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In Äthiopien, das weltweit die zweithöchste Zahl
an Aids-Waisen aufweist, verließen mutterlose Kinder die Wohnungen
und Hütten in den Städten und die traditionellen Rundhütten
(tukuls) auf dem Land; sie durchquerten barfuß oder in
Plastiksandalen die breiten Täler, sie wichen in den Städten Autos
und Bussen aus und klopften mit ausgestreckter Hand an
Wagenfenster. In Lumpen gekleidet, arbeiteten oder bettelten sie,
um sich etwas zu essen kaufen zu können; sie waren extrem
gefährdet, in die Prostitution gezwungen oder als Hausbedienstete
oder Feldarbeiter körperlich oder sexuell missbraucht zu werden.
Zwölfjährige Kinder standen plötzlich einem Haushalt vor und waren
für jüngere Brüder und Schwestern verantwortlich, einschließlich
Säuglinge. Wenn Letztere an Aids oder Unterernährung starben,
wurden die älteren Kinder von Schuldgefühlen gequält. Auf der
gestampften Erde in Verschlägen und Hütten saßen überall im schönen
Äthiopien Kinder mit überkreuzten Beinen beisammen und starben
einen leisen Hungertod.
Experten sprechen von »child-headed households«,
Haushalten, die von Kindern geführt werden.
Die UNICEF stellte fest, dass die
Überlebensstrategie dieser Kinder-Haushalte darin bestand, »weniger
zu essen«.79
Eines Nachmittags kam ein Geschwisterpaar in
Haregewoins Zimmer gestürmt, das sich gegenseitig die heftigsten
Beschuldigungen an den Kopf warf. Beide weinten. Beide hatten
glänzende schwarze Augen, pechschwarze Haut und Locken und die
muskulösen Beine von Läufern. Der Junge, ungefähr neun Jahre alt,
beschuldigte seine Schwester, ihn geschlagen zu haben. Haregewoin
setzte sich aufs Bett und ließ sie reden.
»Er kommandiert mich herum!«, rief die Schwester,
elf Jahre alt. »Ich bin die Ältere! Er hat mir nichts zu sagen!«
Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
»Sie ist ein Mädchen«, sagte der Junge. »Ein Junge
ist der Mann in der Familie. Jetzt bin ich der Mann in der Familie.
Der Mann hat das Sagen.«
»Du bist nicht der Mann in der Familie. Du bist ein
dummer kleiner Junge«, sagte das Mädchen.
»Du musst tun, was ich sage!«, schrie der
Junge.
»Nein!«, fiel sie ihm ins Wort und fing vor Zorn
wieder an zu heulen. »Ich bin die Ältere. Ich bin seine ältere
Schwester. Er hat mir nichts zu sagen.«
Vor Wut konnten sie sich nicht einmal ansehen. Sie
hörten auf zu schreien und blickten Haregewoin an.
»Ihr seid die Einzigen, die von eurer ganzen
Familie übrig sind?«, fragte sie.
Sie nickten.
Sie nahm ihre Brille ab, rieb sich die Nasenwurzel,
dann blickte sie hoch und sagte: »Ihr müsst respektvoll und
freundlich miteinander umgehen. Ihr müsst euch gegenseitig achten.
Ja, du bist der Junge, und das ist wichtig, aber sie ist die
Ältere. Sie ist jetzt deine Mutter. Du musst tun, was sie sagt.
Wenn du größer und stärker bist, dann hilfst du ihr. Sie ist deine
Schwester und deine Mutter.«
Die Kinder starrten Haregewoin an, zu verblüfft
über diesen Schiedsspruch, um etwas zu sagen. Sie hatten eigentlich
erwartet, dass einer von ihnen ausgeschimpft werden oder den
Hintern versohlt bekommen würde. Stumm und erstaunt sahen sie sich
an. Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte.
Plötzlich warf sich der Junge seiner Schwester zu Füßen, umfasste
ihre Sandalen, küsste sie und bat sie um Verzeihung.
»Geht jetzt«, sagte Haregewoin. Die beiden drehten
sich um und rannten hinaus, um weiterzuspielen.
Streitereien unter Geschwistern, die keiner
schlichtete, waren nicht das Schlimmste, was elternlosen Kindern
widerfahren konnte.
