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In Äthiopien, das weltweit die zweithöchste Zahl an Aids-Waisen aufweist, verließen mutterlose Kinder die Wohnungen und Hütten in den Städten und die traditionellen Rundhütten (tukuls) auf dem Land; sie durchquerten barfuß oder in Plastiksandalen die breiten Täler, sie wichen in den Städten Autos und Bussen aus und klopften mit ausgestreckter Hand an Wagenfenster. In Lumpen gekleidet, arbeiteten oder bettelten sie, um sich etwas zu essen kaufen zu können; sie waren extrem gefährdet, in die Prostitution gezwungen oder als Hausbedienstete oder Feldarbeiter körperlich oder sexuell missbraucht zu werden. Zwölfjährige Kinder standen plötzlich einem Haushalt vor und waren für jüngere Brüder und Schwestern verantwortlich, einschließlich Säuglinge. Wenn Letztere an Aids oder Unterernährung starben, wurden die älteren Kinder von Schuldgefühlen gequält. Auf der gestampften Erde in Verschlägen und Hütten saßen überall im schönen Äthiopien Kinder mit überkreuzten Beinen beisammen und starben einen leisen Hungertod.
Experten sprechen von »child-headed households«, Haushalten, die von Kindern geführt werden.
Die UNICEF stellte fest, dass die Überlebensstrategie dieser Kinder-Haushalte darin bestand, »weniger zu essen«.79
Eines Nachmittags kam ein Geschwisterpaar in Haregewoins Zimmer gestürmt, das sich gegenseitig die heftigsten Beschuldigungen an den Kopf warf. Beide weinten. Beide hatten glänzende schwarze Augen, pechschwarze Haut und Locken und die muskulösen Beine von Läufern. Der Junge, ungefähr neun Jahre alt, beschuldigte seine Schwester, ihn geschlagen zu haben. Haregewoin setzte sich aufs Bett und ließ sie reden.
»Er kommandiert mich herum!«, rief die Schwester, elf Jahre alt. »Ich bin die Ältere! Er hat mir nichts zu sagen!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
»Sie ist ein Mädchen«, sagte der Junge. »Ein Junge ist der Mann in der Familie. Jetzt bin ich der Mann in der Familie. Der Mann hat das Sagen.«
»Du bist nicht der Mann in der Familie. Du bist ein dummer kleiner Junge«, sagte das Mädchen.
»Du musst tun, was ich sage!«, schrie der Junge.
»Nein!«, fiel sie ihm ins Wort und fing vor Zorn wieder an zu heulen. »Ich bin die Ältere. Ich bin seine ältere Schwester. Er hat mir nichts zu sagen.«
Vor Wut konnten sie sich nicht einmal ansehen. Sie hörten auf zu schreien und blickten Haregewoin an.
»Ihr seid die Einzigen, die von eurer ganzen Familie übrig sind?«, fragte sie.
Sie nickten.
Sie nahm ihre Brille ab, rieb sich die Nasenwurzel, dann blickte sie hoch und sagte: »Ihr müsst respektvoll und freundlich miteinander umgehen. Ihr müsst euch gegenseitig achten. Ja, du bist der Junge, und das ist wichtig, aber sie ist die Ältere. Sie ist jetzt deine Mutter. Du musst tun, was sie sagt. Wenn du größer und stärker bist, dann hilfst du ihr. Sie ist deine Schwester und deine Mutter.«
Die Kinder starrten Haregewoin an, zu verblüfft über diesen Schiedsspruch, um etwas zu sagen. Sie hatten eigentlich erwartet, dass einer von ihnen ausgeschimpft werden oder den Hintern versohlt bekommen würde. Stumm und erstaunt sahen sie sich an. Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Plötzlich warf sich der Junge seiner Schwester zu Füßen, umfasste ihre Sandalen, küsste sie und bat sie um Verzeihung.
»Geht jetzt«, sagte Haregewoin. Die beiden drehten sich um und rannten hinaus, um weiterzuspielen.
 
Streitereien unter Geschwistern, die keiner schlichtete, waren nicht das Schlimmste, was elternlosen Kindern widerfahren konnte.
