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Auf der einen Seite also Ansteckung, Entstellung, Angst, Heimlichkeiten, Stigma, Scham, Mord und Panik. Eine neue Weltklasse-Elite an Krankheitsexperten, eine neue Weltklasse-Unterschicht an Unberührbaren. Noch ein Grund dafür, dass es mit Afrika bergab geht. Ein menschlicher Erdrutsch.
Und auf der anderen Seite zwei kleine Mädchen.
Innerhalb von wenigen Tagen wurden Selamawit und Meskerem bei Haregewoin abgegeben. Die Erste - ein langgliedriges Mädchen mit rundem Gesicht - hatte der Hunger davon abgehalten, sich ins Leben zu stürzen und die Gesellschaft anderer zu suchen, um mit ihnen zu plaudern und sich auszutauschen. Das erste Jahr bei Haregewoin war Selamawits größte Sorge, ob bald Essenszeit war und was auf dem Speiseplan stand. Mit vollem Bauch war sie ein fröhliches Mädchen, furchtlos und ehrlich, gesellig und lustig. Eine zweite Suzie!, dachte Haregewoin staunend.
Selamawit war lange herumgeschoben worden, aber sie hielt an den Erinnerungen an ihre Mutter fest.
»Es war so schön mit ihr, besonders an den Feiertagen«, erzählte Selamawit Haregewoin. »Wir haben gelacht und getanzt und Popcorn gegessen. Als dann meine Mutter krank wurde, habe ich mich um sie gekümmert, ich habe sie gefüttert und Kaffee für sie gekocht, während die Nachbarn und Verwandten ihr nicht mehr nahe kommen wollten.«
Durch den Tod ihrer Mutter waren ihre Zukunftsaussichten schon früh ziemlich trostlos, aber Selamawit hatte sich nicht unterkriegen lassen und jede Hilfe angenommen, die man ihr bot. Aus all den kleinen Aufmerksamkeiten, die ihr zuteil wurden, bastelte sie sich etwas zusammen, das wie ein behütetes Leben aussah. Wenn ihr jemand die Haare zu kleinen, in alle Richtungen abstehende Zöpfchen flocht, dann trug sie die; wenn nicht, dann bürstete sie sich die Haare straff nach hinten. Sie nahm an dem Schicksal anderer Menschen aufrichtig Anteil, und da sie davon ausging, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte, ging sie ohne Scheu auf sie zu. Nachts suchte ihre verstorbene Mutter sie in ihren Träumen auf und versicherte ihr, dass sie keine Schmerzen mehr litte.
Als Haregewoin ein paar Tage nach Selamawits Eintreffen Meskerem das erste Mal sah, saß die Sechsjährige allein und verloren auf dem rissigen Ledersitz des Wagens von MMM. Ihre dichten schwarzen Augenbrauen waren wie mit Kohle in das schmale, unverkennbar äthiopische Gesicht gemalt; die riesigen runden Augen unter der hohen Stirn blickten sie klug und melancholisch an. Das Mädchen war in schmutzige, sackartige Kleider gehüllt, an denen es mit langen, schmalen Fingern herumzupfte. »Komm her«, sagte Haregewoin, breitete ihre Arme aus, und Meskerem kletterte aus dem Transporter und ließ sich umarmen. Wie dünn sie war! Über ihren Kopf hinweg zog Haregewoin fragend die Augenbrauen hoch.
»Sie lebte allein mit ihrer Mutter, als diese starb«, sagte die Frau von MMM. »Sie zog zu ihrem Vater, aber dort war sie sehr unglücklich. Ihr älterer Halbbruder brachte sie zu uns.«
Es war früher Abend. Mit den anmutigen, vorsichtigen Bewegungen eines Rehkitzes betrat Meskerem das Haus und sah sich um, aber dann gewann die Traurigkeit die Oberhand über ihre Neugierde; ihre braunen Lippen zitterten, und die Mundwinkel senkten sich; sie schlug sich die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Genet, die gerade eine alte Zeitschrift durchblätterte, sah genervt auf, so als fragte sie sich, ob sie sich nun tatsächlich den ganzen Abend dieses Geheule anhören müsste.
