31
Sie hatte zweiunddreißig Kinder, dann hatte sie
achtunddreißig Kinder, dann zweiundvierzig und dann wusste sie
nicht mehr, wie viele Kinder sie hatte.
Bei einer solchen Zahl musste sie die Kinder unter
denselben Bedingungen großziehen, unter denen sie und ihre
Geschwister und alle anderen Kinder auf den ausgedorrten Hochebenen
großgezogen worden waren: mit harter Arbeit, gelegentlichen
schroffen Worten oder einer Tracht Prügel und nach nichts
schmeckendem Brei, der in großen Töpfen gekocht und in großen
Mengen ausgegeben werden konnte. Die älteren Kinder wurden dazu
verdonnert, auf die jüngeren aufzupassen, wie sie es selbst bei
neunzehn jüngeren Geschwistern gemacht hatte.
»Ich komme deswegen immer zu spät in die Schule!«,
protestierte Tamrat, zehn Jahre alt, ein sportlicher Junge. »Ich
mag mich nicht immer um die Kleinen kümmern müssen. Die können ja
noch nicht einmal selbst essen. Jeden Tag komme ich zu spät in die
Schule.«
»Ich schlafe während des Unterrichts ein«, sagte
Meskerem, mittlerweile neun Jahre alt. »Wegen der Babys wache ich
nachts immer auf. Ich muss auf drei Babys aufpassen, und jede Nacht
wecken sie mich mit ihrem Geschrei auf.«
»Wenn ihr irgendetwas ausgeht, schickt sie mich
noch spät am Abend los zum Einkaufen«, beschwerte sich Tamrat bei
den anderen. »Aber dafür bin ich zu jung. Ich brauche meinen
Schlaf.«
Sie beschwerten sich auch bei Haregewoin, aber die
rannte mit einem Baby auf dem linken Arm und einem Kleinkind mit
nacktem Hintern an der rechten Hand an ihnen vorbei, dann lief sie
in der entgegengesetzten Richtung mit einem Stock in der Hand einem
Jungen hinterher, den sie dabei erwischt hatte, wie er hinter ein
Kinderbettchen im Säuglingszimmer einen Haufen setzte.
Haregewoin hatte Yonas, Meskerems elfjährigen
Bruder, zum stellvertretenden Oberaufseher auf dem Hof ernannt; er
war ein hilfsbereiter Junge, der sich nicht beklagte. Aber die
Kinder, die in der Rangordnung unter Yonas standen, verliehen ihrer
Unzufriedenheit lautstark Ausdruck. Ältere Kinder standen,
ungeduldig mit den Füßen scharrend, an Haregewoins Schwelle, in der
Hoffnung, eintreten zu dürfen und ihre Klagen loszuwerden. Sie
wollten ihren Fall vortragen und mit Haregewoin über einen Erlass
ihrer Pflichten verhandeln.
Aber Haregewoin war gemeinsam mit Zewedu und ihrer
älteren Schwägerin Negede Tehaye Alemayhu zu sehr mit
Strategiebesprechungen und der Frage, wie sie Geld beschaffen
könnte, beschäftigt, um sich mit unzufriedenen Kindern
auseinanderzusetzen. Sie schickte sie mit einem scharfen Wort fort
und wandte sich wieder dem Gespräch am Tisch zu, wo Probleme zu
wälzen waren, von denen sie keine Ahnung hatten:
»Ist es besser, die HIV-positiven Kinder zusammen
in ein Bett zu stecken, oder können sie bei den gesunden Kindern
schlafen?«
»Werden die HIV-positiven Kinder den HIV-negativen
Kindern gefährlich, oder ist es umgekehrt?«
»Sollten das Kind, bei dem Tuberkulose ausgebrochen
ist, und das Kind mit Hepatitis B zusammen schlafen, oder können
sie zusammen mit den gesunden Kindern schlafen?«
»Werden die HIV-positiven Kinder die gesunden
Kinder krank machen, wenn sie von denselben Tellern essen, selbst
wenn wir die Teller mit Seife und heißem Wasser waschen? Werden die
gesunden Kinder krank werden, wenn sie die Latrine nach den
HIV-positiven Kindern benutzen?«
Ohne genauere medizinische Kenntnisse versuchten
sie, mit dem gesunden Menschenverstand Fragen zu beantworten, die
sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand beantworten ließen. Es
war tatsächlich so, dass die HIV-positiven Kinder durch die
gesunden Kinder einer viel größeren Gefährdung ausgesetzt waren als
umgekehrt. Das widersprach jeder intuitiven Einschätzung.
