. »Also, ich hab hier mal ein Konzept ausgearbeitet, während Sie da vorn rumgeflödet haben.« Er wedelte mit einem voll beschriebenen Blatt Papier, das den Krapfen gefährlich nahe gekommen sein musste. »Wenn ich meine Vicki ins Fernsehen krieg, sind Sie an allen weiteren Einnahmen zu fünfzig Prozent beteiligt! Da springt eine saftige Provision für Sie raus, da brauchen Sie nie mehr selbst zu flödn!« Der Bäckermeister drängte meinem armen Wiener Philharmoniker sein mit Fettflecken übersätes Konzept auf, doch der hob abwehrend die Hände mitsamt der Bierflasche.
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
In meinem linken Ohr begann es schrill zu pfeifen. Das war der Stress. In diesem Moment wünschte ich mir sehnsüchtig einen verständnisvollen Menschen, der mich kurz abschirmt und mir ein Bier reicht, ohne mich zu einer Heirat zu drängen oder durch die Menge zu schubsen, damit ich Luftballons verteile.
Und genau da stand er! Direkt vor mir! Plötzlich verstummte das Pfeifen, und ich hörte nur noch seine ruhige tiefe Stimme.
»Sie nehmen den ersten Schluck!« Seine braunen Augen sahen mich an, als wären wir ganz allein auf der Welt.
»Aber …«
»Prost! Sie haben das toll gemacht, und Sie können stolz auf sich sein.«
»Kind!«, zischte Mutter Margot tadelnd. »Du wirst doch hier in aller Öffentlichkeit nicht aus der Flasche trinken! So wird aus dir nie eine Dame!«
»Ja, also … gern!« Ich setzte die Flasche an den Mund und nahm einen köstlichen kalten Schluck Bier. Dann gab ich sie Christian Meran zurück, und er trank weiter. Ein kleiner kollegialer Kuss auf Umwegen sozusagen. Ein frommer Wunsch, mehr natürlich nicht.
»Geben Sie mir zwei Minuten!«, mischte sich dreist Bäckermeister Gerngroß ein. »Mein Konzept hat Hand und Fuß. Ich bin nämlich ein genialer Geschäftsmann. Wir nehmen Bill Gates mit ins Boot! Der will ja unbedingt was Gudes tun mit seiner Kohle! Hat er selbst in einem Interview gesagt!«
Ich hasste ihn! ICH HASSTE IHN!
»Lotta! Jetzt essen die Kinder DOCH WIEDER Krapfen! DU musst es wissen!«, rief Mutter Margot tadelnd. »Das ist NICHT gesund um diese Uhrzeit!«
»Die Lehrerin! Sie zieht schon ihren Mantel an!« Jürgen zerrte an meiner Schulter. »Nun renn ihr schon nach! Gib ihr ganz beiläufig die Luftballons!« Mir wurde schwindelig, und die Beine wollten unter mir wegsacken. Auf einmal rannte ich. Aber nicht der Lehrerin nach. Sondern Hand in Hand mit Christian Meran durch eine grüne Eisentür. Halb zog er mich, halb sank ich hin. »Notausgang!« Ich weiß gar nicht, wer von uns auf die Idee gekommen war, aber auf einmal standen wir allein im schwach beleuchteten Treppenhaus, das zur Parkgarage führte. Unten hörten wir Autotüren schlagen und Reifen quietschen.
»Hier, trinken Sie das aus!«
»Aber ich kann Ihnen doch nicht Ihr Bier wegtrinken!«, widersprach ich lahm.
