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An einem ansonsten völlig normalen Vormittag traf
überraschend Hilfe ein. Eine Frau aus Malta rief Haregewoin an,
stellte sich vor und fragte, ob sie sie besuchen dürfte. »Sie
können gerne kommen«, erwiderte Haregewoin freundlich, und so
besuchte sie eine muntere Frau mit gebräuntem Teint und kurz
geschnittenen ergrauenden Haaren, langem Rock und Wanderschuhen,
setzte sich und trank Kaffee. Ihr Gesicht legte sich in tausend
Fältchen, wenn sie den Kindern zulächelte und ihnen freundliche
Worte in einer ihnen fremden Sprache sagte. Ihre langen Fingernägel
waren gebogen und farblos. Sie holte aus ihrer Rocktasche ein paar
Bonbons und drückte sie den Kindern in die Hand. Dann ließ sie das
Schloss ihrer abgewetzten Aktentasche aufschnappen und erklärte,
was sie wollte. Sie leitete eine Adoptionsagentur in Malta, sagte
sie, und es gäbe eine Reihe von Paaren, die gerne ein Baby aus
Äthiopien adoptieren würden. Ob Haregewoin Waisenbabys hierhabe?
Wäre sie bereit, sie im Ausland unterzubringen? »Wir müssten
natürlich Tests machen lassen«, sagte die Frau. »Die Familien
wollen nur HIV-negative Kinder.«
»Was müssen wir tun?«, fragte Haregewoin. »Sie
nehmen sich doch nicht einfach ein Baby und gehen...«
»Ich arbeite mit einem Waisenhaus des maltesischen
Franziskanerordens zusammen«, sagte die Frau. »Die Schwestern dort
haben die Erlaubnis Ihrer Regierung, Kinder für internationale
Adoptionen freizugeben. Wenn Sie mir eines Ihres Babys anvertrauen,
können wir es zu den Schwestern bringen. Wir brauchen nur die
Bestätigung, dass es tatsächlich Waise ist.«
Die beiden Frauen gingen in Haregewoins Zimmer und
betrachteten die Babys, die auf Haregewoins Bettdecke mit weit von
sich gestreckten Armen und Beinen in der Sonne lagen und ein
Vormittagsschläfchen hielten. Die Kinder bewegten sich im Schlaf
und schoben das Gewicht ihrer nassen, dicken Windeln von einer
Seite zur anderen. »Wie süß sie sind!«, flüsterte die Frau und zog
aus ihrer Aktentasche eine Kopie ihrer von der äthiopischen
Regierung ausgestellten Lizenz und ein kleines Fotoalbum mit
Bildern von glücklichen Adoptivfamilien.
Das sind ja großartige Neuigkeiten, dachte
Haregewoin und fragte: »Die Familien behandeln sie wie eigene
Kinder?«
»Aber meine Liebe! Natürlich behandeln sie sie so,
als wären es ihre eigenen Kinder!«
»Sie lassen sie nicht für sich arbeiten?«
»Madame Haregewoin, sie geben den Kindern ihren
Namen. Sie adoptieren sie vor einem Gericht. Es sind ihre Kinder.
Es sind Paare dabei, die keine eigenen Kinder bekommen können. Sie
leiden unter ›Infertilität‹.«
»Ja, ich weiß. Auch hier gibt es solche Leute. Aber
warum adoptieren sie keine Kinder aus ihrem Land?«
»Bei uns gibt es zu wenige Kinder! Fragen Sie mich
nicht, warum. Die Frauen lassen sich Zeit mit dem Heiraten, sie
haben ihren Beruf, dann warten sie, bis sie fünfunddreißig oder
vierzig sind, um eine Familie zu gründen, und dann ist es eben
manchmal zu spät.«
»Hierzulande sind die Frauen mit vierzig
Großmutter«, sagte Haregewoin.
