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Aids gewann an Aufmerksamkeit. Musiker und Filmstars engagierten sich für das Thema. Es stand an vorderster Stelle auf der Tagesordnung der Kampagne »Make Poverty History«, die Gerechtigkeit für die Armen dieser Welt forderte. Im Juli 2005 fand im schottischen Gleneagles der G8-Gipfel statt. Premierminister Tony Blair versprach, dass es bei diesem Gipfel vorrangig um Afrika und den Klimawandel gehen würde. Vor der Konferenz fanden unter der Schirmherrschaft der Rockstars Bono und Sir Bob Geldof weltweit Live-8-Popkonzerte auf eigens errichteten Bühnen an Orten wie dem Hyde Park in London, Schloss Versailles bei Paris, dem Circus Maximus in Rom, dem Museum of Art in Philadelphia; vor der Siegessäule in Berlin, dem Park Place im kanadischen Barrie, vor der Makuhari Messe in Tokio, dem Roten Platz in Moskau, dem Mary Fitzgerald Square in Johannesburg und dem Murrayfield Stadion in Edinburgh statt. Drei Milliarden Zuschauer (so hieß es) schalteten ihren Fernseher ein, um die Auftritte von Stars wie Paul McCartney, Stevie Wonder, Kanye West, Madonna, U2 und Sting zu verfolgen. Hinter den Künstlern flackerten die Bilder von armen Afrikanern über Leinwände.
Die Regierungschefs der G8-Staaten versprachen, die Hilfe für Afrika bis 2010 zu verdoppeln und 18 armen Ländern ihre Schulden zu erlassen, in Hinblick auf eine verbesserte Handelspolitik wurden jedoch nur minimale Fortschritte erzielt. Was die Regierungschefs versprachen, war, auf einen allgemeinen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten bis 2010 hinzuarbeiten.
Jene, die konkret mit dem Problem zu tun hatten, beeindruckten die beflissene Zurschaustellung von Besorgnis und die Selbstbeweihräucherung nicht besonders. 1970 hatte die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, dass die reichen Nationen 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts (BSP) armen Ländern als Entwicklungshilfe zukommen lassen sollten. Dieser Beschluss gründete nicht einfach nur auf einem Gefühl der moralischen Verpflichtung, sondern auch auf der Erkenntnis, dass zwischen dem Reichtum in der nördlichen Hemisphäre und der Armut in der südlichen ein Zusammenhang bestand; insbesondere Afrika war jahrhundertelang von den Mächtigen der Welt ausgeplündert worden, ohne dass diese einen Gedanken daran verschwendet hatten, welches Durcheinander, welche Tragödien und welche Not sie damit verursachten. Die Erhebung eines Entwicklungshilfebeitrags in Höhe von 0,7 Prozent des BSP sollte bis spätestens Mitte der 1970er-Jahre erfolgt sein.
1992 einigten sich die reichen Länder erneut auf 0,7 Prozent des BSP als Entwicklungshilfe. Im Jahr 2015 (das Jahr, in dem man die derzeitigen Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen verwirklicht zu haben hofft) sollte der ursprüngliche Beschluss seit 40 Jahren umgesetzt sein.
Viele Amerikaner sind der Ansicht, dass die US-Regierung tut, was sie kann, um Leid, Hunger und Krankheit in der Welt zu lindern (und viele Privatleute, Privatunternehmen, NGOs und Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens aus den Vereinigten Staaten tun tatsächlich, was sie können). Es ist jedoch ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Vereinigten Staaten als Nation einen der ersten Plätze unter den Wohltätern der Welt einnehmen. Meinungsumfragen in Amerika zeigen, dass Kürzungen der Auslandshilfe mehr Befürworter haben als Erhöhungen (31 Prozent gegenüber 17 Prozent), während eine Mehrheit dafür ist, das Budget für Hilfsleistungen auf dem derzeitigen Stand zu belassen.127
In absoluten Zahlen gerechnet, sind die Vereinigten Staaten tatsächlich der größte Geber; in Prozent des BSP gemessen, ist der amerikanische Beitrag allerdings eher dürftig.