An einem anderen, von monotonem Nieselregen
heimgesuchten Nachmittag während der Regenzeit kam ein Anruf für
ein Mädchen namens Kedamawit. Haregewoin hatte an diesem Tag Besuch
von zwei älteren Damen in traditionellen weißen Gewändern und
Tüchern. Eine von ihnen hatte an einer Kette eine Lesebrille um den
Hals hängen. Beide saßen im behaglichen Halbdunkel und tranken
Kaffee. Sara, die HIV-positive ehemalige Studentin, der Haregewoin
Zuflucht gewährt hatte, nahm den Anruf entgegen und ging dann zur
Tür, um Kedamawit zu rufen. Wenn Haregewoin ans Telefon gegangen
wäre, hätte sie sich vielleicht selbst um den Anrufer
gekümmert.
Ein mageres, ungekämmtes Mädchen in einem
zerrissenen T-Shirt und zu kleinen Jeans kam ins Zimmer, ihm folgte
seine ängstliche kleine Schwester Meseret. Die Achtjährige nahm den
Hörer und fing unmittelbar darauf an, zu zittern und zu schreien
und zu weinen; sie schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht und
weinte heftig. Kedamawit war außer sich vor Angst, geradezu
panisch; ihr Mund war ein riesiges ovales Loch, aus dem klägliche
Laute drangen. Die trockenen, verfilzten Haare standen ihr vom Kopf
ab, auf ihrer Haut erschienen weiße Flecken, die zu glühen
schienen, während sie laut heulte. Sie warf den Hörer auf den
Tisch, schlang die Arme um sich und wiegte sich vor und zurück.
Meseret, die kleine Schwester, riss verängstigt den Mund auf und
fing ebenfalls an zu weinen, wobei nicht klar war, ob sie etwas von
dem Telefongespräch mitbekommen hatte oder nur durch die
Verzweiflung ihrer großen Schwester verschreckt war. Haregewoin kam
ins Zimmer geeilt, packte den Telefonhörer und rief etwas hinein.
Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie die beiden kleinen Mädchen in
die Arme und streichelte sie. Kedamawit kreischte und raufte sich
die Haare; Meseret klammerte sich furchtsam und verwirrt an sie und
Haregewoin.
Die älteren Frauen sahen sich bekümmert an: Hatten
die Kinder gerade vom Tod ihrer Mutter erfahren?
Haregewoin warf ihren Freundinnen einen raschen
Blick zu und schüttelte den Kopf. Sie sagte leise etwas zu den
beiden Mädchen und schickte sie nach nebenan ins Schlafzimmer, in
dem an der Wand entlang geschenkte gebrauchte Kleidung aufgestapelt
war. »Geht und sucht euch etwas Neues zum Anziehen aus«, sagte sie,
und sie rannten plattfüßig, mit eingezogenen Zehen und unter
neuerlichem Schluchzen ins Schlafzimmer und schlugen die Tür hinter
sich zu. Sara folgte ihnen, um ihnen zu helfen.
Ihre Mutter war nicht eben erst gestorben. Sie war
bereits vor einem halben Jahr gestorben. Es war fast noch
schlimmer.
Kedamawit und Meseret, sieben und fünf Jahre alt,
wohnten allein in einem Haus mit einem Zimmer, das ihre Eltern
gemietet hatten. Es lag in einem Hof aus festgestampfter Erde, den
es sich mit ähnlichen Häuschen teilte. Es gab eine
gemeinschaftliche Kochstelle in der Mitte des Hofes und eine
Gemeinschaftslatrine mit Blechwänden und einem Dach aus Ästen. Alte
Frauen in langen Röcken passten auf das Feuer auf und machten
Schüsseln aus Ton, die sie auf dem Markt verkauften.