Aus einem Impuls heraus schlang Selamawit zur Begrüßung die Arme um Meskerem; aber das schmale, von Trauer erfüllte Mädchen befreite sich aus der Umarmung und wich zurück. Meskerem war erst kürzlich zur Waise geworden und hatte noch die winzige Hoffnung, dass ihre Mutter Yeshi sich erholen und sie suchen könnte. Alles und jeder - Haregewoin, Selamawit, Genet, das Haus, das Auto, der Hof - schienen ihr entgegenzuschreien, dass sie nicht Yeshi waren und nie zu Yeshi gehört hatten. Sie existierten nicht für sie.
Haregewoin brachte Meskerem in ihr Schlafzimmer, zog ihr ein Flanellnachthemd an, steckte sie in ihr Bett und brachte ihr eine Tasse heißen Tee. Genet seufzte jedes Mal ungeduldig auf, wenn Haregewoin an ihr vorbeieilte, um Meskerem erneut etwas Gutes zu tun. Selamawit sprang ständig zwischen den beiden Zimmern hin und her, sie freute sich, eine neue Freundin zu haben. »Was ist mit ihrer Mutter passiert?«, fragte sie laut.
»Was ist mit ihrem Vater passiert?«
»Bleibt sie für immer hier?«
»Warum weint sie denn?«
»Genet!«, rief Haregewoin verzweifelt, und das mürrische ältere Mädchen zog Selamawit von der Schlafzimmertür weg.
Schließlich kam Abel nach Hause, und die beiden jungen Leute machten sich rauchend und unter viel Gelächter in der Küche etwas zu essen. Jetzt ging Selamawit ihnen auf die Nerven: »Seid ihr ein Liebespaar?...Werdet ihr heiraten?... Wer von euch ist älter, du oder er?«
In der Nacht wachte Meskerem auf und suchte ihre Mutter. Noch bevor sie ganz wach war, begann sie zu weinen, ein hoher, nasaler Laut wie eine ferne Sirene. Davon wiederum erwachte Haregewoin und fing aus Mitleid mit dem Mädchen ebenfalls an zu weinen. Sie tastete im Dunkeln nach dem Kind und streichelte ihm über den Kopf. Meskerems glänzende Haare waren wirr wie Seetang. Haregewoin setzte sich auf und nahm das dünne Kind in die Arme; sie wiegte es hin und her und sang ihm leise etwas vor. Der Atem des Kindes roch nach den Weintrauben, die es zu Abend gegessen hatte, und dem gesüßten Tee, den es getrunken hatte. Als Meskerem wieder eingeschlafen war, legte Haregewoin sie auf ein Kissen, konnte nun aber selbst nicht mehr schlafen. Vorsichtig, um Meskerem und Selamawit nicht zu wecken und auch Genet auf der Matte auf dem Boden nicht zu stören, schlüpfte sie aus dem Bett.
Sie nahm ihr Baumwolltuch von dem Stuhl und wickelte sich darin ein, dann ging sie vor die Tür. Sie atmete tief die Gebirgsluft ein und schloss die Augen. »Danke«, sagte sie zum Universum. Hatte Gott, hatte Atetegeb ihr nicht diese Kinder geschickt? Eine weitere Suzie, eine weitere Atetegeb? Ein Ebenbild der Tochter, die sie hatte, ein Ebenbild der Tochter, die sie verloren hatte.
Meskerem hatte sofort ihr Herz erobert, ihr Allerheiligstes. Meskerem sah für sie genau wie Atetegeb aus.
 
Auf einmal waren Besorgungen zu erledigen, Stifte und Schulhefte mussten gekauft werden, und Strümpfe und Schuhe und Zahnbürsten. Meskerem und Selamawit begleiteten Haregewoin im Auto.
»Nennt mich amaye«, forderte Haregewoin die beiden kleinen Mädchen auf.
Selamawit folgte der Aufforderung sofort mit einem breiten Lächeln.
Meskerems Augen dagegen füllten sich mit Tränen. Das Wort amaye war allein Yeshi vorbehalten; sie würde es nie mehr aussprechen, es sei denn ihrer armen Mutter gegenüber.
