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Haregewoin erhielt einen Anruf vom Krankenhaus,
dass sie die Ergebnisse der Bluttests der Kinder abholen könnte.
Drei Monate waren vergangen, seit sie zu ihr gekommen waren. Als
sie sich in die Schlange einreihte, die sich langsam auf einen
überfüllten Warteraum und einen ebenso überfüllten Innenhof
zubewegte, fand sie sich unversehens unter den wirklich Elenden
dieser Welt wieder.
Zu den archetypischen Erfahrungen eines Afrikaners
in der heutigen Zeit gehört es, in einer Klinik auf das Ergebnis
eines eigenen HIV-Tests oder des Tests seines Kindes zu
warten.
Dieser der Ergebnisse harrende Patient stellt sich
möglicherweise vor, dass die restliche Welt - die Demokratien des
industrialisierten Westens - sich sofort anschickt, ihn zu retten,
sobald sie von der schrecklichen Situation in seinem Land erfährt.
Es kann doch nicht sein, dass Leute Bescheid wissen und nichts
unternehmen.
Einige wenige hegen möglicherweise den Verdacht,
dass die restliche Welt sehr wohl Bescheid weiß, schließlich
herrscht kein Mangel an Experten. Es wurden tatsächlich umfassende
Daten gesammelt und ausgewertet, in Diagramme umgewandelt und
bekannt gemacht.
Stephen Lewis bezeichnet die wortreichen
Erläuterungen von Experten über die Themen globale Gesundheit und
Waisen als Sprechitis: Sie »vertrauen darauf«, schreibt er,
»dass, wenn man lange genug über etwas redet, der Eindruck
entsteht, es würden Fortschritte erzielt... Und ich vermute, es gab
auch einen gewissen Fortschritt auf dem Gebiet der Berichte,
Analysen, Zahlen, Tabellen, Diagramme und mindestens eintausend
PowerPoint-Präsentationen, nicht zu vergessen deren lautstarkes
intellektuelles Wiederkäuen, aber kaum einen Fortschritt, der sich
erkennbar im Leben der verwaisten und schutzbedürftigen Kinder hier
niederschlägt.«
Der seiner Ergebnisse harrende, afrikanische
Patient stellt fest, dass die restliche Welt zwar nicht völlig
gleichgültig ist, aber auch nicht rechtzeitig einschreiten wird, um
sein Leben oder das seines Kindes zu retten.
Auf der ganzen Welt gibt es überaus beliebte
Fernsehshows, die mir wie grotesk verspielte Versionen dieser
zeitgleich stattfindenden finsteren Szenarien vorkommen.
In American Idol und unzähligen Nachahmungen
warten singende Protagonisten auf Urteile, die selbstgefällige
Jurys fällen. »Ja, du bist in der nächsten Runde«, hören sie
beispielsweise; »Bis morgen dann« oder »Nein, du fliegst raus«,
»Amerika hat sein Votum abgegeben«, »Deine Reise endet hier«. Die
Zuschauer geben per Telefon ihre Stimme für ihren jeweiligen
Favoriten ab. In anderen Shows kämpfen Leute auf Inselexpeditionen
ums Überleben, bis sie von ihren ehemaligen Mitstreitern aus der
Show gewählt und von der Insel geworfen werden. Der Mann oder die
Frau, die übrig bleiben, werden dann zum »Überlebenden«
gekrönt.
Solche Sendungen heißen »Reality-Shows«.
In Afrika sitzen sie zu Hunderten, Tausenden und
Millionen, aber jeder für sich, im Wartesaal eines Krankenhauses,
nervös oder gelassen, sie fühlen sich gut, oder ihnen ist übel, sie
husten, oder sie husten nicht. Oder sie kauern auf der blanken Erde
im Hof des Krankenhauses, halten den Kopf in der Hand und sehen nur
gelegentlich auf, um den Kindern zuzurufen, dass sie in der Nähe
bleiben sollen. Jeder wartet darauf, dass sein Name aufgerufen
wird. Im Untersuchungszimmer studiert ein Arzt oder eine
Krankenschwester oder eine Schwesternhelferin ein Blatt Papier und
blickt auf. Die Augen sprechen als Erstes.
Negativ: Du bist in der nächsten Runde. Bis morgen
dann.
Positiv: Amerika hat sein Votum abgegeben. Deine
Reise endet hier.
Es gibt keine Fernsehkameras.
Es gibt keine Fernsehzuschauer, die zu Hause jubeln
oder weinen.
Es gibt keine Fernsehzuschauer, die per Telefon
ihre Stimme abgeben. Die meisten wissen nicht einmal, was hier auf
dem Spiel steht.
»Ich habe gehört, es gibt
Behandlungsmöglichkeiten«, wird eine Frau flüstern.
»Nicht in unserem Land«, wird der Arzt mit einem
traurigen Lächeln erwidern.
»Heißt das, dass ich bald sterbe?«, wird ein Mann
fragen.
»Ja, ich fürchte, das heißt es.«
»Ich dachte, dass ich vielleicht nur eine Erkältung
habe.«
»Nein, leider nicht.«
»Ich habe gehört... na ja, ich bin zwar nicht
gläubig, aber soweit ich gehört habe... gibt es ein geweihtes
Wasser, das wirken soll.«
»Nein, das ist nur ein Ammenmärchen.«
»Habe ich mir schon gedacht. Danke, Doktor.«
Als Haregewoin zum Krankenhaus fuhr, dachte sie
nicht mehr: Warum habe ich mich nur erneut dieser Gefahr
ausgesetzt? und: Wird sich mein Haus wieder in eine Krankenstation
verwandeln? Sie fühlte sich wie betäubt. Langsam bewegte sie sich
mit der Schlange vorwärts, bis sie an die Reihe kam.
Die Krankenschwester nahm das Krankenblatt, las die
Ergebnisse und sah von ihrem Schreibtisch auf.
»Selamawit ist negativ«, sagte sie.
Sorgfältig schloss sie den Aktendeckel, nahm den
nächsten und öffnete ihn.
»Meskerem ist negativ«, sagte sie.
Haregewoin fuhr fort, mit sanfter Hand Ordnung in
Genets und Abels Leben zu bringen. Aber ihr zweites Leben als
Mutter begann erst mit Selamawit und Meskerem.
Wie durch ein Wunder war sie wieder zu einer
gutsituierten Frau mit Kindern geworden.