Als zuerst der Vater der Kinder an Aids starb und
dann die Mutter, wurden ihre Leichen von irgendwelchen Fremden vom
kebele abgeholt. Nachbarn und entfernte Verwandte statteten
hastige Beileidsbesuche ab; auf dem hölzernen Tisch wurden Teller
mit Essen gestellt; jemand schenkte den beiden eine Decke; dann
gingen alle wieder. Niemand sagte Kedamawit und Meseret, was sie
tun oder wohin sie gehen sollten, also blieben sie allein in dem
Haus. Eine Nachbarin brachte ihnen ein Mal am Tag etwas zu essen,
ihre einzige Mahlzeit. Auf dem Hof gab ihnen eine alte Frau mit
großen Lücken zwischen den schwarzen Zähnen, die sie stets fröhlich
grüßte, hin und wieder in einer angeschlagenen Tasse Tee. Sie
wurden nicht von der Schule ausgeschlossen, also fassten sie sich
jeden Morgen an der Hand und gingen die Gasse hinunter zum
Unterricht.
Nach der Schule kamen sie zurück in das leere Haus,
aßen das kalte Essen, das die Nachbarin dagelassen hatte, hängten
Rock und Pullover ihrer Schuluniform über die beiden hölzernen
Stühle im Haus, zogen lange, weite T-Shirts als Nachthemden an und
gingen ins Bett. Zum Schutz vor der kalten nächtlichen Gebirgsluft
und den unheimlichen Geräuschen schlangen sie die Arme umeinander.
Sie weinten um ihre Eltern, aber wenn sie ihren Tränen freien Lauf
ließen und »Amaye! Abaye!« wimmerten, fühlten sie sich nur
noch schlechter. Deshalb versuchte Kedamawit, sich Meseret
gegenüber mehr wie eine Mutter zu verhalten; sie sang ihr die
Lieder vor, die früher ihre Mutter gesungen hatte, und strich
Meseret über den Kopf, wie es ihre Mutter getan hatte. So ging es
ihnen etwas besser. Wenn sie Angst bekamen - vor Einbrechern, vor
Hyänen, vor streunenden Hunden -, stand Kedamawit auf, klemmte
einen Stuhl unter die Türklinke und sprang schnell wieder ins Bett.
Sie versuchten, gleichzeitig einzuschlafen, damit keine von ihnen
allein war.
Es gab einen Onkel.
Das kebele forderte den Onkel auf, sich um
die Kinder zu kümmern. »Nehmen Sie sie zu sich?«, wurde er
gefragt.
»Nein, meine Herren, das geht wirklich nicht«,
sagte er. »Ich habe eine Frau und selbst Kinder.«
Aids, schwang unausgesprochen mit.
»Dann müssen Sie ihnen Geld geben, um für ihr Wohl
zu sorgen.«
Eines Nachts klopfte der Onkel an die Tür des
Hauses seines verstorbenen Halbbruders und schlüpfte hinein. »Alles
in Ordnung, ich bin es«, rief er munter. Als er die Arme
ausbreitete, sprangen die beiden kleinen Mädchen aus dem Bett und
liefen zu ihm, um ihn zu umarmen. Er setzte sich und nahm sie auf
den Schoß, kitzelte sie unter den Armen, rieb seine raue Wange an
ihren Gesichtern; sie waren verlegen - sie kannten ihn nicht
besonders gut -, aber sie kicherten und taten so, als freuten sie
sich.
»Kennt ihr mich?«, fragte er.
»Onkel«, sagten sie.
»Gut! Braucht ihr irgendetwas?«
Sie zuckten die Schultern. Sie musterten sein
Gesicht, suchten nach Ähnlichkeiten mit Abaye. Sie sahen
einander an und lächelten aufgeregt.
»Gut, gut«, wiederholte er nach ein paar Minuten.
Er stand auf, ließ sie von seinem Schoß rutschen und sah ihnen zu,
wie sie wieder ins Bett gingen. Dann zog er einen Geldschein aus
der Tasche und legte ihn auf den Holztisch. Am nächsten Morgen
rannte Kedamawit zur Nachbarin und gab ihr das Geld. Die Frau
steckte es in ihre Schürzentasche. An diesen Nachmittag lagen neben
dem gewohnten, mit einem Tuch bedeckten Teller mit Essen zwei
glänzende Äpfel auf dem Tisch. Die runden roten Äpfel ließen den
ganzen Raum leuchten. Die Kinder hatten noch nie zuvor einen
frischen Apfel gegessen. Sie beschlossen, einen zu essen und den
anderen aufzuheben. Abwechselnd knabberten sie an der Schale und
drangen dann zu dem saftigen süßen Fleisch vor. Sie aßen ihn ganz
auf, ließen nur den Stiel übrig. Dann beschlossen sie, den zweiten
Apfel zu essen.