»Ich hab noch eins!« Verschmitzt grinsend zauberte Christian noch eine Flasche hervor und öffnete sie geschickt am Treppengeländer. Plopp! Ich sah so etwas wie jungenhaften Übermut in seinen Augen aufblitzen. Seit wann war ich eigentlich so unverfroren, auf einem Treppenabsatz Bier aus der Flasche zu trinken, während draußen mein Lebensgefährte, Mutter Margot und meine Kinder nach mir suchten? Ich trank. Dieser Christian war einfach hinreißend! Und so ganz anders als mein rührend ungeschickter Jürgen Immekeppel mit seinen platzenden Luftballons und seinen fragwürdigen Kosenamen. Wenn ich ihn bat, mich nicht »rattenscharfe Supermutter« zu nennen, hieß ich eben »Puschelchen«, »Speckhälschen«, »Schneckchen« oder »Gänsefürzchen«. Bis dann die »zuckersüße Sahneschnitte« dran war. Er wollte so cool sein wie eine leichte Riemchensandalette, war aber so plump wie ein ausgelatschter Pfadfinderschuh.
»Prost, rothaarige Lotta!«, sagte Christian plötzlich mit rauer Stimme und strich mir mit dem Handrücken eine vorwitzige Locke aus der Stirn. Ich hatte das Gefühl, als würden alle meine Sommersprossen explodieren. »Du bist viel zu schade für die Provinz. Weißt du das?«
Aus seinem Mund klang das einfach nur … gut. Durch meine beschlagene Brille starrte ich ihn wie hypnotisiert an. »Mehr, schrie der kleine Häwelmann. Leuchte, alter Mond, leuchte!«
»Prost, braunäugiger Christian«, stammelte ich und zitierte in Gedanken aus Goethes »Faust«: Könnt’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön! »Ich muss zurück …« Lahm zeigte ich mit der Bierflasche auf die Tür. »Die warten schon auf mich!« Ungeschickt versuchte ich die schwere Eisentür zu öffnen.
»Du musst überhaupt nicht zurück«, widersprach Christian und zog mich einfach neben sich auf die kalte Treppenstufe. »Du brauchst jetzt einen Moment für dich. Kapiert das da drin denn keiner?«
»Ähm … nö.«
»Der biedere Sparkassenmensch mit den gelben Luftballons ist ja fast so nervig wie der Bäckermeister mit seiner Vicki! Und die robuste Dame, die deine Kinder erziehen will, hätte wohl am liebsten selbst auf der Bühne gestanden, was? Meine Güte, was hast du da für unsensible Leute an der Backe.«
Ich lächelte beschämt. »Bis auf den Bäckermeister sind das meine Angehörigen!«
»Oh.« Christian presste die Lippen zusammen. »Entschuldige, das konnte ich ja nicht ahnen.«
»Sie sind heute Abend alle etwas aufgeregt. Ist ja auch ein großer Tag.«
»Beim Beifall hat sich die Dame mit der Turmfrisur nach hinten umgedreht«, bemerkte Christian. »So als hätte sie dir den Erfolg gar nicht gegönnt.«
»Ach, das war sicher nur Zufall«, murmelte ich verlegen. »Meine Mutter hat nur Frau Ehrenreich begrüßt, unsere Nachbarin.«
»Zollen die dir überhaupt Respekt als Künstlerin?«, sagte Christian sanft.
»Na ja«, räusperte ich mich und spürte, wie ich am ganzen Hals rote Flecken bekam. »Respekt, also ich weiß nicht … Ich bin doch nicht die Hauptperson, das sind doch die Kinder. Ich bin nur eine kleine Musikschulleiterin, die froh sein kann, dass die Sparkasse ihr so einen großzügigen Kredit …«
»Ja, aber dass du in deiner Funktion auch noch Luftballons verteilen sollst …? Wen interessieren denn heute Abend Bausparverträge?«
»Hm«, machte ich und drückte gedankenverloren die kühle Bierflasche an meine Wange. Christians Worte waren Balsam für meine Seele. Und die breitete ihre Flügel aus. Wie der kleine Vogel, so als flöge sie nach Haus.
»Du bist keine kleine Musikschulleiterin. Du bist eine außergewöhnlich talentierte Dirigentin und Musikpädagogin!« Christian strahlte mich an. »Ich habe noch nie eine solche Begeisterung im Saal erlebt!«
»Das liegt an dir«, murmelte ich und war plötzlich rettungslos verknallt in den Mann.