Darüber hinaus ist die sogenannte Hilfe für das Geberland oft von größerem Nutzen als für die empfangende Nation. »Entwicklungshilfe ist häufig von einem zweifelhaften Wert«, heißt es in einem Bericht des Global Policy Forum vom August 2005. »In vielen Fällen dient die Hilfe in erster Linie den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Geberländer […] oder sie dient dem Nutzen einflussreicher einheimischer Interessengruppen. Leistungen, denen die Interessen des Gebers und nicht die Bedürfnisse des Empfängers zugrunde liegen, lassen Entwicklungshilfe wirkungslos werden; die Länder, die sie am dringendsten brauchen, erhalten zu wenig Hilfe, und viel zu oft werden Hilfsmittel für überteuerte Güter und Dienstleistungen aus den Geberländern verschwendet […]. Die jüngsten Erhöhungen [der Auslandshilfe] sagen nicht allzu viel über die Großzügigkeit reicher Länder oder über deren Fehlen.«
Wie es um die Qualität der Hilfe auch bestellt sein mag, in Dollar umgerechnet sahen die Hilfsleistungen der größten Geber zwischen 2002 und 2005 wie folgt aus: USA 75 853 000 Dollar, Japan 40 138 000 Dollar, Frankreich 3 1051 000 Dollar, Großbritannien 29552000 Dollar, Deutschland 29502000 Dollar, Niederlande 16 771 000 Dollar, Italien 12 221 000 Dollar, Kanada 10 552 000 Dollar, Schweden 9 856 000, Australien 5 325 000 Dollar.
In Dollar gerechnet, leisteten die Vereinigten Staaten zwar den höchsten Beitrag, in Prozent vom BSP gerechnet gaben sie jedoch am wenigsten: verschwindend geringe 0,1575 Prozent. 128 Weit hinter den vereinbarten Zielen und oft wiederholten Versprechen zurück blieben auch Japan mit 0,25 Prozent seines BSP, Kanada und Deutschland mit etwa 0,3 Prozent sowie Italien und Australien mit 0,2 bis 0,25 Prozent.
Zum Vergleich die Länder, die im selben Zeitraum (2002 bis 2005) in Prozent ihres Bruttosozialprodukts gerechnet am meisten gaben, im Durchschnitt mehr als 0,8 Prozent: Norwegen 0,91 Prozent (im Jahr 2005: 0,93 Prozent), Dänemark 0,865 Prozent (2005: 0,81 Prozent), Schweden 0,785 Prozent (2005: 0,92 Prozent), Luxemburg 0,82 Prozent (2005: 0,87 Prozent), Niederlande 0,795 Prozent (2005: 0,82 Prozent).
Bis zum 15. April 2006 hatte die US-Regierung, gemäß der Bewilligung durch den Kongress, 275 Milliarden Dollar für den Krieg im Irak ausgegeben. Nach dem National Priorities Project hätten sich mit diesem Betrag 27 Jahre lang sämtliche Aids-Programme weltweit finanzieren lassen.
»Wir befinden uns in einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit, und wir verlieren ihn«, sagte Stephen Lewis. »Es ist bei diesem Tempo einfach unmöglich, Armut, Hunger, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Krankheiten und Sterblichkeit in einem wesentlichen Maß zu verringern, und abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen eines rhetorischen Hyperaktionismus ist nichts davon zu merken, dass man […] einen Gang beschleunigt. Nur leider können die Männer und Frauen nicht von schönen Worten allein leben.«129
Immer mehr ausländische Epidemiologen und Aids-Helfer setzten sich ins Flugzeug und kamen nach Addis Abeba. Im Addis Abeba Hilton und im Sheraton Addis grasten Europäer und Nordamerikaner die Frühstücksbüfetts ab: auf Porzellanplatten waren Wassermelonenscheiben, Minibananen und dicke blaue Trauben angerichtet. Die bitteren Kerne aufgebrochener Granatäpfel waren mit Zucker überzogen. Auf Warmhalteplatten aus Sterlingsilber wurden Rührei, Bratkartoffeln und geröstete Zwiebeln angeboten, außerdem geräucherte Forellenfilets. Draußen vor den blank geputzten Glasfenstern wippten Weißringtauben und Weißstirnamazonen auf den Ästen der Eukalyptusbäume im Wind.