Am nächsten Nachmittag fanden sie zwei
Bananen.
Und am übernächsten Nachmittag blaue Trauben auf
einem Blechteller.
Der Onkel kam wieder.
Als er dieses Mal kam, war es nach Mitternacht.
Alles ringsum schlief. Er klopfte nicht. Als er neben dem Bett
seiner Nichten stand, schüttelte er Kedamawit an der Schulter.
»Steh auf«, befahl er. Schläfrig kroch sie aus dem Bett. Er setzte
sich auf den Stuhl, fasste sie um die Taille und zog sie zu sich.
»Zieh dich aus.«
»Warum?«
»Du hast mich gehört. Ich habe gesagt, du sollst
dich ausziehen. Komm, ich helf dir, zieh das Hemd aus.«
Verschlafen dachte sie, er hätte ihnen als Geschenk
neue Anziehsachen mitgebracht. Sie sollte etwas anprobieren. Sie
hob die Arme und ließ sich das große T-Shirt über den Kopf ziehen.
Sie erstarrte, als er ihr die Unterhose herunterzog.
Am Morgen sah sie, dass er erneut Geld auf den
Tisch gelegt hatte.
Zwei Nächte später kam er wieder. Er musste sich
mit aller Kraft gegen die Tür werfen, damit der eingeklemmte Stuhl
umfiel. Er mühte sich eine ganze Weile unter viel Gepolter damit ab
und war wütend, als er schließlich ins Zimmer kam. Dieses Mal fand
er Kedamawit hellwach und am ganzen Körper zitternd vor. Er zog den
Stuhl neben das Bett. »Steh auf«, sagte er. Sie gab einen
wimmernden Laut von sich und gehorchte nicht. »Ich habe gesagt,
steh auf, oder ich wecke sie auf. Willst du das? Mir ist es
egal.« Sie stand auf.
Als er danach ging und einen Birr (neun Cent) auf
den Tisch warf, sagte er: »Das nächste Mal erwarte ich, dass der
Stuhl nicht mehr im Weg steht. Lass ihn, wo er hingehört: hier.« Er
schob ihn mit einer so heftigen Bewegung unter den Tisch, dass er
beinahe umkippte. »Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall«,
beschwerte er sich, bevor er das Zimmer verließ. »Mach gefälligst
sauber.«
Viele Monate lang kam er an ein, zwei Tagen in der
Woche. Einmal kam er Sonntagvormittag und brachte seine beiden
kleinen Söhne mit, die Cousins der Mädchen. Er begrüßte mit viel
Getue alle Nachbarn, schüttelte Hände, nahm Beileidsbekundungen
entgegen. Er hatte einen zugedeckten Teller dabei, Essen, das seine
Frau zubereitet hatte, und hielt ihn in die Höhe, damit jeder sehen
konnte, was für ein großzügiges Geschenk er mitgebracht
hatte.
»Warum kommt der Onkel immer so spät in der
Nacht?«, wollte Meseret von Kedamawit wissen. An der Art, wie sie
fragte, konnte Kedamawit erkennen, dass Meseret nachts aufwachte
und alles mitbekam.
»Sag es ihr«, sagte Meseret und meinte damit die
Nachbarin. Das war eine gute Idee.
Kedamawit zupfte die Frau am Rock, als sie Wäsche
aufhängte. »Mein Onkel zieht mir die Unterhose aus«, sagte
sie.
»Was?«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Meseret, als
Kedamawit wieder ins Haus gelaufen kam.
»Sie hat die Polizei angerufen, und die haben
gesagt, was wir machen sollen«, sagte Kedamawit. »Heute Nacht soll
ich alles anziehen, was wir haben, wenn wir ins Bett gehen. Und
wenn der Onkel kommt, soll ich nach der Nachbarin rufen, und dann
kommt sie und bringt alle ihre Freundinnen mit.«
Dahinter steckte die Überlegung, dass der Onkel bei
einer zusätzlichen Schicht Kleidung länger brauchen würde, um das
Kind auszuziehen, so dass es Zeit hatte, zu schreien und die
Nachbarn zu alarmieren.