An einem anderen, von monotonem Nieselregen heimgesuchten Nachmittag während der Regenzeit kam ein Anruf für ein Mädchen namens Kedamawit. Haregewoin hatte an diesem Tag Besuch von zwei älteren Damen in traditionellen weißen Gewändern und Tüchern. Eine von ihnen hatte an einer Kette eine Lesebrille um den Hals hängen. Beide saßen im behaglichen Halbdunkel und tranken Kaffee. Sara, die HIV-positive ehemalige Studentin, der Haregewoin Zuflucht gewährt hatte, nahm den Anruf entgegen und ging dann zur Tür, um Kedamawit zu rufen. Wenn Haregewoin ans Telefon gegangen wäre, hätte sie sich vielleicht selbst um den Anrufer gekümmert.
Ein mageres, ungekämmtes Mädchen in einem zerrissenen T-Shirt und zu kleinen Jeans kam ins Zimmer, ihm folgte seine ängstliche kleine Schwester Meseret. Die Achtjährige nahm den Hörer und fing unmittelbar darauf an, zu zittern und zu schreien und zu weinen; sie schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht und weinte heftig. Kedamawit war außer sich vor Angst, geradezu panisch; ihr Mund war ein riesiges ovales Loch, aus dem klägliche Laute drangen. Die trockenen, verfilzten Haare standen ihr vom Kopf ab, auf ihrer Haut erschienen weiße Flecken, die zu glühen schienen, während sie laut heulte. Sie warf den Hörer auf den Tisch, schlang die Arme um sich und wiegte sich vor und zurück. Meseret, die kleine Schwester, riss verängstigt den Mund auf und fing ebenfalls an zu weinen, wobei nicht klar war, ob sie etwas von dem Telefongespräch mitbekommen hatte oder nur durch die Verzweiflung ihrer großen Schwester verschreckt war. Haregewoin kam ins Zimmer geeilt, packte den Telefonhörer und rief etwas hinein. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie die beiden kleinen Mädchen in die Arme und streichelte sie. Kedamawit kreischte und raufte sich die Haare; Meseret klammerte sich furchtsam und verwirrt an sie und Haregewoin.
Die älteren Frauen sahen sich bekümmert an: Hatten die Kinder gerade vom Tod ihrer Mutter erfahren?
Haregewoin warf ihren Freundinnen einen raschen Blick zu und schüttelte den Kopf. Sie sagte leise etwas zu den beiden Mädchen und schickte sie nach nebenan ins Schlafzimmer, in dem an der Wand entlang geschenkte gebrauchte Kleidung aufgestapelt war. »Geht und sucht euch etwas Neues zum Anziehen aus«, sagte sie, und sie rannten plattfüßig, mit eingezogenen Zehen und unter neuerlichem Schluchzen ins Schlafzimmer und schlugen die Tür hinter sich zu. Sara folgte ihnen, um ihnen zu helfen.
Ihre Mutter war nicht eben erst gestorben. Sie war bereits vor einem halben Jahr gestorben. Es war fast noch schlimmer.
 
Kedamawit und Meseret, sieben und fünf Jahre alt, wohnten allein in einem Haus mit einem Zimmer, das ihre Eltern gemietet hatten. Es lag in einem Hof aus festgestampfter Erde, den es sich mit ähnlichen Häuschen teilte. Es gab eine gemeinschaftliche Kochstelle in der Mitte des Hofes und eine Gemeinschaftslatrine mit Blechwänden und einem Dach aus Ästen. Alte Frauen in langen Röcken passten auf das Feuer auf und machten Schüsseln aus Ton, die sie auf dem Markt verkauften.