In den Hotellobbys befanden sich die Büros von Fluggesellschaften und Banken, Juweliergeschäfte und Läden für Sportschuhe. In die gepflegten Rasenflächen waren Swimmingpools und Springbrunnen eingelassen. Der Tennislehrer des Hilton, ganz in Weiß, schlug zum Zeitvertreib Bälle gegen eine Übungswand, während er auf seine Schüler wartete. Er war gleichzeitig der Squashlehrer. In einem Patio neben dem Eingang zu dem verglasten Fitnesscenter standen eine Tischtennisplatte und ein Billardtisch.
Nach dem Frühstück zogen Wissenschaftler, Forscher, Vertreter internationaler NGOs, Epidemiologen, Wirtschaftsexperten und Exportmakler in den geschwungenen Auffahrten neben hüfthohen Blumenrabatten ihre Bauchtaschen zurecht und bestiegen die für sie bereitstehenden Geländewagen. Sie blinzelten in die Sonne und machten sich auf den Weg ins Hinterland. Einige von ihnen leisteten hier echte Arbeit und stellten wichtige Kontakte zu Einheimischen her; Vertreter der Weltgesundheitsorganisation, von UNAIDS, Global Fund und CDC, die freiwilligen Helfer von Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, World Wide Orphans oder der William J. Clinton Foundation retteten Leben. Aber zu viele Experten sammelten lediglich Daten, um daraus Diagramme und Tabellen zu erstellen, die wahre Meisterwerke geometrischer Muster und Farben waren. In den Konferenzräumen und Ballsälen der besten europäischen Hotels wurden Vorträge gehalten; die Teilnehmer machten sich Notizen auf ihren Laptops; die Lüster über ihren Köpfen wurden während der Diashows und PowerPoint-Präsentationen heruntergedimmt.
»Wir sind unschlagbar, wenn es um Studien und Dokumentationen geht«, sagt der UN-Sondergesandte Stephen Lewis. »Jahresberichte wie der Epidemic Update von UNAIDS […] sind Musterbeispiele für Datensammlungen, und sie enthalten jede Menge hochinteressantes statistisches Material. Aber der Bericht selbst bestätigt nur, dass kaum ein nennenswerter Fortschritt im Kampf gegen die Pandemie festzustellen ist. Wir brauchen eine übermenschliche Anstrengung aus jeder Ecke der internationalen Gemeinschaft. Doch wir bekommen sie nicht. Beim gegenwärtigen Tempo werden wir bis zum Jahr 2012 eine Gesamtzahl von 100 Millionen Todesfällen und Infektionen zu verzeichnen haben.«130
Manchmal kam es den zu Besuch weilenden Experten so vor, als wäre das stolze und abgelegene Land in den Hügeln mit einem Fluch belegt worden und es wäre lediglich ein Zauberspruch aus der westlichen Welt erforderlich, um es davon zu erlösen, so dass Glückund Wohlstandzurückkehrten. Wirtschaftliche Entwicklung und politischer Fortschritt schienen gelegentlich in greifbare Nähe gerückt.
Viele äthiopische Führungspersönlichkeiten hätten es vorgezogen, sich nicht zu ergeben und sich nicht mit ausgestreckter Hand an den Westen wenden zu müssen. Äthiopien war schon lange ein zivilisiertes und unabhängiges Land gewesen, bevor die prosperierenden Staaten der nördlichen Hemisphäre überhaupt entstanden waren. Das Symbol Äthiopiens und das Symbol des letzten Kaisers war der Löwe von Judäa. Der Löwe von Judäa gibt sich nicht unterwürfig.
Aber Unterstützung aus den reichen Ländern - Schuldenerlass, fairer Handel und die Aufhebung teurer Patente für medizinische Wundermittel - war im Kampf Äthiopiens gegen die Armut unerlässlich, deshalb war der Löwe von Judäa gezwungen, sein Haupt zu beugen. Der Löwe senkte dabei seinen Blick.
 
Die Äthiopier waren nicht sicher, wie viel ihre ausländischen Besucher - wie viel die Welt da draußen - von den Machtverhältnissen in ihrem Land und der demonstrativen ethnischen Politik und den Grenzstreitigkeiten mit Eritrea begriffen.
Nach dem Sturz von Mengistus kommunistischem Regime im Jahr 1991 versprach die neue Regierung unter Meles Zenawil, die demokratischen Freiheiten - einschließlich Presse- und Versammlungsfreiheit - und ein Mehrparteiensystem zu fördern.