Sie zog Meserets Schuluniform unter ihre eigene und
darüber das lange braune Kleid und das Baumwolltuch ihrer Mutter.
Die beiden Mädchen mussten lachen, als eine dicke Kedamawit durch
das Zimmer watschelte. Im Bett schmiegte Meseret sich mit
geschlossenen Augen an sie, sog den Geruch des Kleides ein und
dachte an ihre Mutter.
In dieser Nacht kam der Onkel nicht, und auch nicht
in den folgenden Nächten. Die Nachbarin schaute jeden Abend vorbei
und sagte: »Du rufst nach mir, wenn du mich brauchst, ja? Alle sind
bereit.«
Kedamawit begann zu glauben, dass es vorbei war,
dass die Kleidung ihren Onkel irgendwie fernhielt. Aber dann kam
er. Sie schlief tief und fest und wachte erschrocken auf, als er
sie gegen die Schulter stieß.
»Steh auf«, sagte er. »He, was sollen die vielen
Kleider?«
»Mir war kalt«, sagte sie.
»Zieh dich aus.«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie hatte zu viel
Angst, um zu schreien.
»Beeil dich«, sagte er.
Sie versuchte, Meseret zu schubsen, als sie
aufstand, damit sie aufwachte und an ihrer Stelle schreien konnte,
aber Meseret wachte nicht auf.
Kedamawits begann mit zitternden Händen an ihren
Knöpfen herumzufummeln und spürte den gierigen Blick ihres Onkel
auf sich ruhen. Er stieß sie auf den Boden und machte sich selbst
daran, sie auszuziehen. Als sie hinfiel, machte sie einen tiefen,
verzweifelten Atemzug, schloss die Augen und schrie. Es war ein
gewaltiger, lauter Schrei - sie hatte nicht gewusst, dass sie zu
einem solchen Schrei fähig war. Meseret richtete sich sofort im
Bett auf und begann ebenfalls zu schreien.
Die Nachbarinnen kamen barfuß über den Hof
gelaufen, stürzten durch die Tür, hoben ihre Laternen in die Höhe
und sahen den großen Mann rittlings auf dem Kind, das am Boden lag,
sitzen.
»Was machen Sie da?«, brüllten sie.
»Sie sollten sich in Grund und Boden schämen!«,
schrie eine.
»Sie sollten denken: ›Wenn mich jetzt meine Mutter
sehen könnte!‹«, schrie eine andere.
»Ich habe nur geschaut, ob die Kinder schlafen«,
stammelte der Onkel und versuchte, seinen Kopf vor ihren Hieben zu
schützen. Er rannte aus dem Zimmer und zog im Laufen seine Hose
hoch, während die Frauen ihre Handys hervorholten und die Polizei
riefen. Meseret begann zu weinen. Kedamawit weinte nicht, sondern
verfolgte erstaunt das Geschehen.
Die Nachbarin von nebenan nahm die Mädchen in
dieser Nacht mit zu sich nach Hause, und am nächsten Morgen ging
sie mit ihnen zur Polizei. Die Polizei rief bei Haregewoin an.
»Können Sie die Kinder bitte aufnehmen?« Und sie tat es.
Der Onkel war aufs Land geflohen, wo er sich lange
versteckt hielt. Er erfuhr, dass die Mädchen von ihren Eltern ein
Stück Land auf dem Dorf geerbt hatten. Er wollte dieses Stück Land
für sich, aber dazu brauchte er die Unterschriften der
Mädchen.
»Er ist zurück nach Addis gekommen und tut alles,
um die Kinder in die Hand zu bekommen«, erzählte Haregewoin ihren
Freundinnen. »Er braucht ihre Unterschriften, damit er ihr Land
verkaufen kann. Vergangene Woche ist er sogar hier
aufgetaucht.
Als er das erste Mal kam, hatten wir keine Ahnung,
wer er ist, aber als wir uns zu den Kindern umdrehten, waren sie
weggerannt, um sich zu verstecken. Da wussten wir, dass er der
Onkel ist.«
Als er das nächste Mal kam, ließ Haregewoin ihn
nicht herein.
»Warum sind Sie gekommen?«, rief sie durch die
Tür.