Endlich bekomme ich wieder Luft, dachte Haregewoin. Sie wurde wieder rundlich. Sie färbte ihre Haare, damit sie so schwarz wie früher glänzten, wie es zu einer Mutter von zwei kleinen Kindern passte. Sie besuchte die Schule in ihrem Viertel und stellte sich den Lehrern vor. Sie plauderte mit anderen Müttern auf der Straße. Sie kaufte hübsche Kleinigkeiten, Deckchen, Püppchen, damit das Haus fröhlicher aussah. Sie fing noch einmal ganz von vorn an.
Wie jede stolze frischgebackene Mutter lud sie ihre Freunde ein. »Kommt und seht euch meine Kinder an!«
Nervös und voller Angst davor, sich mit Aids anzustecken oder Haregewoin in einem allzu erbärmlichen Zustand vorzufinden, schlichen die alten Freunde und Kollegen zum Hoftor und spähten hinein. Welch trostloses Bild sie auch zu sehen erwartet hatten - vielleicht eine wehklagende, schwarz gekleidete Frau, umringt von völlig verwahrlosten Kindern -, es entsprach jedenfalls nicht dem, was sie tatsächlich vorfanden. Haregewoin war gesund und munter und legte gerade einen Gemüsegarten an, während Meskerem und Selamawit in der Einfahrt seilsprangen.
»Seht ihr?«, rief Haregewoin lachend.
Meskerem und Selamawit, wohlerzogene Mädchen, reichten Haregewoins Freunden zur Begrüßung höflich die Hand. Die meisten Frauen lachten nervös und schafften es irgendwie, den Hautkontakt mit den beiden zu vermeiden. Eine klatschte in die Hände, brach in Entzückensschreie über den Garten aus und drehte sich dann rasch weg; eine andere drückte ein Geschenk, eine Mango, in die ausgestreckte Hand. Keiner, der zum ersten Mal zu Besuch hierherkam, aß in diesem Haus auch nur einen Bissen von dem angebotenen Essen.
»Sind sie krank?«, fragte einer geradeheraus.
Haregewoin wusste, was der besorgte Besucher meinte: »Hast du keine Angst, dass sie dich anstecken könnten?«
Die Frage ließ Haregewoin von diesem Moment an keine Ruhe mehr. Nicht etwa, weil sie Angst um sich selbst hatte! Sie hatte plötzlich Angst um die Kinder. Sie versuchte, die Frage zu vergessen, zu vergessen, dass sie überhaupt jemals gestellt worden war, aber es ging nicht. Dabei sahen sie überhaupt nicht krank aus.
Das sagte sie sich immer wieder: dass die beiden doch gesund aussähen. Morgens sprangen sie aus dem Bett; sie löcherten sie mit Fragen - über irgendwelche Leute, über Vögel, über Hunde (ob sie vielleicht einen kleinen Hund haben könnten?); sie freuten sich darauf, in ihren neuen Schuluniformen in die Schule zu gehen.
Haregewoin ging davon aus, dass ihre Mütter an Aids gestorben waren, auch wenn man das nicht genau wusste. Könnte das Virus genau in diesem Moment durch ihre Adern kriechen, während sie lachend in der Sonne saßen und mit Murmeln spielten?
Und wenn sie tatsächlich infiziert waren... o Gott, dann wäre sie wirklich von allen guten Geistern verlassen, ihnen Liebe entgegenzubringen; sie hatte viel zu übereilt gehandelt, sich einer Gefahr ausgesetzt. Sie hätte auf ihre Freunde hören sollen, nicht aus den Gründen, die diese im Sinn hatten (sie glaubten, dass Aids-Waisen eine Gefahr für die eigene Gesundheit darstellten), sondern wenn Meskerem und Selamawit krank waren... nein, das könnte sie nicht noch einmal durchstehen.
Sie hatte sich von den kleinen Mädchen um den kleinen Finger wickeln lassen; würden die beiden sie, ihre neue Mutter, die sich ihnen mit einem Lächeln ergeben hatte, zwingen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, mit denen sie sich nie wieder hatte auseinandersetzen wollen?
Im Jahr 2000 gab es außerhalb des Schwarzmarktes keine Aids-Medikamente in Äthiopien.78
Wenn Meskerem und Selamawit im Äthiopien des Jahres 2000 mit HIV infiziert waren, würden sie an Aids sterben.
'Alle meine Kinder'
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