32
Haregewoin hatte von der Epidemiologie von
HIV/Aids in Äthiopien keine Ahnung. Sie wusste nicht, dass die
Krankheit die Soldaten von der Front der Eritrea-Kriege nach Hause
begleitet hatte. Sie wusste nicht, dass Gesundheitsexperten die
Marschrouten der erschöpften Soldaten und ihres Gefolges über den
Kontinent anhand des Auftretens von HIV und Aids nachvollziehen
konnten. Sie wusste nichts von den Trends, die die Experten
ausgemacht hatten.
Die Autoren von Global AIDS: Myths and Facts
aus dem Jahr 2003 fassten die besonderen Gefahren von infektiösen
Krankheiten zu Kriegszeiten zusammen: »Bewaffnete Konflikte rufen
oft Wanderungsbewegungen großer Bevölkerungsteile hervor, zu denen
ebenso Flüchtlingsströme wie Truppenverlegungen gehören. Solche
Wanderungen haben sich als Verbreitungsfaktor von
Infektionskrankheiten erwiesen, auch von Aids. Während eines
Krieges führt die Konzentration von Soldaten, die häufig
herumziehen und von ihren Familien und Partnern getrennt sind,
zusammen mit der großen Armut unter Frauen zu einem die
Prostitution fördernden Klima und zu einem erhöhten Risiko für
HIV-Übertragungen. Die HIV-Infektionsraten unter den afrikanischen
Streitkräften zählen zu den höchsten der Welt, zum Teil übersteigen
sie 50 Prozent.«
Aber Haregewoin las keine Bücher. Sie kannte nur
ein paar arme Seelen in ihrem Viertel.
Da war ein zurückhaltender, traurig dreinblickender
Mann namens Getachew Yohaleshet, den man immer wieder in der Nähe
von Haregewoins Hoftor stehen sah. Er war Anfang fünfzig. Er hatte
einen Sohn und hoffte, dass Haregewoin dem Kleinen zu essen geben
würde. Seufzend bat sie die beiden eines Tages bei strömendem Regen
ins Haus; der Junge, Asresahegne, lief gleich zu den anderen
Kindern, wobei er beim Laufen die schmuddelige Hose mit dem
kaputten Reißverschluss festhielt, die einmal einem Erwachsenen
gehört hatte und die er jetzt Tag für Tag trug.
Schüchtern betrat Getachew das Wohnzimmer. Er
drehte fortwährend seine Mütze in den Händen, verbeugte sich vor
den wenigen anderen Gästen und entblößte seine gelben Zähne zu
einem grimassenhaften Lächeln, dann setzte er sich auf die Kante
eines Stuhls, bereit, bei der geringsten Unmutsbekundung von Seiten
eines der Anwesenden wieder zu verschwinden. Auf ein strenges Wort
von Haregewoin hin wäre Getachew in den matschigen Hof geeilt,
seine zerrissenen Schuhbänder hinter sich herziehend, hätte im
Regen gestanden und mit einem traurigen, ergebenen Lächeln zum Haus
gesehen.
»Wie lautet deine Geschichte, Getachew?«, rief
Zewedu träge durch den stickigen, dämmrigen Raum. Auch Selamneh und
ich waren gekommen, um eine Kaffeepause zu machen. Wir wandten uns
alle der traurigen Gestalt zu und bewiesen Getachew damit bereits
mehr Respekt und Freundlichkeit, als er seit vielen Jahren erfahren
hatte. Das machte ihn so nervös, dass er seine Tasse nicht ruhig
halten konnte und Kaffee auf ein Bein seiner schmutzigen Hose
schüttete.
Er räusperte sich, sah bekümmert auf den großen
nassen Fleck auf seiner Hose und begann zögernd zu sprechen, wobei
er sich immer wieder unsicher fragte, ob er fortfahren sollte.
Getachew war Weber - er hatte die Kunst des Webens von
strapazierfähigen Wollschals, hauchzarten Tüchern, gemusterten
dicken Vorhängen und schlichter Tisch- und Bettwäsche von seinem
Vater und Großvater erlernt. Er war es gewohnt, zehn oder zwölf
Stunden am Tag an seinem selbstgebauten hölzernen Webstuhl zu
sitzen. Seine Produkte wurden auf dem Mercato, dem riesigen Markt
von Addis Abeba, verkauft. Seine Familie wohnte in einem steinernen
Haus, das auf einem blanken Erdhügel stand und von halb verfallenen
Holzhütten umgeben war. Nach dem Tod seines Vaters lebten Getachews
Mutter, seine ältere Schwester, der ältere Bruder und deren
jeweiliger Anhang in diesem Haus. Getachew und seine geliebte Frau
Shibarie und ihre drei Kinder hatten auch dort gewohnt.