»Um die Kinder zu besuchen.«
»Sie haben die Kinder nicht hergebracht; das war
die Polizei.«
»Sie sind meine Kinder. Das kebele hat
gesagt, ich soll sie mit zu mir nach Hause nehmen.«
»Sie werden gesucht. Ich rufe jetzt die
Polizei.«
Der Mann flüchtete und versteckte sich wieder auf
dem Land.
Der Anruf, der die Kinder an diesem Nachmittag so
verstört hatte, war von ihrer ehemaligen Nachbarin gekommen.
Die Nachbarin hatte den Onkel um das Haus
herumschleichen sehen, deshalb hatte sie Kedamawit angerufen, um
sie zu warnen und ihr zu sagen, dass der Onkel wieder in der Stadt
war.
Die Kinder kamen in sauberen Sachen und mit
trockenen Gesichtern aus Haregewoins Zimmer. Hin und wieder entfuhr
ihnen noch ein Schluchzer, und sie hielten sich an den Händen, als
sie wieder zum Spielen nach draußen gingen.
»Was willst du jetzt unternehmen?«, fragten die
Damen ernst.
»Oh, ich habe schon etwas unternommen«, sagte
Haregewoin. »Ich habe der Polizei gesagt, wo er ist. Sie sollten
ihn besser festnehmen. Dieser Onkel ist ein sehr böser Mann. Ich
werde ihn auf keinen Fall in die Nähe der Kinder lassen. Ich suche
ihnen ein neues Zuhause, und dann findet er sie nicht mehr. Ich
suche neue Eltern für sie, die dafür sorgen, dass die Kinder ihr
Geld bekommen. Der Onkel kann mir keine Angst machen.«
Ich begann mich zu fragen, was bei mir zu Hause
geschehen würde, wenn es in unserem hübschen Viertel keine
Erwachsenen mehr gäbe, die auf die Kinder aufpassen und sie
beschützen.
Wenn eine Seuche Mütter, Väter, Schuldirektoren und
Schülerlotsen, Kinderärzte und Trainer, Lehrer und Pfarrer,
Chorleiter und die Vertreter von Kinderschutzorganisationen
dahinraffen würde, wären die Kinder in Nordamerika, Europa und
Australien dann sicherer als ihre schutzlosen Altersgenossen in
Afrika und Asien? Würden unsere Kinder weiterhin ihre Hausaufgaben
machen und zur rechten Zeit ins Bett gehen, Sport treiben und ein
Instrument spielen lernen, religiöse Feiertage einhalten,
vorsichtig fahren, ihre Ausbildung mit Auszeichnung abschließen,
auf Colleges und Universitäten gehen, einen Beruf ergreifen, den
richtigen Partner wählen und Kinder großziehen, wenn sie das alles
allein machen müssten?
Jemand hat mir einmal von einem Fernsehspot im
Rahmen einer Aufklärungskampagne über Aids in Afrika erzählt. Ich
konnte ihn mir genau vorstellen, wenn ich ihn auch nie gesehen
habe: Ein blonder amerikanischer Junge in Bluejeans, T-Shirt und
Turnschuhen fährt auf seinem Fahrrad den Bürgersteig entlang, biegt
in die Einfahrt zu seinem Haus ein, lässt sein Fahrrad ins Gras
fallen und springt die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie führt in
ein sauberes und behagliches Haus mit Bildern an den Wänden, bunten
Kissen auf den Sofas, Schirmen in einem Messingständer - alles ist
still. »Mom«, ruft er. »Mom, bist du zu Hause? Dad? Hallo, ist
irgendjemand da?« Er geht durch alle Räume; die Arbeitsflächen in
der Küche sind blitzblank, auf dem Tisch im Esszimmer steht eine
Vase mit Blumen, auf dem Klavier liegt aufgeschlagen ein Notenheft.
Aber es ist niemand zu Hause. Der Spot wird ausgeblendet, während
der Junge die Treppe hinaufgeht und erneut ruft: »Ich bin wieder
da! Wo steckt ihr denn alle?«
Und eine tiefe Stimme aus dem Off sagt: »Das ist
zwölf Millionen afrikanischen Kindern widerfahren. Was würden Sie
tun, wenn das in Ihrem Viertel passieren würde?«
Aber ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine solche
Aufklärungskampagne gegeben hat oder ob ich mir das nur eingebildet
habe.