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Haregewoin machte sich auf die Suche nach einer
Organisation, die sich auf die Betreuung von HIV-positiven Kindern
spezialisiert hatte.
Wenn sie Medikamente hätte, sähe alles ganz anders
aus! Sie würde mit Freuden alle bei sich behalten, alle, die krank
waren, und versuchen, sie zu heilen und großzuziehen.
Aber ohne Medikamente war ihr Haus nicht mehr als
eine Sterbestation.
Für ihre Freunde war sie eine außergewöhnliche
Frau, aber sie hatten ja auch nicht gesehen, wie Angst und Übelkeit
sie erfasst hatten, als sie feststellen musste, dass in der Nacht
ein Baby allein gestorben war, dass sie eine Ersatzmutter für
todkranke Kinder war.
Ende 2000 waren nach Angaben von UNAIDS seit
Ausbruch der Epidemie 4,3 Millionen Kinder an Aids gestorben und
1,4 Millionen Kinder lebten mit Aids, fast alle in Afrika.
In ganz Äthiopien gab es nur zwei Waisenhäuser für
HIV-positive Kinder, die sich beide in Addis Abeba befanden, erfuhr
Haregewoin. Das größere der beiden, das der
Mutter-Teresa-Schwestern, war überfüllt; aber es gab noch ein
kleineres ganz in der Nähe, das von einem Ehepaar geführt wurde.
Sie fuhr hin, um die Leute kennenzulernen und zu sehen, wie die
Kinder behandelt wurden, denn insgeheim hatte sie vor, zu fragen,
ob sie ihre kranken Kinder zu ihnen bringen dürfe.
Im Enat-Haus für HIV-positive Kinder (Enat heißt
Mutter; später wurde es in AHOPE for Children umbenannt) drang von
dem einfachen Spielplatz, der von einem Eukalyptus-Baum beschattet
wurde, lautes Lachen und Geschrei herüber, die Kinder spielten
Himmel und Hölle und Fußball und flochten sich gegenseitig die
Haare. Da war der vertraute säuerliche Geruch von injera,
das in der Küche neben dem Haus zubereitet wurde. Manchen Kindern
begannen jedoch die Haare auszugehen, andere waren beängstigend
dünn, wieder andere hatten entzündete Stellen im Gesicht. Hier
fanden sich die jüngsten Opfer der Kollision eines Kontinents mit
HIV/Aids ein: Sie hatten ihre Väter und Mütter und Brüder und
Schwestern verloren, und jetzt waren sie selbst erkrankt, und alle,
bis auf die Kleinsten, wussten, was das bedeutete.
Im Jahr 2001 besuchte ich das Enat-Haus zum ersten
Mal. Eine junge Betreuerin in einem Schwesternkittel und mit einem
Baumwolltuch um den Kopf rief die Kinder im Esszimmer zusammen. Die
Kinder - von denen das älteste vielleicht sieben oder acht Jahre
alt war - rannten zu ihren Plätzen an den Tischen in dem sonnigen,
frisch gefegten Raum. Das Wasser in einer Glasvase mit einem Strauß
Blumen warf Reflexe auf die Tischplatte. Die Kinder, die allesamt
vom Land kamen, hatten noch nie Scheren gesehen und streckten der
Lehrerin eifrig die Hände entgegen, als sie die knallbunten
Plastikscheren verteilte. Ja, es waren genug für alle da, die
Christ Lutheran Church of Forest Hill im amerikanischen
Pennsylvania hatte genug Scheren mit den anderen Spenden
mitgeschickt. Die Kinder produzierten eine wahre Lawine an
Papierschnipseln, als sie den Anweisungen der Lehrerin folgend
versuchten, Schneeflocken auszuschneiden (Schnee hatten sie auch
noch nie gesehen).
Die kräftige kleine Ester war mit ihrem heiseren,
tiefen Lachen und der dröhnenden Stimme eine Miniaturausgabe von
Ethel Merman oder Ella Fitzgerald. Beim Schneiden stahl sich ihre
Zunge aus einem Mundwinkel hervor. Die Kinder hielten ihre
windschiefen Ergebnisse in die Luft und quietschten vor
Überraschung laut auf. Die Lehrerin lobte sie und befestigte die
Schneeflocken an der unverputzten Wand, die einzige
Schneelandschaft, deren sich diese Stadt wohl je erfreuen
wird.