»Du hast diese Begeisterung entfacht«, widersprach mir Christian. »Du allein!«
Ich sah ihn an, und auf einmal kam die ganze Anspannung der letzten Wochen in mir hoch. Am liebsten hätte ich mich Trost suchend an seine Hemdbrust geworfen. »Aus dir wird nie eine Dame!«, hörte ich Mutter Margot missbilligend zischen. »Wirf dich dem Mann bloß nicht so plump an den Hals!«
Doch! Wollte ich! Die Nachtigall sollte mich aus dem Froschtümpel ziehen! Schnell nahm ich noch einen großen Schluck Bier.
»Im Grunde hätte dein Sponsor dir diesen unsäglichen Bäckermeister vom Leib halten müssen!«
Ich kicherte. »In Heilewelt verteidigen sich die starken Frauen selbst!«
Mir machte dieses verbotene kleine Rendezvous im Treppenhaus der Heilewelter Stadthalle einen Riesenspaß. Und es wurde immer besser.
»Bietest du auch Selbstverteidigungskurse an? Das würde zu dir passen.«
Christians Hand strich wie zufällig über meinen Rücken, und ich lehnte mich unwillkürlich ein wenig zurück. Ob er wohl bemerkt hatte, dass er mich duzte? Innerlich schnurrend hielt ich die Augen geschlossen und blinzelte nur einmal kurz, um mich davon zu überzeugen, dass ich das Ganze nicht träumte.
»Dein Sparkassenmensch ist nicht sehr musisch veranlagt oder??«
»Na ja, er denkt eben eher pragmatisch«, versuchte ich meinen Jürgen zu verteidigen.
»Aber sonst seid ihr ein gutes Team?« Christian Meran sah mich so forschend an, dass ich ganz schnell auf die weißen Treppenstufen schauen musste.
»Jürgen ist Sparkassendirektor, und ohne seinen Kredit …«
»Hättest du bestimmt eine andere Bank gefunden. Bei deinem Talent!«
»Da hätte Jürgen aber entschieden sein Veto eingelegt.«
Christian Meran sah mich mit einer Mischung aus Belustigung und Zuneigung an. Ich wusste nicht, wohin das führen sollte. Mein Herz schlug immer lauter.
»Aha«, meinte Christian amüsiert. »Ein Veto-Einleger also.«
»Nein, doch, er, also Jürgen … Er lebt nun mal eher in seiner Zahlenwelt.«
»Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft! Kümmert er sich auch um die Kinder, oder ist das dein Bereich?«
»Ähm … wir haben seit Neuestem einen Au-pair-Jungen aus Südafrika. Der betreut sie, weil wir ja beide arbeiten.«
Christian lachte. »Und gegen diesen Hausmann hat er kein Veto eingelegt?!«
»Au-pair-Männchen!«, korrigierte ich ihn. »Nicht Hausmann. Also zuerst natürlich schon. Aber dann konnte ich ihn überzeugen, dass Kinder auch männliche Vorbilder brauchen. Wenn sie sehen, dass auch Penisträger den Tisch abräumen, den Abfalleimer rausbringen und ein Hemd bügeln können, kann ihnen das nur guttun.«
»Penisträger.« Christian musterte mich belustigt.
»Ja.« Ich nickte ernst. »Sonst lernen Kinder das ja nie! Wenn das immer nur eine Frau macht … Außerdem ist Caspar schwul.«
Was für unzusammenhängendes Zeug purzelte mir denn da aus dem Mund? Das war das Bier auf nüchternen Magen! Und die Erleichterung nach der gelungenen Aufführung. Ich begann in meinem dünnen Hosenanzug zu zittern. Sofort legte Christian mir seinen körperwarmen Frack um die Schultern. Ich schmiegte mich ein bisschen hinein. Er roch herrlich.
»Auch nichtschwule Penisträger sind zu Hausarbeit fähig«, konterte Christian. »Ich selbst habe es schon mit Erfolg ausprobiert. Einkaufen. Putzen. Es funktioniert. Ich glaube, ich habe sogar schon mal ein Bett gemacht.«
»Dann bist du ja was ganz Besonderes«, erwiderte ich vielsagend.