Als zuerst der Vater der Kinder an Aids starb und dann die Mutter, wurden ihre Leichen von irgendwelchen Fremden vom kebele abgeholt. Nachbarn und entfernte Verwandte statteten hastige Beileidsbesuche ab; auf dem hölzernen Tisch wurden Teller mit Essen gestellt; jemand schenkte den beiden eine Decke; dann gingen alle wieder. Niemand sagte Kedamawit und Meseret, was sie tun oder wohin sie gehen sollten, also blieben sie allein in dem Haus. Eine Nachbarin brachte ihnen ein Mal am Tag etwas zu essen, ihre einzige Mahlzeit. Auf dem Hof gab ihnen eine alte Frau mit großen Lücken zwischen den schwarzen Zähnen, die sie stets fröhlich grüßte, hin und wieder in einer angeschlagenen Tasse Tee. Sie wurden nicht von der Schule ausgeschlossen, also fassten sie sich jeden Morgen an der Hand und gingen die Gasse hinunter zum Unterricht.
Nach der Schule kamen sie zurück in das leere Haus, aßen das kalte Essen, das die Nachbarin dagelassen hatte, hängten Rock und Pullover ihrer Schuluniform über die beiden hölzernen Stühle im Haus, zogen lange, weite T-Shirts als Nachthemden an und gingen ins Bett. Zum Schutz vor der kalten nächtlichen Gebirgsluft und den unheimlichen Geräuschen schlangen sie die Arme umeinander. Sie weinten um ihre Eltern, aber wenn sie ihren Tränen freien Lauf ließen und »Amaye! Abaye!« wimmerten, fühlten sie sich nur noch schlechter. Deshalb versuchte Kedamawit, sich Meseret gegenüber mehr wie eine Mutter zu verhalten; sie sang ihr die Lieder vor, die früher ihre Mutter gesungen hatte, und strich Meseret über den Kopf, wie es ihre Mutter getan hatte. So ging es ihnen etwas besser. Wenn sie Angst bekamen - vor Einbrechern, vor Hyänen, vor streunenden Hunden -, stand Kedamawit auf, klemmte einen Stuhl unter die Türklinke und sprang schnell wieder ins Bett. Sie versuchten, gleichzeitig einzuschlafen, damit keine von ihnen allein war.
 
Es gab einen Onkel.
Das kebele forderte den Onkel auf, sich um die Kinder zu kümmern. »Nehmen Sie sie zu sich?«, wurde er gefragt.
»Nein, meine Herren, das geht wirklich nicht«, sagte er. »Ich habe eine Frau und selbst Kinder.«
Aids, schwang unausgesprochen mit.
»Dann müssen Sie ihnen Geld geben, um für ihr Wohl zu sorgen.«
Eines Nachts klopfte der Onkel an die Tür des Hauses seines verstorbenen Halbbruders und schlüpfte hinein. »Alles in Ordnung, ich bin es«, rief er munter. Als er die Arme ausbreitete, sprangen die beiden kleinen Mädchen aus dem Bett und liefen zu ihm, um ihn zu umarmen. Er setzte sich und nahm sie auf den Schoß, kitzelte sie unter den Armen, rieb seine raue Wange an ihren Gesichtern; sie waren verlegen - sie kannten ihn nicht besonders gut -, aber sie kicherten und taten so, als freuten sie sich.
»Kennt ihr mich?«, fragte er.
»Onkel«, sagten sie.
»Gut! Braucht ihr irgendetwas?«
Sie zuckten die Schultern. Sie musterten sein Gesicht, suchten nach Ähnlichkeiten mit Abaye. Sie sahen einander an und lächelten aufgeregt.
»Gut, gut«, wiederholte er nach ein paar Minuten. Er stand auf, ließ sie von seinem Schoß rutschen und sah ihnen zu, wie sie wieder ins Bett gingen. Dann zog er einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn auf den Holztisch. Am nächsten Morgen rannte Kedamawit zur Nachbarin und gab ihr das Geld. Die Frau steckte es in ihre Schürzentasche. An diesen Nachmittag lagen neben dem gewohnten, mit einem Tuch bedeckten Teller mit Essen zwei glänzende Äpfel auf dem Tisch. Die runden roten Äpfel ließen den ganzen Raum leuchten. Die Kinder hatten noch nie zuvor einen frischen Apfel gegessen. Sie beschlossen, einen zu essen und den anderen aufzuheben. Abwechselnd knabberten sie an der Schale und drangen dann zu dem saftigen süßen Fleisch vor. Sie aßen ihn ganz auf, ließen nur den Stiel übrig. Dann beschlossen sie, den zweiten Apfel zu essen.