In den letzten Jahren trugen die stagnierende Wirtschaft und die sich ausweitende Aids-Krise - die zu Problemen wie regionalen kriegerischen Auseinandersetzungen, Nahrungsmittelknappheit, schlechten hygienischen Verhältnissen, unzureichender Frischwasserversorgung und weiteren Mängeln des öffentlichen Gesundheitswesens hinzukamen - in der Bevölkerung zu der Entschlossenheit bei, den Premierminister (der in seiner Regierung Leute mit der gleichen ethnischen Abstammung wie er bevorzugte) und seine Partei, die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front, abzusetzen.
Aber würde Meles Zenawi auch wirklich zurücktreten, wenn er 2005 nicht wiedergewählt wurde? Viele beteten und träumten davon, dass er es tun würde. Müsste es ihm bei seinem demokratischen Auftreten, seinen liberalen Verlautbarungen und seinen freundschaftlichen Beziehungen zu den politischen Führern dieser Welt, insbesondere zum englischen Premierminister Tony Blair, nicht peinlich sein, sich gegen den Willen des Volkes an die Macht zu klammern?
Nach der Wiederwahl von Meles Zenawi im Mai 2005 war sofort von Wahlbetrug die Rede.131 Seine Weigerung, die Macht abzugeben, empfand die Mehrheit der Äthiopier als zutiefst antidemokratisch. Ende 2005 sah sich die Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahlergebnisse manipuliert zu haben, Journalisten und Oppositionsführer ins Gefängnis zu sperren und Proteste mittels Waffengewalt, der Ausweisung von ausländischen Beobachtern und Massenverhaftungen zum Verstummen zu bringen.
Die Koalition für Einheit und Demokratie (Coalition for Unity und Democracy - CUD) rief zum Zeichen des Protests gegen den vermeintlichen Wahlbetrug zum gewaltfreien nationalen Widerstand auf, unter anderem zu einem Generalstreik und Boykott aller von der regierenden Partei betriebenen Geschäfte. Im Juni 2005 und dann erneut im November fanden in Addis Abeba und in den kleineren Städten Dese, Debre Berhan, Bahir Dar und Awasa Demonstrationen gegen die Regierung statt. Sie reagierte darauf mit der Entsendung bewaffneter Sicherheitskräfte, die tatsächlich das Feuer eröffneten. 46 Demonstranten und Passanten - Männer, Frauen und Kinder - wurden getötet, 200 wurden verletzt, und 4000 Menschen (darunter viele Studenten) wurden verhaftet, einschließlich bekannter Persönlichkeiten wie Hailu Shawel, siebzig Jahre, Vorsitzender der oppositionellen CUD; Professor Mesfin Woldemariam, 75 Jahre, ehemaliger Vorsitzender des Äthiopischen Rats für Menschenrechte; Dr. Yacob Hailemariam, ehemaliger Sondergesandter der Vereinten Nationen und Anklagevertreter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda; Ms. Birtukan Mideksa, stellvertretende Vorsitzende der CUD und ehemalige Richterin; und Dr. Berhanu Nega, gewählter Bürgermeister von Addis Abeba und Professor für Wirtschaftswissenschaften. 2500 Inhaftierte hat man seither wieder freigelassen, ohne dass Anklage erhoben wurde; es ist nicht bekannt, wie viele noch festgehalten werden oder wo sie sich befinden. Premierminister Meles hat erklärt, dass man die Inhaftierten wahrscheinlich wegen Landesverrats vor Gericht stellen werde.
Die CUD gewann bei der Wahl ein Drittel der Sitze, boykottierte die neue Regierung jedoch, weil sie nicht rechtmäßig zustande gekommen sei.