Später besuchte ich die Musikstunde, in der die
Kinder sich unter der Anleitung eines Gitarre spielenden jungen
Mannes in den Hüften wiegten und im Hof herumhüpften. Ester sang
dazu und wackelte dabei mit ihrem kleinen dicken Hintern. Eyob war
ein hübscher Junge mit hoffnungsvoller, fragender Miene. Die weite
braune Hose, in die er sein Polohemd gesteckt hatte, wurde in der
Taille mit einem Gürtel zusammengehalten. Er bewegte sich mit der
lässigen Sicherheit eines afroamerikanischen Stepptänzers aus den
zwanziger Jahren und schwang die Arme im Takt der Musik. Er hatte
den Dreh raus, zögerte jedes Klatschen und Aufstampfen bis zum
letzten Moment hinaus, ohne je aus dem Takt zu kommen; er erfand
den Swing noch einmal neu.
Aber Eyob und Ester konnten nicht in die Schule
gehen. Wegen seines Gesundheitszustandes konnte keines der
HIV-positiven Kinder in die Schule gehen, und so unterrichtete das
Personal dieses ärmlichen Waisenhauses - Gizaw und seine Frau,
Tsedie, und die Betreuerinnen - die Kinder selbst.
Tsedie, eine würdevolle Frau mit scharf
geschnittenen Gesichtszügen und einem bitteren Lächeln, sagte: »Wir
wollen, dass die Kinder das Leben genießen, dass sie etwas vom
Leben haben.«
»Wir haben Aids, deswegen gehen wir nicht in die
Schule«, sagten Kinder, die zu jung waren, um zu verstehen, was das
bedeutete.
Es war nicht leicht, Leute zu finden, die in
diesem Waisenhaus arbeiten wollten, erzählten Gizaw und Tsedie
Haregewoin bei ihrem Besuch. Die Kinder waren doppelt
stigmatisiert: Ihre Eltern waren an HIV/Aids gestorben, und
darüberhinaus waren sie selbst infiziert.
»Die Leute gehen mir aus dem Weg und meiner Frau
und unseren Betreuerinnen auch«, sagte Gizaw, ein abgearbeiteter,
hochgebildeter Mann in den Fünfzigern. »Sie sind überzeugt, dass
wir auch positiv sind, nur weil wir uns um diese Kinder kümmern.
Ich war kürzlich in einem Amt, und die Leute haben mit dem Finger
auf mich gezeigt. Vor zwei Jahren hatte ich ein Gallenblasenproblem
und ziemlich viel abgenommen. Da haben alle gesagt: ›Seht ihr! Das
musste ja so kommen.‹«
Wenn ich fertig mit der Schule bin, möchte ich
Mathematiklehrerin werden, schrieb ihre beste und älteste
Schülerin, ein Mädchen namens Amelezewd. Sie hatte ein schmales,
kluges Gesicht und ein ironisches Lächeln, hinter dem sich lange
Schneidezähne verbargen. Zwei jüngere Brüder von ihr lebten
ebenfalls im Waisenhaus und ein älterer draußen in der Stadt.
In unserem Land gibt es nicht viele Pilotinnen,
also werde ich vielleicht auch Pilotin, schrieb sie. Ich
will schnell lernen, und ich will groß werden. Später einmal will
ich im Haus meiner Familie wohnen. Ich will für meinen älteren
Bruder eine Villa bauen und am Tor Blumen pflanzen, damit es hübsch
aussieht. Ich will Kindern helfen, die wie ich keine Familie mehr
haben. Ich werde ihnen sagen, dass ich bin wie sie und ihnen
genauso helfen, wie Mami und Babi (Tsedie und Gizaw) mir
helfen. Am allerliebsten lese ich Geschichtsbücher. Dann bin ich
richtig glücklich.
Aber Eyob verlor büschelweise Haare. Genau wie
Ester. Und es gab keine älteren Kinder im Haus, keine, die höhere
Klassen besuchten, keine Jugendlichen. Nein, erklärte man
Haregewoin, sie waren nicht auf einem Ausflug, und, nein, sie
lebten nicht in einem anderen Haus. Ihre Abwesenheit warf einen
grauenvollen Schatten auf das bunte Treiben der noch lebenden
jüngeren Kinder. Das Fehlen von älteren Kindern war wie eine
arktische Kaltfront, die im warmen Wind eines Spätherbsttages
unheilvoll näher rückte.
Bei 90 Prozent der HIV-infizierten Kinder wird das
Virus vor oder während der Geburt oder beim Stillen übertragen.
Eine unbekannte Zahl wurde durch verunreinigte Nadeln und
Transfusionen von nicht getestetem Blut infiziert und ein geringer
Prozentsatz durch sexuellen Missbrauch durch HIV-infizierte
Erwachsene.
Ungefähr ein Viertel der Kinder, die von
HIV-positiven Müttern auf die Welt gebracht wurden, infizierten
sich.
In Nordamerika und Europa hat man festgestellt,
dass eine Dreifachkombinationstherapie ab der 28.