Am nächsten Nachmittag fanden sie zwei Bananen.
Und am übernächsten Nachmittag blaue Trauben auf einem Blechteller.
Der Onkel kam wieder.
Als er dieses Mal kam, war es nach Mitternacht. Alles ringsum schlief. Er klopfte nicht. Als er neben dem Bett seiner Nichten stand, schüttelte er Kedamawit an der Schulter. »Steh auf«, befahl er. Schläfrig kroch sie aus dem Bett. Er setzte sich auf den Stuhl, fasste sie um die Taille und zog sie zu sich. »Zieh dich aus.«
»Warum?«
»Du hast mich gehört. Ich habe gesagt, du sollst dich ausziehen. Komm, ich helf dir, zieh das Hemd aus.«
Verschlafen dachte sie, er hätte ihnen als Geschenk neue Anziehsachen mitgebracht. Sie sollte etwas anprobieren. Sie hob die Arme und ließ sich das große T-Shirt über den Kopf ziehen. Sie erstarrte, als er ihr die Unterhose herunterzog.
 
Am Morgen sah sie, dass er erneut Geld auf den Tisch gelegt hatte.
Zwei Nächte später kam er wieder. Er musste sich mit aller Kraft gegen die Tür werfen, damit der eingeklemmte Stuhl umfiel. Er mühte sich eine ganze Weile unter viel Gepolter damit ab und war wütend, als er schließlich ins Zimmer kam. Dieses Mal fand er Kedamawit hellwach und am ganzen Körper zitternd vor. Er zog den Stuhl neben das Bett. »Steh auf«, sagte er. Sie gab einen wimmernden Laut von sich und gehorchte nicht. »Ich habe gesagt, steh auf, oder ich wecke sie auf. Willst du das? Mir ist es egal.« Sie stand auf.
Als er danach ging und einen Birr (neun Cent) auf den Tisch warf, sagte er: »Das nächste Mal erwarte ich, dass der Stuhl nicht mehr im Weg steht. Lass ihn, wo er hingehört: hier.« Er schob ihn mit einer so heftigen Bewegung unter den Tisch, dass er beinahe umkippte. »Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall«, beschwerte er sich, bevor er das Zimmer verließ. »Mach gefälligst sauber.«
Viele Monate lang kam er an ein, zwei Tagen in der Woche. Einmal kam er Sonntagvormittag und brachte seine beiden kleinen Söhne mit, die Cousins der Mädchen. Er begrüßte mit viel Getue alle Nachbarn, schüttelte Hände, nahm Beileidsbekundungen entgegen. Er hatte einen zugedeckten Teller dabei, Essen, das seine Frau zubereitet hatte, und hielt ihn in die Höhe, damit jeder sehen konnte, was für ein großzügiges Geschenk er mitgebracht hatte.
 
»Warum kommt der Onkel immer so spät in der Nacht?«, wollte Meseret von Kedamawit wissen. An der Art, wie sie fragte, konnte Kedamawit erkennen, dass Meseret nachts aufwachte und alles mitbekam.
»Sag es ihr«, sagte Meseret und meinte damit die Nachbarin. Das war eine gute Idee.
Kedamawit zupfte die Frau am Rock, als sie Wäsche aufhängte. »Mein Onkel zieht mir die Unterhose aus«, sagte sie.
»Was?«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Meseret, als Kedamawit wieder ins Haus gelaufen kam.
»Sie hat die Polizei angerufen, und die haben gesagt, was wir machen sollen«, sagte Kedamawit. »Heute Nacht soll ich alles anziehen, was wir haben, wenn wir ins Bett gehen. Und wenn der Onkel kommt, soll ich nach der Nachbarin rufen, und dann kommt sie und bringt alle ihre Freundinnen mit.«
Dahinter steckte die Überlegung, dass der Onkel bei einer zusätzlichen Schicht Kleidung länger brauchen würde, um das Kind auszuziehen, so dass es Zeit hatte, zu schreien und die Nachbarn zu alarmieren.