Im November 2005 erklärte Amnesty International, man befürchte, »dass den Häftlingen eine Freilassung auf Kaution verweigert wird und dass sie unter schlimmsten Bedingungen in verlängerter Untersuchungshaft festgehalten werden, was zu einem übermäßig langen Prozess mit zahlreichen Vertagungen führt, und dass sie keinen ordentlichen Prozess entsprechend internationaler Richtlinien bekommen.«
Diese Befürchtung erwies sich als zutreffend. Im Februar 2006 begann vor dem Bundesgericht der Prozess gegen 80 Angeklagte, von denen 38 nicht anwesend waren. Die Anklage lautete unter anderem auf Hochverrat, »Verstoß gegen die Verfassung«, »Aufruf und Organisation eines bewaffneten Aufstandes« und »Genozid«.132
Die meisten der Angeklagten weigerten sich, auszusagen oder sich zu verteidigen, da sie nicht mit einem fairen Prozess rechneten. Amnesty International erklärte die Anklagen für unbegründet und verlangte die sofortige und bedingungslose Freilassung von Oppositionsführern, Menschenrechtlern und Aktivisten. »Diese Leute sind Gefangene des Gewissens; man hat sie lediglich wegen ihrer gewaltlosen Überzeugungen und Aktionen eingesperrt«, sagte Kolawole Olaniyan, Leiter des Afrika-Programms von Amnesty International. »Außerdem entsprechen die von der Staatsanwaltschaft angeführten Gründe für eine Anklage wegen ›Genozids‹ nicht im Entferntesten der international anerkannten Definition von Genozid - und auch nicht der im äthiopischen Strafgesetzbuch festgelegten Definition. Diese absurde Anklage sollte auf der Stelle fallen gelassen werden.« 133
Ich sprach mit einem schüchternen sechzehnjährigen Mädchen, deren Schwester und Schwager, bei denen sie in Addis Abeba wohnte, während der Novemberunruhen jede Spur von ihr verloren hatten.
»Ich habe einen Stein geworfen«, erzählte sie mir unter Tränen in meinem Hotelzimmer. Das war im Februar 2006, drei Monate nach den Ereignissen, aber sie schien immer noch unter Schock zu stehen. Sie trug einen karierten Rock und eine kurzärmlige weiße Bluse; ihre Haare waren zu hübschen Zöpfen geflochten. »Ich stand auf dem Schulhof und habe ihn einfach nur über die Mauer geworfen. Als die Sicherheitstruppen mit ihren Gewehren hereinstürmten, sind wir alle ins Schulhaus gelaufen; die Leute haben geschrien, geweint, sie sind hingefallen. Die Soldaten haben sie getreten und geschlagen. Einige Schüler sind blutüberströmt über den Boden gekrochen. Drinnen sonderten sie die den Tigray angehörenden Schüler [Meles’ ethnische Gruppe] aus und benutzten sie als Informanten. Wir mussten uns mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, und die Soldaten sind mit ihren Informanten an uns vorbeigegangen. Einer hat auf mich gezeigt und gesagt, ich hätte einen Stein geworfen, und sie haben mich gepackt.
Wir mussten stundenlang auf dem Boden sitzen und warten, bis Lastwagen kamen und uns ins Gefängnis brachten. Wir durften nicht hochsehen oder miteinander reden, wir durften nicht unsere Handys benutzen, um zu Hause anzurufen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass mir, dass uns so etwas passiert. Als die Lastwagen kamen, schrien sie uns an, dass wir aufstehen sollen, und dann gingen sie mit ihren Gewehren neben uns her. Kurz bevor ich eingestiegen bin, konnte ich mich umdrehen und habe eine Freundin entdeckt, die mir nachsah; sie nickte mir zu, um mich wissen zu lassen, dass sie mich gesehen hatte; ich wusste, dass sie meiner Familie Bescheid sagen würde.
Sie haben uns alle in eine Zelle gesteckt. An manchen Tagen ließen sie uns nach draußen, und unsere Familien versammelten sich auf der anderen Seite des Zauns. Meine Schwester kam, und mein Schwager, und sie brachten mir etwas zu essen mit. Ich berührte durch den Zaun die Hand meiner Schwester. Am schlimmsten waren die Tage, an denen wir nicht rausgehen und unsere Familien sehen durften.«
Sie senkte den Kopf und begann zu zittern. Man ließ sie nach ein paar Wochen frei, aber sie hatte sich verändert. Sie wirkte gehetzt. Zu dem Gespräch mit mir war sie nur unter Zusicherung absoluter Geheimhaltung und Anonymität bereit. Sie ist eine Schülerin, deren Leben völlig aus der Bahn geraten ist, weil sie sich bei einer Protestkundgebung auf dem Schulhof von der allgemeinen Erregung mitreißen ließ und einen Stein über die Mauer geworfen hat.