»Shibarie und ich sind zusammen aufgewachsen«,
sagte er. »Sie war eine sehr gute Schülerin, und ich hatte die
Schule abgebrochen, aber da ich gelernter Weber war, willigte sie
ein, mich zu heiraten. Das Leben mit meiner Frau war sehr schön.
Sie war mir eine sehr liebe Frau und unseren Kindern eine gute
Mutter.«
Getachew wurde unter der Regierung Mengistu in die
Armee eingezogen, um in dem endlosen, zerstörerischen Grenzkrieg
zwischen Äthiopien und Eritrea zu kämpfen. Äthiopien hatte in den
1960er-Jahren Eritrea annektiert, und damit begann der dreißig
Jahre währende Krieg, den Eritrea um seine Unabhängigkeit führte
und schließlich auch gewann, allerdings unter Bedingungen, über die
sich die beiden Regierungen weiterhin stritten und derentwegen sie
ihre spärlichen Ressourcen in Waffenkäufe steckten und entsetzlich
viele Menschen in den Tod schickten. »Ich kämpfte dreizehn Jahre in
Eritrea«, erzählte Getachew. »Nach dreizehn Jahren wurde ich
gefangen genommen. Drei Jahre lang war ich in Gefangenschaft. Ich
arbeitete in dem Gefängnis als Weber. Sie haben uns nicht genug zu
essen und nicht genug Kleider gegeben. Wir verhungerten
beinahe.
Als die Berliner Mauer fiel, ließen sie uns frei.
Wir waren um die zehntausend und mussten nach Hause laufen. Drei
Monate und zwei Wochen waren wir unterwegs, bis wir den Fluss Mereb
erreichten, die Grenze zu Äthiopien. Als ich endlich zu Hause
ankam, war ich in schlechter Verfassung. Ich kehrte zum Haus meiner
Mutter zurück und erfuhr, dass Shibarie gestorben war und unsere
drei Kinder zurückgelassen hatte. Die Armee hatte ihr mitgeteilt,
ich wäre tot. Sie bekam Witwenrente, bis sie starb. Ich habe sehr
lange getrauert. Sie war mir nicht nur eine Ehefrau, sondern auch
Mutter und Schwester gewesen. Mir ging es damals sehr schlecht. Ich
wusste nicht, wie ich ohne Shibarie leben sollte.«
Mit zitternder Hand stellte er die Tasse zurück auf
das Tablett und bedankte sich bei Sara für den Kaffee. Den Blicken
der anderen Anwesenden ausweichend, sah er vor sich auf den Boden,
als er weitersprach.
»Einige Jahre später heiratete ich eine sehr nette
Frau namens Ayanechew; sie half mir, meine drei Kinder großzuziehen
- und wir bekamen unseren kleinen Sohn.«
Hier wollte er seinen Bericht abbrechen. Nach einem
Moment hob er den Blick und stellte fest, dass Haregewoin,
Selamneh, Zewedu und ich ihn noch immer ansahen. Erwarteten wir ein
Geständnis, war es nötig?
Nervös lächelnd sagte er: »Als ich in Eritrea bei
der Armee war, durften wir nach fünf Jahren einmal ausgehen und uns
ein bisschen amüsieren.
Ich glaube, da ist es passiert.«
Mit gesenktem Kopf wartete er darauf, dass ihn
jemand anbrüllte oder den Stock gegen ihn erhob. Als nichts
passierte, fuhr er fort: »Die Ehe mit meiner zweiten Frau war gut,
aber ich war schwach, fühlte mich krank. Ich ging zum kebele
und bat um ein Schreiben und fünfzig Birr, damit ich in einem
Krankenhaus einen HIV-Test machen lassen konnte. Als ich das
Ergebnis erfuhr, brach ich beinahe zusammen. Als ich nach Hause
zurückkam, sagte ich meiner Frau, sie soll auch einen Test machen
lassen - sie war auch krank. Meine Familie jagte sie aus dem Haus,
weil sie positiv war. Sie ging zurück zu ihrer Familie. Ich folgte
ihr und blieb bei ihr, bis sie vor vier Jahren starb.
Als ich mit meinem Sohn in das Haus meiner Familie
zurückkehrte, wollten sie mich nicht aufnehmen. Sie jagten mich
fort. Meine Mutter glaubt, dass sie durch den Kontakt mit mir krank
wird. Sie tut so, als würde sie mich und meinen Sohn nicht
kennen.