»Bei uns herrscht Kindermangel. In ganz Europa
sinken die Geburtenraten. Schulen schließen ihre Pforten. Wegen der
Verhütungsmittel und Abtreibungen werden auch nicht mehr so viele
uneheliche Kinder geboren, und wenn, dann behalten viele junge
Frauen ihre illegitimen Kinder. Früher bekam ich solche Kinder zur
Adoption, aber heutzutage ist das keine Schande mehr.«
Haregewoin, die sich im Osten eines Kontinents
befand, der von Kindern überquoll, fand die Vorstellung eines vor
allem von Erwachsenen besiedelten Landes befremdlich. Sie stellte
sich imposante Straßen, blitzende Läden, akkurat geschnittene
Hecken und biedere Fußgänger in Mantel und Hut vor. Und leere
Schulhöfe und Parks. Warum sollten Frauen in einem öden Land, die
sich nach Kindern sehnten, ihre Arme nicht nach einem heißen,
südlichen Kontinent ausstrecken, der einen Überschuss an Kindern
hatte?
Äthiopien wiederum gingen langsam infolge von
Armut, Dürre, Hungersnöten, Tuberkulose, Malaria, HIV/Aids,
Autokratie, Grenzstreitigkeiten und Krieg die Erwachsenen
aus.
Ihr erschienen beide Seiten der Gleichung
gleichermaßen traurig: ein kinderloses europäisches Paar, das sich
nach einem Baby, selbst einem äthiopischen Baby, sehnt; und ein
äthiopisches Baby, das willig seine Arme nach Erwachsenen, selbst
Weißen, ausstreckt, Amaye?, Abaye? denkt, begierig darauf,
sich von Eltern prägen zu lassen wie ein Entenküken, das dem ersten
Objekt, das sich bewegt, folgt.
»Ja, bitte, es wäre mir eine Ehre. Bitte.«
Haregewoin deutete auf die Babys.
Es war, als würde jemand eine Blume aus einem
duftenden Garten mit Begonien, Gardenien, Rittersporn, Flieder
pflücken. Die agile kleine Frau aus Malta beugte sich vor, tauchte
ein in das Sonnenlicht über den Lockenköpfchen. Summend wie eine
Honigbiene näherte sie sich den Kindern. Es war wie in einem
Märchen, gleich würden Zufall und Glück eine dieser unglücklichen
Waisen treffen. Sie streckte die Arme nach einem fünfzehn Monate
alten Mädchen aus, dessen Gesicht vom Schlaf gerötet war. Es war
Menah. Haregewoin machte einen Satz nach vorn, packte das Kind,
legte es sich über die Schulter und bedeutete der Frau, sich die
anderen noch einmal genauer anzusehen. Gerade noch!, dachte
sie, und spürte das angstvolle Klopfen ihres Herzens, das noch
andauerte, nachdem sie das Mädchen an sich gerissen hatte.
»Wer ist denn dieser kleiner Teddybär?«, fragte die
Frau und rollte einen kleinen Jungen sanft auf den Rücken.
»Er heißt Abel.«
»Wie alt?«
»Fünf, sechs Monate. Ich hole seine Akte.«
Die Frau nahm das Baby hoch, spielte mit seinen
zarten Fingerchen, drehte es hin und her, fühlte, ob es nicht zu
mager war. Abel wachte auf, blinzelte und wand sich, um ihrem Griff
zu entkommen. Sein Hintern hinterließ einen feuchten Fleck auf
ihrer Bluse.
»Darf ich ihn nehmen?«
»Sie müssen für ihn eine sehr gute Familie finden,
er ist ein sehr lieber Junge.«
»Die beste, das verspreche ich Ihnen«, sagte die
kleine Frau, legte den Jungen zurück und beugte sich vor, um ihn
auf die Stirn zu küssen. Seine runden Frotteefüßchen schwebten über
seinem Bauch in der Luft. Die Frau streckte ihre Hand mit den
spitzen Fingernägeln aus und drückte beruhigend Haregewoins Arm.
Abel drehte sich auf den Bauch und begab sich auf die Flucht,
robbte über seine Bettgenossen hinweg, und die beiden Frauen
lachten.
Die komplizierte, schuldbehaftete Geschichte des
Reichtums der nördlichen Halbkugel und der Verzweiflung der
südlichen reduzierte sich plötzlich auf einen sonnigen Vormittag am
Horn von Afrika, ein heißes, unaufgeräumtes Zimmer und zwei kleine,
ergrauende Witwen (ein wenig leidend, ein wenig zu alt, ein wenig
zu verwirrt für diese Sache), verantwortlich für ein ganzes Bett
voller mutterloser Babys.