Schwangerschaftswoche die Übertragungsrate von HIV auf das Kind um
98 Prozent reduzieren und auch die Mutter retten kann. Mithilfe von
öffentlichen Gesundheitskampagnen, Beratung, Mutterschaftsvorsorge
und Therapien mit antiretroviralen Medikamenten für HIV-infizierte
Schwangere konnte in den USA die Übertragungsrate auf das Kind auf
unter zwei Prozent gesenkt werden. 2002 betrug die Zahl von
pädiatrischem Aids in den USA 92 Fälle.
2003 waren es 59.
Aber weniger als zehn Prozent der HIV-positiven
Schwangeren in Afrika hatte Zugang zu diesen Medikamenten.
2003 betrug daher in Äthiopien die Zahl neuer
pädiatrischer Aids-Fälle ungefähr 60 000.
Und die wenigen Frauen in Afrika, die Medikamente
zum Schutz vor einer Mutter-Kind-Übertragung (PMTCT) erhielten,
wurden nach der Geburt nicht weiterbehandelt. Mütter, die an
PMTCT-Programmen teilnahmen, brachten mit größerer
Wahrscheinlichkeit nicht infizierte Kinder zur Welt, aber ebenfalls
mit größerer Wahrscheinlich erkrankten und starben sie nach der
Geburt, wenn die medikamentöse Behandlung abgebrochen wurde.
HIV/Aids bei Kindern nimmt normalerweise einen von
zwei Verläufen. 80 Prozent der im Säuglingsalter infizierten Kinder
sterben vor Erreichen des dritten Lebensjahres. Solche Kinder
werden vielleicht niemals krabbeln, gehen oder sprechen
können.
Von den übrigen 20 Prozent erleben einige ihren
achten Geburtstag und eine winzige Minderheit feiert ihren elften
Geburtstag und stirbt erst dann.
Gizaw wusste das. Er wusste auch, dass die hübsche
Amelezewd, die ihn Babi (Großvater) nannte und glücklich
war, wenn sie Geschichtsbücher lesen durfte, schon zehn Jahre alt
war.
Gizaw sah mit seinen geröteten Augen und
abgespannten Zügen so aus, als wäre er die ganze Nacht auf den
Beinen gewesen; er hatte schon für Dutzende von jungen Leben den
Kampf gegen Aids angetreten, und jedes einzelne dieser Kinder war
ihm aus den Armen gerissen worden. »Gerade erst hat uns wieder
einer der kleinen Prinzen unseres Landes verlassen«, erzählte er
Haregewoin von einem Achtjährigen, der zwei Nächte zuvor gestorben
war. Der erste Hinweis, dass sich der Gesundheitszustand eines
Kindes rapide verschlechterte, war für ihn, wenn es plötzlich nicht
mehr bei den Spielen oder Übungen mitmachen wollte, die ihm zuvor
Spaß bereitet hatten. Wenn ein Kind teilnahmslos am Rand saß, keine
Lust mehr zum Zöpfchenflechten oder Völkerballspielen hatte und der
Musiklehrerin aus dem Weg ging, war das ein schlechtes Zeichen. Die
meisten Kinder hatten mit angesehen, wie ein oder beide Elternteile
gestorben waren, und viele hatten auch schon Geschwister verloren.
Wenn sie dann an sich selbst Symptome entdeckten - Kandidose in der
Mundhöhle und im Rachen, das plötzliche Auftreten von Molluscum
contagiosum um die Augen und die Lippen und/oder Diarrhö -, ahnten
selbst die Fünfjährigen, welches Schicksal ihrer harrte. Es
bedeutete, dass sie bald in das rückwärtige Schlafzimmer kamen,
dessen Tür stets geschlossen war. Dann würden alle ihre Besucher
außer Gizaw - der sie noch immer umarmen und küssen und ihre Hand
halten und mit ihnen singen würde - einen Gesichtsschutz und
Gummihandschuhe tragen.
»Am Anfang verliert das Kind Gewicht«, sagte Gizaw,
der früher in der Verwaltung von Unternehmen und für die Regierung
gearbeitet hatte, also kein Mediziner war, aber dessen Erfahrung
mit dem Aufbau von NGOs ihn dazu veranlasst hatte, dieses
Waisenhaus zu eröffnen. »Das Kind bekommt Infektionen im Mund- und
Rachenraum, und das Schlucken fällt ihm schwer. Es hört auf zu
essen, leidet unter Diarrhö, Gelenkschmerzen, Ohrenschmerzen. Das
kann fünf Monate, drei Monate, zwei Monate dauern. Das Kind bekommt
Lungenentzündung, es hat die ersten Anfälle. Es spricht nicht
darüber, aber es ist niedergeschlagen. Eines Tages will es nicht
mehr auf dem Spielplatz spielen, dann will es nur noch dasitzen und
gehalten werden.« Entzündungen im Gesicht, im Mund, Gürtelrose,
Hautausschlag am ganzen Körper, geschwollene Drüsen - all das
entstellt das Kind und verursacht ihm Schmerzen, wenn sich sein
Leben dem Ende nähert.