Ich ging zum kebele und erzählte, was
passiert war, und das kebele sagte meiner Mutter, dass sie
mich nicht hinauswerfen darf. Deshalb hat meine Mutter ihrem Diener
aufgetragen, dass er für mich eine Hütte aus Lehm und Stroh hinter
dem Haus bauen soll, und dort wohne ich jetzt mit meinem jüngsten
Sohn. Ich lebe auf dem Grund meiner eigenen Familie wie ein
Obdachloser. Ihnen wäre es am liebsten, wenn ich verschwinden
würde. Sie schämen sich für mich. Ich habe nichts. Meine Mutter
empfindet nichts für mich. ›Du bist schon lange tot‹, hat sie zu
mir gesagt. ›Wir brauchen dich nicht.‹ Wenn wir uns auf der Straße
begegnen, grüßt sie mich manchmal, aber nicht wie eine Mutter.
Meine Schwester und mein Bruder sprechen nicht mit mir. Sie laden
meinen Sohn nicht in ihr Haus ein. Sie sind nicht nett zu ihm. Die
Kinder meiner Schwester und meines Bruders machen sich über meinen
Sohn lustig, dabei ist er ihr Cousin. Wenn ich auf die Latrine der
Familie gehe, dann schickt meine Schwester hinterher den Diener
hinaus, damit er Asche darauf streut.«
Eine Zeitlang nippte jeder schweigend an seinem
Kaffee. Gatechew, der auf einmal Mut fasste, nachdem er
festgestellt hatte, dass er als Einziger für Unterhaltung sorgte,
sagte: »Ich habe Kaiser Haile Selassie kennengelernt.«
Wir sahen ihn alle überrascht an.
»Shibarie und ich feierten eine riesige,
wunderschöne Hochzeit. Ich war so glücklich! Ich hatte einen neuen
Anzug an, und sie trug ein weißes Hochzeitskleid. Es gab eine sehr
feierliche Trauung in der orthodoxen Kirche mit vielen Freunden und
Verwandten. Als wir die Treppe vor der Kirche hinuntergingen, fuhr
gerade der Kaiser in seinem großen Auto mit seinem Gefolge die
Straße entlang. Er liebte Hochzeiten. Er ließ seinen Fahrer
anhalten und stieg aus und winkte uns zu sich. Meine Frau und ich
liefen über die Straße und knieten uns vor ihn. Er trug seine
herrschaftlichen Gewänder.«
Getachew lächelte in der Erinnerung an edlen Samt
und feines Kalbsleder, goldene Epauletten und silberne Orden,
edelsteinbesetzte Ringe und Schnallen. Bei der Erinnerung an Seine
Majestät ging ein Leuchten von Gatechews müdem Gesicht aus. Die
Leibgarde des Herrschers hatte die Menge zurückgehalten und nur
Braut und Bräutigam erlaubt, sich dem Kaiser zu nähern. Selbst die
Palastwachen, die mit ihren glänzenden Waffen in der Hand aus den
Autos sprangen, hatten Getachew wohlwollend zugenickt.
»Er legte uns die Hände auf den Kopf und segnete
uns und versprach uns ein glückliches Leben.« Dann war Gatechews
Geschichte zu Ende, und er verstummte. Nach und nach verschwand das
Leuchten von seinem Gesicht. Noch eine kurze Weile genoss er den
Nachklang der Worte Haile Selassie und der Kaiser und
Shibarie, bevor er sich wieder der trostlosen Wirklichkeit
zuwandte.
Bald würde er mit seinem Sohn wieder zu der Hütte
ohne Gas und Strom aufbrechen, an deren Wänden alte Zeitungen
klebten, um die Kälte abzuhalten; sie würden auf einem Bett liegen,
das aus einem mit Zeitungen gepolsterten Lehmsockel bestand. Aber
diesen einen Schatz besaß er, diese Erinnerung an Rubine und
Smaragde und Seide, die im Sonnenlicht dieses längst vergangenen
Tages der schimmernden riesigen schwarzen Limousine Glanz
verliehen; er war dem Göttlichen nahe gewesen, der Kaiser hatte
seine Hand zu ihm ausgestreckt, der Kaiser hatte ihn
gesegnet.
»Ist Ihr Sohn positiv?«, fragte Zewedu.
Getachew schüttelte den Kopf.
Und alles, was Haregewoin in ihrer Erschöpfung
denken konnte, war, dass Getachews Sohn irgendwann bei ihr landen
würde.