Die Frau aus Malta mit dem graumelierten
Jungenhaarschnitt legte Abel in ein Nest aus Decken auf den
Rücksitz ihres Autos. Am gleichen Abend rief sie an und sagte, dass
das Baby bei den Franziskanerinnen sei; sie würden sich um ihn
kümmern und alles Nötige wegen seiner Papiere in die Wege leiten.
Sie selbst wollte bald heim nach Malta fliegen und hoffte, in den
zwei Monaten, bis sie wiederkam, eine Familie für Abel gefunden zu
haben.
Haregewoin erfuhr, dass Adoptionsagenturen aus
mindestens einem Dutzend Ländern Büros in Addis Abeba unterhielten.
Einige hatten auch eigene Waisenhäuser und Kinderheime
eingerichtet. Sie stellten Einheimische als Hausmütter und Anwälte
an. Als die Mitarbeiter dieser Agenturen hörten, dass Haregewoin
gesunde, elternlose Kinder bei sich beherbergte, kamen immer mehr
von ihnen zu ihr, auf der Suche nach Kleinkindern für Paare in
Spanien, Kanada, Italien, den Niederlanden, Schweden, Norwegen,
Neuseeland, Australien, Deutschland und den Vereinigten
Staaten.
Alle, die im internationalen Adoptionsgeschäft nach
ethischen Maßstäben handeln, versuchen zunächst, ein Waisenkind bei
Verwandten, Freunden oder anderen Familien in seinem Heimatland
unterzubringen; keiner denkt oder gibt vor, Adoption sei die Lösung
für eine ganze Generation von Kindern, die durch eine Krankheit zu
Waisen geworden sind. Es ist eine äußerst begrenzte und bescheidene
Möglichkeit, wenn Familien aus Industrieländern einzelnen Kindern
einen Rettungsring zuwerfen, während ihre Regierungen nicht in der
Lage sind, genügend Mittel oder Medikamente zur Verfügung zu
stellen, um die Epidemie zurückzudrängen.
Gesunde Babys - besonders kleine Mädchen!, alle
wollen kleine Mädchen - wurden so schnell zu Haregewoin gebracht
und wieder weggeholt, dass die älteren Kinder sich nicht einmal
mehr an sie gewöhnen konnten. Haregewoin reichte den Angestellten
von Adoptionsagenturen frisch gewickelte, frisch gebadete,
lockenköpfige schlafende Babys; nach reichlich Händeschütteln,
Küssen und Freundschaftsbekundungen fuhren sie mit den Kindern
davon. Ältere Babys und Kleinkinder traten manchmal um sich und
brüllten, streckten angstvoll ihre Ärmchen nach Haregewoin aus;
aber sie beruhigte sie mit zärtlichen Worten, in der Gewissheit,
dass es zu ihrem Besten geschah.
Die älteren Kinder glaubten, dass auf die Babys
dort draußen jenseits des Hoftors eine Welt voller Wunder wartete.
Sollten sie sich zu Fuß dorthin aufmachen? Nein. Das war eine
schlechte Idee, das wussten sie. Denn wenn sich ein älteres Kind
allein auf den Weg machte, konnte das in Obdachlosigkeit, Hunger
und Prostitution enden. Aber den Hof in Begleitung zu verlassen, in
einem Taxi oder einem Auto und in Gesellschaft einer äthiopischen
oder ausländischen Geschäftsfrau, ja! Jedes Kind wünschte sich
einen solch pompösen und beeindruckenden Abschied.
Die älteren Kinder sahen den Kleinen nach. Zwar
wusste keines von ihnen, was für ein rechtlicher und bürokratischer
Aufwand für eine internationale Adoption betrieben werden musste,
aber alle hatten begriffen, welche tiefere Wahrheit dem Ganzen
zugrunde lag: dort draußen gab es Mütter, selbst Väter. Henok hatte
recht damit, nach einer neuen Mutter Ausschau zu halten.
Wenn die Taxis oder anderen Wagen zum Abschied
fröhlich hupten und die Fahrer winkten, trat Haregewoin zu den
zurückgebliebenen älteren Kindern. Sie legte ihnen die Arme um die
Schultern und versuchte, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie
sie liebte, dass sie ihre Mutter war. Aber sie war nicht ihre
Mutter; dafür waren es inzwischen zu viele. Manche senkten den
Blick und schüttelten ihren Arm ab, duckten sich weg und verzogen
sich in die Schlafräume. Der Hof machte für den Rest des Tages, an
dem ein glückliches Baby davongefahren war, einen verlassenen, öden
Eindruck.