»Wenn Meles seine Wahlniederlage akzeptiert und die Macht abgegeben hätte wie der Demokrat, der er vorgab zu sein, hätte er damit im Westen eine ungeheure Popularität gewonnen«, erklärte mir ein äthiopischer Freund, ein Geschäftsmann. »Man hätte ihn als zweiten Mandela bezeichnet. Er hätte sich auf eine ausgedehnte Vortragsreise durch amerikanische Universitäten und europäische Hauptstädte begeben können und wäre ein gesuchter Berater gewesen. Wir hätten ihn nicht vermisst, das kannst du mir glauben! Wir wissen, was für ein Mensch Meles ist. Aber niemand hätte etwas dagegen gehabt, dass man ihn im Westen als eine Art demokratischen Heiligen betrachtet, wenn er zurückgetreten wäre.
Stattdessen wurden die Wahlergebnisse gefälscht, und es hat sich mal wieder ein Klischee über Afrika bestätigt.«134
 
In der Zwischenzeit kamen und gingen die Leute aus dem Westen. Äthiopische Freunde brachten sie zum Bole International Airport. Kurze Zeit später wurde die Aufmerksamkeit der Reisenden von Kopfhörern, ergonomisch geformten Nackenkissen und amerikanischen Spielfilmen in Anspruch genommen. Und im selben Augenblick, in dem ihre Jumbojets im Himmel über Äthiopien entschwanden, landeten neue Jumbojets mit jeder Menge ausländischer Experten an Bord.
In zunehmendem Maß wurde Haregewoin von Fremden als Torwächterin zu der merkwürdigen und traurigen neuen Unterwelt von HIV/Aids in Afrika betrachtet. Sie kannte Leute, die tatsächlich an Aids starben. Sie zog deren Kinder groß.
Einige der ausländischen Besucher kamen zu Haregewoin und fragten, wie sie helfen könnten. Sie saßen bei ihr und bedankten sich höflich für den Kaffee, für die Orangenschnitze, für das Popcorn. Sie lobten den Kaffee, die Orangen, das Popcorn und die niedlichen Kinder draußen auf dem Hof. Sie schlugen die Notizbücher und Kalender auf, sie tippten auf ihren Taschenrechnern herum und hofften, hier ein gutes Werk zu tun. Sie kamen aus Italien, Schweden und Norwegen. Sie fragten Haregewoin, ob sie ihre Kinder für den Vorstand ihrer NGOs zu Hause fotografieren dürften, und sie bedankten sich bei ihr, wenn sie es ihnen erlaubte.
Ein Beitrag über Haregewoin, den ich für Good Housekeeping schrieb, veranlasste Tausende von Lesern, Spenden zu schicken. Vielen davon legten einen Brief bei, in dem sie zum Ausdruck brachten, wie überrascht und traurig sie von der Nachricht seien, dass überall in Afrika so viele Menschen starben. Die meisten schrieben: Das haben wir nicht gewusst.
Die Geldspenden für den Atetegeb-Worku-Verein zur Unterstützung von Waisen ermöglichten es Haregewoin, einen Schritt zu wagen, über den sie lange nachgedacht hatte. Bevor für äthiopische Kinder Medikamente gegen Aids zur Verfügung standen, galt es als riskant, wenn HIV-positive Kinder mit HIV-negativen Kindern zusammenlebten, weil Letztere Kinderkrankheiten wie Erkältungen oder Windpocken ebenso schnell überstanden, wie sie sie einfingen, während diese Krankheiten für ein immungeschwächtes Kind verheerende Folgen haben konnten. Andererseits hegte man Befürchtungen, dass die kranken Kinder, die ständig von opportunistischen Infektionen geplagt wurden, die Gesundheit ihrer Spielkameraden gefährden könnten. Wenn Medikamente zur Verfügung stehen, ist es nicht notwendig, die Kinder voneinander zu trennen.
Mit Geld auf dem Bankkonto konnte Haregewoin es sich leisten, sich für die Kinder ein besseres Leben vorzustellen als das ärmliche Dasein in dem heruntergekommenen Haus und dem staubigen Hof. Sie klapperte die besseren Stadtviertel ab und beschloss, zwei hübsche Häuser zu mieten: eines für die HIV-negativen Kinder und eines für die wachsende Zahl von HIV-positiven Kindern.