Plötzlich nahm er meine eiskalte Hand. »DU bist was ganz Besonderes, Lotta aus Heilewelt.«
Gib mir mehr davon!, jubilierte ich insgeheim. Sprich aus, was in Heilewelt keiner glauben will.
»Ach was«, wiegelte ich bescheiden ab. »Ich bin bloß eine ganz normale …«
»Psssst!« Christians Zeigefinger lag auf meinen Lippen. Dann sahen mich seine braunen Augen eindringlich an. »Du weißt es wirklich nicht, was?«
»Ähm … was?« Im Zweifelsfall weiß ich nie etwas.
»Du weißt gar nicht, was für einen natürlichen Charme du besitzt.«
Christians Finger lag immer noch auf meinen Lippen, und ich genoss die intime Berührung, obwohl sie verboten war. Geschmacklos!, hätte Mutter Margot gesagt. Kaum ist der Vorhang gefallen, drückst du dich mit deinem prominenten Gast in schmuddeligen Treppenhäusern herum. Als Mutter von drei Kindern! Als Lebensgefährtin des Sparkassendirektors, dem du deine ganze berufliche Existenz verdankst. Schäm dich was!
»Bist du glücklich hier in Heilewelt?« Endlich nahm er die Hand weg.
Ich holte tief Luft. »Klar.« Meine Augen klebten am Flaschenhals. Mist, war das Bier etwa schon alle? Ich hätte dringend Nachschub gebraucht. Wo sollte das hinführen? Ich musste sofort aufstehen und durch diese eiserne Notfall-Tür zurückgehen, zurück in meinen chaotischen Alltag, zurück zu meiner Familie, meinen Freunden, meinem ungeschickten, aber liebenswerten Lebensgefährten. Der wollte schließlich nur mein Bestes. Und ich sture Egoistin wollte es ihm einfach nicht geben!
»Was hat dich eigentlich hierherverschlagen?«, fragte er fast mitleidig.
»Ich glaube, meine Geburt«, sagte ich schlagfertig. »Ich bin hier einfach so reingerutscht.« Hahaha. Ich fand mich ziemlich witzig dafür, dass ich schon so betrunken war.
»Ach, und ich hatte schon befürchtet, du hättest hier eingeheiratet«, sagte Christian.
»Ich bin nicht verheiratet«, murmelte ich.
»Oh. Wilde Ehe also. Du Schlimme!«
»Jürgen hat mir kurz vor dem Konzert einen Heiratsantrag gemacht«, gestand ich mit glühenden Wangen. »Aber in dem Moment bist du reingeplatzt.«
Stille. Christian rückte ein Stück von mir ab und starrte mich schuldbewusst an.
»Und … hättest du Ja gesagt?«
»Nein.«
Christian lächelte erleichtert, wobei wieder so ein Funkeln in seine Augen trat.
»Du brauchst einen richtigen Partner«, sagte er.
»Das IST er ja. Mit seinem Kredit …«
»Das meine ich nicht. Einen, der sich MENSCHLICH kümmert.«
Obwohl ich genau wusste, was er damit sagen wollte, sah ich ihn fragend an. Wie sagte meine beste Freundin Sophie immer so schön? Männer müssen sein wie gutes Haarspray: Halt geben, aber nicht kleben.
»Wenn ich zu Hause bin, kümmere ich mich um meine Frau«, sagte Christian. »Ich mache jeden Handgriff, den ich ihr abnehmen kann, bringe ihr morgens den Kaffee ans Bett und abends das Glas Rotwein zum Kamin!«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Kam er von einem anderen Stern?