Baby Hewan wurde zu Eve, und Hirute zu Ruth, Yoel
wurde zu Joel und Mickias zu Mickey.
Und Bekele würde vielleicht zu Joshua werden und
Dinkenesh zu Emily und Zelalem zu Paul und Temesgen zu
Alexander.
Ihr Körper wusste, was sie tun würde, bevor es in
ihr Bewusstsein drang. Haregewoin lag nachts mit Menah im Arm da,
küsste sie auf die Wangen und die geschlossenen Augenlider und
spürte erneut, wie ihr Herz vor Angst und Abschiedsschmerz zu
klopfen begann. Sie versuchte, den Schmerz zu unterdrücken. Du
bist eine alte Frau, sagte sie sich, auch wenn sie sich nicht
so fühlte. Du wirst nicht lange genug leben, um sie großziehen
zu können. Sie gehörte nie wirklich dir. Sie gehörte dir nur eine
Zeitlang.
Sie spürte, dass es nicht gerade ihr edelster
Instinkt war, der sie dazu brachte, sich an Menah zu klammern. Es
war ein tiefes Bedürfnis nach Liebe. Wenn ihre Freunde sie auch für
ihre Selbstlosigkeit und Großzügigkeit priesen, weil sie all diese
verlorenen Kinder in ihrem Haus aufnahm, so hatte sie dies doch nie
als selbstlos und großzügig empfunden. Vielmehr war es ihr
vorgekommen, als wären Gebete, die zu sprechen ihr nicht
eingefallen wäre, erhört worden. Sie hatte ihre Tochter verloren.
Und Gott hatte ihr diese kostbaren Kinder geschickt.
Aber sie hatte die Fotos betrachtet, die ihr die
Mitarbeiter der Agenturen gezeigt hatten: äthiopische Babys in
schicken Kinderwagen, die von nordamerikanischen und europäischen
Müttern und Vätern geschoben wurden. Babys in Autokindersitzen,
Babys auf Hochstühlen, Babys in Planschbecken, Babys mit kleinen
Hunden, Babys, die zufrieden und glücklich aussahen.
Nun beweise, dass du selbstlos bist,
ermahnte sie sich. Los, sei großzügig.
Wo es an Menschen fehlt, sei ein
Mensch.
Eines Tages meldete sich eine italienische Agentur
und fragte nach einem kleinen Mädchen.
Wie damals die Frau aus Malta stand jetzt die
Italienerin da und sah auf das Doppelbett hinunter, auf dem rosige
Babys im Sonnenschein schliefen und dabei am Daumen nuckelten. Als
diese Frau ihre Hände nach Menah ausstreckte, stürzte Haregewoin
nicht vor, um sie aufzuhalten.
»Menah? Den Namen kenne ich gar nicht. Was bedeutet
er?«
»Es ist... ein Name aus der Bibel.«
»Darf ich sie mitnehmen?«
»Ich will ihr nur noch die Windel wechseln. Und
Ihnen ihre Papiere heraussuchen.« Sie reichte der Italienerin
Menahs Akte und sagte: »Lassen Sie uns einen kurzen Moment zum
Abschiednehmen.«
»Kinder!«, rief sie mit heiserer Stimme. »Kommt und
sagt eurer kleinen Schwester auf Wiedersehen!«
Menah wachte auf, fröhlich wie immer, strampelte
glucksend mit ihren dicken Beinchen, ihre schwarzen Augen
funkelten.
Die Frau hatte einen Kindersitz auf der Rückbank,
in den sie das Mädchen setzte, das zu weinen anfing, kaum dass sie
es Haregewoin aus den Armen genommen hatte. Haregewoin suchte an
dem Torpfosten Halt, als das Auto davonfuhr, dann eilte sie mit
einem Geschirrtuch vor dem Gesicht in ihr Zimmer. Dort saß sie auf
der Bettkante, ließ die Mundwinkel hängen und wiegte sich in
stummer Trauer vor und zurück. Als die Babys um sie herum sich zu
regen begannen, nahm sie eines hoch, dann noch eines, hielt sie im
Arm und weinte still vor sich hin.
Niemals wieder!, schimpfte sie zornig mit
sich. Niemals wieder darfst du dein Herz so sehr an eines der
Kinder hängen. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen
kann.