»Wir haben keine Antiretrovirale. Wir wissen, dass
im Westen die Kinder behandelt werden. Es fehlt unserem Staat an
harter Währung, um Antiretrovirale kaufen zu können. Wir können die
Lungenentzündung und die kleinen Infektionen bei den Kindern
bekämpfen, aber das ist auch schon alles. Wir betreiben hier ein
Sterbehospiz.« Er hielt inne und starrte auf den Boden. »Es ist
schlimm, die Kinder sterben zu sehen.«
HIV-positive und aidsinfizierte Waisenkinder
hatten sich höflich aufgereiht, um Haregewoin zu begrüßen. In den
schönen und sorgsam ausgewählten Namen der Kinder lebte die Liebe
ihrer Eltern weiter. Als jedes leise seinen Namen nannte, sah
Haregewoin die Mütter und Väter vor sich, selbst die Ärmsten der
Armen, wie sie ihre Köpfe über ein Neugeborenes beugten und
überlegten, welchen besonderen, außergewöhnlichen Namen sie dem
Kind geben konnten. Die meisten nichtbiblischen äthiopischen Namen
haben eine konkrete Bedeutung; und die Namen dieser HIV-positiven
Waisen schienen ganz besonders treffend zu sein.
Sie lernte Tidenek (Du bist wundervoll)
kennen und Bizunesh (Aus dir wird etwas werden) und
Asegdom (Vor dem die anderen niederknien).
Sie schüttelte Mekonnen (Die Würdenträgerin)
die Hand und Zerabruk (Von heiliger Herkunft). Makeda
(Die Schöne) war der Name der Königin von Saba gewesen, und auch
einen kleinen Salomon gab es.
Tadelech bedeutete »Sie ist glücklich« und
Zenash »berühmt«. Messaye hieß so viel wie »Du
ähnelst mir« - die Freude einer Mutter oder eines Vaters war bei
diesem Namen unübersehbar. In Etagegnehus reizendem »Ich
habe eine Schwester!« war ein Augenblick des Glücks festgehalten,
das Strahlen eines älteren Geschwisters über den
Familienzuwachs.
Metekies weit verbreiteter Name dagegen
sprach von der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, da seine
bittersüße Bedeutung »Ersatzkind« war.
Tenagne hieß »Meine Gesundheit«, eine
berührende, hoffnungsvolle Wahl in Anbetracht dessen, was folgte
(Tenagne war inzwischen ein HIV-positives Waisenkind).
Allefnews Name war fast noch berührender:
»Wir haben die schlimmsten Zeiten hinter uns.«
In einem rauflustigen kleinen Jungen sahen seine
Eltern einen zukünftigen erfolgreichen Geschäftsmann: sein Name
lautete Million.
In Zeiten der Pandemie bekam sein Name eine völlig
andere Bedeutung.
Haregewoin fragte Gizaw, ob sie ihre HIV-positiven
Kinder zu ihnen bringen dürfte.
»Es tut mir sehr leid, Waizero Haregewoin,
aber wir haben keinen Platz für weitere Kinder, wie Sie sehen
können«, erwiderte Gizaw höflich.
Auf jedes Kind in diesem Haus kamen 60 andere, die
auf den Straßen des Viertels lebten und starben. Ein oder zwei Mal
in der Woche trat Gizaw mit einem neuen Kind in den Armen durch das
Tor des kleinen Waisenhauses.
Als sie wieder auf den Spielplatz durften, liefen
zwei kleine Mädchen zu Gizaw, um ihm ein neues Kunststück beim
Seilspringen vorzuführen. Ein paar Jungen kickten mit ihrem Fußball
(zusammengeknüllte und mit einer Schnur umwickelte Plastiktüten)
vor seinen Füßen herum, um ihn zum Mitspielen zu verführen. Er
machte ein paar Täuschungsmanöver mit dem Ball und brachte die
Jungen damit zum Lachen.
Als Gizaw mit den Schlüsseln für seinen Transporter
klapperte und sagte, dass er zwei Helfer brauchen könnte, die ihn
auf einer Besorgungsfahrt in die Stadt begleiteten, schossen viele
Hände in die Höhe, und die Kinder sprangen auf und ab und
kreischten, dass sie mitkommen wollten. Die Gesichter unter den
hüpfenden Zöpfen der kleinen Mädchen und den Kappen der kleinen
Jungen waren glücklich und voller Hoffnung.