Sie ließ sich mit dem Taxi in den steilen Hügeln von Addis Abeba herumfahren und sah sich jedes Haus, das zu vermieten war, genau an. Sie drehte Wasserhähne auf und prüfte den Wasserdruck; wenn ihr der Gestank von Außenklos in die Nase stieg, wedelte sie mit der Hand vor ihrem Gesicht und machte auf dem Absatz kehrt; sie stand auf gepflasterten Straßen und schätzte die Entfernung zu Schulen und Krankenhäusern ab; und sie schaute böse, wenn Vermieterinnen versuchten, den Preis ihrer Häuser in die Höhe zu treiben.
In der Vergangenheit war sie gezwungen gewesen, ihre Absichten vor potenziellen Vermietern geheim zu halten, dass sie vorhatte, ein gemietetes Haus mit Aids-Waisen zu füllen. Sie war gezwungen gewesen, zu verschweigen, woher die Kinder kamen, was mit ihren Eltern passiert war, dass einige Kinder krank waren.
Aber allmählich wurde sie zu einer gewichtigen Persönlichkeit, einer Berühmtheit. Fremde kamen zu ihr; die reichste Frau in Addis Abeba hatte sie gebeten, die Geburtstagsfeier für ihre Tochter auszurichten. Eine Lokalzeitung hatte den in Good Housekeeping erschienenen Bericht auf Amharisch veröffentlicht. Für den Fall, dass er jemandem entgangen sein könnte - auf Englisch oder auf Amharisch -, hatte sie immer ein paar Kopien davon in ihrer Handtasche.
Schließlich fand sie zwei Häuser und mietete sie als Ersatz für das Haus mit dem Güterwaggon und dem Hof aus gestampfter Erde.
Den Eingang des größeren Grundstücks schmückte ein schmiedeeisernes Tor mit Messingverzierung; statt von Blechwänden war es von einer Steinmauer umgeben. Um einen gepflasterten Hof standen drei Häuser mit betonierten Veranden.
Auf dem kleineren Grundstück, das um die Ecke an einer breiten, unbefestigten Straße lag, warf eine kleine Baumgruppe kühlen grünen Schatten auf den rissigen Betonboden. Es gab mehrere alte Ziegelgebäude und eine Außenküche. Hier wurden die HIV-positiven Kinder untergebracht. Ihre Schlafzimmer waren groß und luftig, und es standen Stockbetten darin.
Dann erfuhr Haregewoin, dass sie aufgrund des Berichts in Good Housekeeping in Amerika einen Preis gewonnen hatte: den mit 10 000 Dollar dotierten Heroes-in-Health-Preis, gestiftet von General Electric. Die Herausgeber von Good Housekeeping luden sie ein, zur Preisverleihung nach New York zu kommen. Sie setzten sich wegen der beschleunigten Erteilung eines Visums mit dem amerikanischen Botschafter in Äthiopien in Verbindung, und ihrer Bitte wurde entsprochen.
Haregewoin fuhr mit dem Taxi zum Büro von Ethiopian Airlines und zeigte den Leuten dort den Bericht über sich. Ethiopian Airlines schenkte ihr ein Ticket für den Hin- und Rückflug, so dass sie nach Amerika fliegen und ihren Preis persönlich entgegennehmen konnte. Henoks Mutter Tigist versprach, sich während ihrer zweiwöchigen Abwesenheit um die Kinder in beiden Häusern zu kümmern.
An einem Dienstagmorgen Mitte November 2004 versammelten sich die Kinder im Hof des größeren Hauses, um Haregewoin zu verabschieden. Die großen Jungen schrien und johlten und schlugen auf die Motorhaube des Taxis. Aus irgendeinem Grund hatte Nardos gedacht, dass sie mitfahren dürfte, und als die Tür des Taxis zugeschlagen wurde, mit Maye drinnen und ihr draußen, ließ sie sich in der Einfahrt auf den Boden plumpsen, kniff die Augen zu, riss den Mund auf und heulte vor Enttäuschung laut los. Haregewoin ließ auf der ganzen Fahrt zum Flughafen den Kopf hängen, sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie all ihre Kinder zurückließ, sogar Nardos, um vor Fremden aufzutreten. Sie sagte sich, dass es um der Kinder willen geschah, natürlich; sie wollte Geld auftreiben, um besser für sie sorgen zu können. Sie versuchte, ihre Aufregung zu unterdrücken, aber bis jetzt hatte sie Afrika noch nie verlassen.
'Alle meine Kinder'
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