Sie hatten manchmal Wasser, aber nicht immer. Die
meiste Zeit hatten sie Strom und eine funktionierende
Telefonverbindung, aber nicht immer. Die einfachsten
Grundnahrungsmittel waren meistens in ausreichender Menge für alle
Kinder vorhanden, zum Beispiel weißer Reis, aber nicht immer. Die
Kinder waren zusammengepfercht, gesunde und kranke, hustende und
keuchende, manchmal hungrig, manchmal mit einem Schrei aus einem
Alptraum aufschreckend, manchmal die Betten mit Erbrochenem oder
Durchfall beschmutzend. Es hätte mathematischer und medizinischer
Genies bedurft, die mithilfe von Computern und Diagrammen und
Tabellen die ideale Aufteilung der Zimmer und Betten errechneten,
um die Übertragungsrate von Infektionen unter den Kindern zu
verkleinern - statt zu erhöhen.
Es hätte eine ganz neue Art von Expertentum
gebraucht, um die Übertragungsrate von Verzweiflung und Traumata zu
verkleinern.
In der Zwischenzeit brachten Kindern im Schulalter
gute Noten nach Hause und warteten schüchtern auf eine Gelegenheit,
Haregewoin ihre Schulhefte zu zeigen. Sie lief kreuz und quer über
den Hof, rief und klatschte in die Hände, scheuchte sie in die eine
Richtung zum Abendessen und in die andere zum Beten. »Steckt das
weg! Es wird nur schmutzig!«, rief sie, und sie steckten die
Schulhefte weg.
Tariku, zweijähriger Junge. Mutter hat als
Hausmädchen gearbeitet. Ist weggelaufen und hat das Kind
zurückgelassen.
Miret, Mädchen, acht. Addis Abeba. Mutter an
Aids und Tbc erkrankt, Vater gestorben.
Birakadu, zehn Jahre alter Junge, fünfte Klasse,
Mutter und Vater gestorben.
Yimen, Mädchen, ein Jahr alt, ist ins Feuer
gefallen, wurde ins Krankenhaus gebracht und dort
zurückgelassen.
Jeden Abend rief Haregewoin die Kinder zum
Nachtgebet zusammen. Sie setzten sich vor den schmalen Betten in
Reihen auf den Boden und blickten nach vorn zu Haregewoin, die
ihnen gegenüber auf einem Kinderstuhl saß. Dann rief sie
Freiwillige auf, vorzutreten und ihre Lieblingsgebete und -lieder
vorzutragen, einige aus der orthodoxen Kirche, einige aus der
protestantischen Kirche. »Abbatachin-hoy« stimmten sie die
Anrufung Gottes an. Die Kinderstimmen waren glockenhell. Wie schön
manche singen, dachte sie; sie hatten viel in der Kirche
gesungen.
Früher hatte sie sich lächelnd im Takt mitbewegt,
hatte in die Hände geklatscht und mitgesungen, das gemeinsame Beten
war der schönste Moment des Tages gewesen.
In letzter Zeit saß sie nur noch da, teilnahmslos
und ausgelaugt. Ihre Mundwinkel hingen schlaff herunter. Sie war
hungrig und erschöpft. Wenn die Kleinen kamen, weil sie ihr einen
Gutenachtkuss geben wollten, saß sie mit ausdruckslosem Gesicht da;
aber sie ließen sich nicht beirren und gaben ihr dennoch einen Kuss
auf die Wange, bevor sie ins Bett hüpften. Sie blieb noch sitzen,
in der Dunkelheit und der kühlen Nachtluft, selbst wenn die Kinder
um sie herum schon alle in den Betten lagen; sie saß einfach nur
da, mit leerem Kopf und leerem Magen.