Christian zog ein Foto aus seiner Brieftasche und zeigte es mir. Oh Gott! Ich kniff die Augen zusammen. Auf dem Bild war sie bezaubernd schön! Sie war ein MODEL, sie war perfekt! Natürlich hatte dieser Mann eine Traumfrau. Sie war ein Schwan und ich eine Gans. Was hatte ich rothaarige Kleinstadtpomeranze mir eigentlich eingebildet? Dass er eines Tages MIR Kaffee ans Bett und Rotwein zum Kamin bringen würde? Zumal ich a) gar keinen Kamin hatte und b) KEIN BISSCHEN ZU HABEN WAR!!!! Mutter Margot hockte wie eine schwarze Krähe auf meiner Schulter und krächzte: Du-bist-nicht-zu-haben-und-dich-will-auch-niemand! Du kannst froh sein, dass du den gediegenen Sparkassendirektor hast, den du gar nicht verdienst! Ohne seinen großzügigen Kredit wärst du eine ganz einfache Klavierlehrerin, die mit mittelbegabten Mittelstandskindern in muffigen Wohnzimmern Etüden spielt! Dann stündest du NICHT auf der Bühne der Stadthalle, würdest NICHT dirigieren und moderieren, hättest KEINEN Beifall und wärst NICHT in der Zeitung! All das verdankst du Jürgen!
Mir fiel das Herz nicht nur in die Hose, sondern laut polternd sämtliche Steinstufen hinunter. Bis zur Tiefgarage. Ein paar Minuten lang hatte ich mich geschmeichelt gefühlt. So verstanden, so … besonders! Natürlich hatte er eine Frau. Eine, die er auf Händen trug und verwöhnte. Eine, mit der er sich auf internationalem Parkett sehen lassen konnte. Eine, mit der er sich nicht im Treppenhaus der Stadthalle von Heilewelt verstecken musste.
»Sie ist wirklich … wunderschön!« Auf einmal fühlte ich mich wie ein Trampeltier. »Wie heißt sie?«
»Anita.« Christian ließ ihren Namen auf der Zunge zergehen wie eine zart schmelzende Praline. »Na ja, sie war früher mal Model«, fuhr er nicht ohne Stolz fort und verstaute das Bild wieder in seiner Brieftasche. »Und das hier …« Seine langen, feingliedrigen Finger verschwammen vor meinen Augen. »… sind meine Töchter Grazia und Gloria.«
Ich musste kurz blinzeln und tief durchatmen. Das eine schlanke Mädchen umarmte ein Pferd, das andere, größere, einen Golfpokal. Beide Töchter hatten das gleiche Lächeln wie die Königinmutter, dazu seine braunen Augen und sein Grübchen am Kinn. Und ich? Ich passte eben zu meinem molligen Sparkassenfrosch im viel zu engen, unmodischen Anzug und den praktischen Schnürschuhen. Schuster, bleib bei deinen Leisten!, hätte mein Vater jetzt trocken bemerkt.
»Die sind wirklich hübsch. So groß und schlank und blond …«
»Ja, sie kommen ganz nach ihrer Mutter«, sagte Christian stolz und steckte die Fotos wieder zurück.
Meine drei Kinder waren rothaarig wie ich und rundlich wie Jürgen. Eher so eine Mischung aus Karlsson vom Dach und Pippi Langstrumpf.
Wir saßen so dicht nebeneinander, dass kaum noch eine Briefmarke zwischen uns passte. Verstohlen verschlang ich ihn mit meinen Blicken: Seine Augen waren dunkelbraun-schwarz gesprenkelt, seine Nase kräftig, seine Lippen voll und … ähm … sehr geübt, wie ich wusste. Nicht weiterdenken jetzt!, ermahnte ich mich. Wahrscheinlich schielte ich schon, so wie ich ihn anstarrte.
Wie naiv BIST du eigentlich?, hörte ich wieder Mutter Margot sagen. Glaub JA NICHT, dass er verliebt in dich ist. Du bist gar nicht sein Kaliber. Er ist ein international gefragter Wiener Philharmoniker. Und du bist eine Musiklehrerin. Mit roten Haaren, Sommersprossen und Brille. Höchste Zeit, dass ich durch die grüne eiserne Tür zurück in mein wahres Leben huschte. Aber vorher vielleicht noch eine klitzekleine Frage. Nur damit die liebe Seele ihre Ruhe hatte.