Sie zog Meserets Schuluniform unter ihre eigene und darüber das lange braune Kleid und das Baumwolltuch ihrer Mutter. Die beiden Mädchen mussten lachen, als eine dicke Kedamawit durch das Zimmer watschelte. Im Bett schmiegte Meseret sich mit geschlossenen Augen an sie, sog den Geruch des Kleides ein und dachte an ihre Mutter.
In dieser Nacht kam der Onkel nicht, und auch nicht in den folgenden Nächten. Die Nachbarin schaute jeden Abend vorbei und sagte: »Du rufst nach mir, wenn du mich brauchst, ja? Alle sind bereit.«
Kedamawit begann zu glauben, dass es vorbei war, dass die Kleidung ihren Onkel irgendwie fernhielt. Aber dann kam er. Sie schlief tief und fest und wachte erschrocken auf, als er sie gegen die Schulter stieß.
»Steh auf«, sagte er. »He, was sollen die vielen Kleider?«
»Mir war kalt«, sagte sie.
»Zieh dich aus.«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie hatte zu viel Angst, um zu schreien.
»Beeil dich«, sagte er.
Sie versuchte, Meseret zu schubsen, als sie aufstand, damit sie aufwachte und an ihrer Stelle schreien konnte, aber Meseret wachte nicht auf.
Kedamawits begann mit zitternden Händen an ihren Knöpfen herumzufummeln und spürte den gierigen Blick ihres Onkel auf sich ruhen. Er stieß sie auf den Boden und machte sich selbst daran, sie auszuziehen. Als sie hinfiel, machte sie einen tiefen, verzweifelten Atemzug, schloss die Augen und schrie. Es war ein gewaltiger, lauter Schrei - sie hatte nicht gewusst, dass sie zu einem solchen Schrei fähig war. Meseret richtete sich sofort im Bett auf und begann ebenfalls zu schreien.
Die Nachbarinnen kamen barfuß über den Hof gelaufen, stürzten durch die Tür, hoben ihre Laternen in die Höhe und sahen den großen Mann rittlings auf dem Kind, das am Boden lag, sitzen.
»Was machen Sie da?«, brüllten sie.
»Sie sollten sich in Grund und Boden schämen!«, schrie eine.
»Sie sollten denken: ›Wenn mich jetzt meine Mutter sehen könnte!‹«, schrie eine andere.
»Ich habe nur geschaut, ob die Kinder schlafen«, stammelte der Onkel und versuchte, seinen Kopf vor ihren Hieben zu schützen. Er rannte aus dem Zimmer und zog im Laufen seine Hose hoch, während die Frauen ihre Handys hervorholten und die Polizei riefen. Meseret begann zu weinen. Kedamawit weinte nicht, sondern verfolgte erstaunt das Geschehen.
Die Nachbarin von nebenan nahm die Mädchen in dieser Nacht mit zu sich nach Hause, und am nächsten Morgen ging sie mit ihnen zur Polizei. Die Polizei rief bei Haregewoin an. »Können Sie die Kinder bitte aufnehmen?« Und sie tat es.
 
Der Onkel war aufs Land geflohen, wo er sich lange versteckt hielt. Er erfuhr, dass die Mädchen von ihren Eltern ein Stück Land auf dem Dorf geerbt hatten. Er wollte dieses Stück Land für sich, aber dazu brauchte er die Unterschriften der Mädchen.
»Er ist zurück nach Addis gekommen und tut alles, um die Kinder in die Hand zu bekommen«, erzählte Haregewoin ihren Freundinnen. »Er braucht ihre Unterschriften, damit er ihr Land verkaufen kann. Vergangene Woche ist er sogar hier aufgetaucht.
Als er das erste Mal kam, hatten wir keine Ahnung, wer er ist, aber als wir uns zu den Kindern umdrehten, waren sie weggerannt, um sich zu verstecken. Da wussten wir, dass er der Onkel ist.«
Als er das nächste Mal kam, ließ Haregewoin ihn nicht herein.
»Warum sind Sie gekommen?«, rief sie durch die Tür.