»Ihr seid also … glücklich verheiratet?«, fragte ich mit belegter Stimme und setzte überflüssigerweise die leere Flasche an den Mund.
»Wir sind schon achtzehn Jahre verheiratet«, sagte Christian und nahm mir die leere Flasche aus der Hand. Das war jetzt nicht unbedingt die Antwort, die ich hören wollte, deshalb schaute ich ihn weiterhin an.
»Im Großen und Ganzen ist es okay.«
»Im Großen und Ganzen?«
»Wir haben ein tolles Haus in einem der schönsten Bezirke Wiens.« Er grinste spitzbübisch und fügte hinzu: »Bei uns im Garten stehen die Bremer Stadtmusikanten. Falls du uns mal besuchen kommst …«
»Äh, wohl eher nicht.« Was sollte ich denn in Wien? Seine Frau würde mich nur mitleidig ansehen. Oder mir ihre Chanel-Handtasche um die Ohren hauen. Hastig stand ich auf und klopfte mir den Hintern ab.
Christian zog mich wieder herunter. Dabei geriet ich ins Wanken und wäre fast auf ihn draufgefallen. Meine Brille verrutschte, und ich griff reflexartig danach, sodass ich seine blütenweiße Hemdbrust berührte. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob er sein Hemd selbst gebügelt hatte. »Oh, ups, Entschuldigung!«, stotterte ich verlegen. »Entschuldige, aber ich muss jetzt wirklich …«
»Verweile doch, du bist so schön!«, flüsterte Christian Meran.
Hatte ich das nicht gerade selbst gedacht?
»Trink wenigstens noch dieses Bier aus, bevor du wieder in die Höhle des Löwen gehst.« Er reichte mir auch noch seine Flasche. Es war noch ein letzter Schluck drin.
Ich trank ihn dankbar aus und fühlte mich erneut fast ein bisschen wie frisch geküsst. Ich wischte mir grinsend über den Mund: »Ach, hatte ich einen Durst! Danke. Du hast mich gerettet.« Ich musste jetzt los. Meine Kinder brauchten mich. Wahrscheinlich kotzten sie längst. Was MACHTE ich überhaupt noch hier!
»Es hat mir wirklich Spaß gemacht, mit dir zu spielen.«
»Ja. Mir auch. Es war mir eine Ehre.«
Klar. Er hatte nur mit mir gespielt. Was sonst? Trotzdem saßen wir immer noch Händchen haltend da und schauten uns an, als wüssten wir nicht so recht, wie wir diese Szene jetzt stilvoll zu Ende bringen sollten. Also gab ich ihm einen verlegenen Abschiedskuss auf die Wange, woraufhin meine Brille schon wieder beschlug, sodass ich ihn nur noch verschwommen sah. Dann drehte er plötzlich den Kopf, unsere Lippen trafen sich, und wir küssten uns aus Versehen auf den Mund. Dafür allerdings recht ausführlich. Ich saugte mich regelrecht an ihm fest und wusste nur eines: Das war der beste Kuss meines Lebens, und ich wollte ihn gern noch ein wenig in die Länge ziehen. Leider ging in diesem Moment mit lautem Quietschen die bescheuerte Notfalltür auf.
»Huch! Ach, HIER seid ihr! Ihr werdet schon überall gesucht! Wir waren doch noch gar net fertig mit unserer Besprechung über die Weltkarriere von der Vicki!«
»Ups … Hallo, Herr Gerngroß! Ich habe Herrn Meran nur ins Parkhaus begleitet!« Hastig wischte ich mir über den Mund und nahm ziemlich peinliche Lippenstiftspuren auf Christians Hemdkragen wahr. Der Bäckermeister sah aus wie ein Goldfisch, der soeben sein sicheres Aquarium verlassen hat und nun auf dem Trockenen liegt. Er machte den Mund mehrmals auf und wieder zu.
Das war der erste und einzige Moment in meinem Leben, in dem ich den Bäckermeister sprachlos erlebte.