»Um die Kinder zu besuchen.«
»Sie haben die Kinder nicht hergebracht; das war die Polizei.«
»Sie sind meine Kinder. Das kebele hat gesagt, ich soll sie mit zu mir nach Hause nehmen.«
»Sie werden gesucht. Ich rufe jetzt die Polizei.«
Der Mann flüchtete und versteckte sich wieder auf dem Land.
Der Anruf, der die Kinder an diesem Nachmittag so verstört hatte, war von ihrer ehemaligen Nachbarin gekommen.
Die Nachbarin hatte den Onkel um das Haus herumschleichen sehen, deshalb hatte sie Kedamawit angerufen, um sie zu warnen und ihr zu sagen, dass der Onkel wieder in der Stadt war.
Die Kinder kamen in sauberen Sachen und mit trockenen Gesichtern aus Haregewoins Zimmer. Hin und wieder entfuhr ihnen noch ein Schluchzer, und sie hielten sich an den Händen, als sie wieder zum Spielen nach draußen gingen.
»Was willst du jetzt unternehmen?«, fragten die Damen ernst.
»Oh, ich habe schon etwas unternommen«, sagte Haregewoin. »Ich habe der Polizei gesagt, wo er ist. Sie sollten ihn besser festnehmen. Dieser Onkel ist ein sehr böser Mann. Ich werde ihn auf keinen Fall in die Nähe der Kinder lassen. Ich suche ihnen ein neues Zuhause, und dann findet er sie nicht mehr. Ich suche neue Eltern für sie, die dafür sorgen, dass die Kinder ihr Geld bekommen. Der Onkel kann mir keine Angst machen.«
 
Ich begann mich zu fragen, was bei mir zu Hause geschehen würde, wenn es in unserem hübschen Viertel keine Erwachsenen mehr gäbe, die auf die Kinder aufpassen und sie beschützen.
Wenn eine Seuche Mütter, Väter, Schuldirektoren und Schülerlotsen, Kinderärzte und Trainer, Lehrer und Pfarrer, Chorleiter und die Vertreter von Kinderschutzorganisationen dahinraffen würde, wären die Kinder in Nordamerika, Europa und Australien dann sicherer als ihre schutzlosen Altersgenossen in Afrika und Asien? Würden unsere Kinder weiterhin ihre Hausaufgaben machen und zur rechten Zeit ins Bett gehen, Sport treiben und ein Instrument spielen lernen, religiöse Feiertage einhalten, vorsichtig fahren, ihre Ausbildung mit Auszeichnung abschließen, auf Colleges und Universitäten gehen, einen Beruf ergreifen, den richtigen Partner wählen und Kinder großziehen, wenn sie das alles allein machen müssten?
Jemand hat mir einmal von einem Fernsehspot im Rahmen einer Aufklärungskampagne über Aids in Afrika erzählt. Ich konnte ihn mir genau vorstellen, wenn ich ihn auch nie gesehen habe: Ein blonder amerikanischer Junge in Bluejeans, T-Shirt und Turnschuhen fährt auf seinem Fahrrad den Bürgersteig entlang, biegt in die Einfahrt zu seinem Haus ein, lässt sein Fahrrad ins Gras fallen und springt die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie führt in ein sauberes und behagliches Haus mit Bildern an den Wänden, bunten Kissen auf den Sofas, Schirmen in einem Messingständer - alles ist still. »Mom«, ruft er. »Mom, bist du zu Hause? Dad? Hallo, ist irgendjemand da?« Er geht durch alle Räume; die Arbeitsflächen in der Küche sind blitzblank, auf dem Tisch im Esszimmer steht eine Vase mit Blumen, auf dem Klavier liegt aufgeschlagen ein Notenheft. Aber es ist niemand zu Hause. Der Spot wird ausgeblendet, während der Junge die Treppe hinaufgeht und erneut ruft: »Ich bin wieder da! Wo steckt ihr denn alle?«
Und eine tiefe Stimme aus dem Off sagt: »Das ist zwölf Millionen afrikanischen Kindern widerfahren. Was würden Sie tun, wenn das in Ihrem Viertel passieren würde?«
Aber ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine solche Aufklärungskampagne gegeben hat oder ob ich mir das nur eingebildet habe.
'Alle meine Kinder'
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