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AUGUST 2004
 
An einem düsteren Nachmittag während der Regenzeit saß ich in einem überfüllten Wohnzimmer im äthiopischen Addis Abeba, völlig überrascht von den Wassermassen. Der Regen trommelte ohrenbetäubend auf die Blechdächer der auf die Hügel gebauten Häuser, so als stünden sämtliche Bewohner dort oben und schlügen mit Stöcken auf Töpfe ein. Den Hof verwandelte das Wasser in einen kochenden Kessel. Durch die sperrangelweit offen stehende Haustür sah ich die eintreffenden Besucher über die vom Matsch schlüpfrigen Trittsteine springen. Auf der Schwelle zu Haregewoin Teferras unverputztem Haus - eine einfachere Unterkunft mit mehr undichten Stellen als das moderne einstöckige Haus, das sie früher ihr Eigen nennen durfte - nahmen die Männer ihre Hüte ab und schüttelten sie, und die Frauen wrangen ihre Tücher aus. Obwohl Haregewoin jeden Tag ein wenig weiter aus der Mittelklasse abrutschte, der sie früher angehört hatte, hatten ein Dutzend alter Freunde beschlossen, den Wolkenbruch bei ihr auszusitzen - einige, um ihre Loyalität zu bekunden, andere vielleicht, weil sie sehen wollten, was sie als Nächstes tun würde. Alle betraten das Haus mit einem strahlenden Lächeln, trotz ihrer Befürchtungen, wen sie unter den Gästen antreffen könnten. Sie begrüßten einander mit Handschlag oder einem leichten Hochziehen der Augenbrauen und drängten, kleine Pfützen auf dem Betonboden hinterlassend, herein, um sich zu der untätigen Runde zu gesellen.
Die Gastgeberin, eine temperamentvolle, rundliche, knapp über einen Meter vierzig große Frau, schlurfte in ihren Plastiksandalen über den nassen Boden. Haregewoin Teferra war eine gebildete, zwei Sprachen sprechende Frau Ende fünfzig und kam ursprünglich vom Land. In ihren dicken Haaren, die sie mit einem dreieckigen Tuch zusammengebunden hatte, ringelten sich ein paar graue Strähnen. Ihre kaffeebraune Haut glühte in der Hitze. Sie trug das, was sie stets trug: einen langen Baumwollrock mit Leopardenmuster und einem elastischen Bund und ein rotes, kurzärmliges T-Shirt. Nachdem sich alle Besucher gesetzt hatten, eilte Haregewoin zurück zu ihrem Stuhl und beugte sich lächelnd nach vorn, begierig, die Neuigkeiten zu hören. Wenn sie lachte, schlug sie die Hände vor der Brust zusammen und lehnte sich zurück, ihre Augen verschwanden dann zwischen den Lachfältchen, und ihre Schultern bebten.
Es war kein Feiertag, und auch sonst gab es keinen besonderen Anlass. Einige von Haregewoins alten Freunden waren aus Altersgründen aus dem Beruf ausgeschieden oder hatten ihr Geschäft aufgegeben; andere hatten nicht genug zu tun, die schlechte äthiopische Wirtschaftslage bot ihnen schlicht keine Gelegenheit, einer lohnenden Beschäftigung nachzugehen.1 Wieder andere hatten verborgene Gründe dafür, dass sie sich an einem ganz normalen Wochentag die Zeit für einen Besuch nehmen konnten.
Einer der Gäste stellte für die Neuankömmlinge eine regelrechte Mutprobe dar. Wollen wir doch mal sehen, wie weit dein gutes Benehmen reicht, besagte die Miene von Zewedu Getachew, ein einstmals gut aussehender und wohlhabender Mann. Er hatte als Bauleiter für ein französisches Unternehmen gearbeitet und an der Universität von Addis Abeba Ingenieurwesen unterrichtet. Seine Schultern unter der khakifarbenen Jacke waren hochgezogen, wohl weniger wegen des Regens, als vielmehr aus Zorn darüber, dass ihm das Leben so übel mitgespielt hatte, dass eine Krankheit ihn seine Stelle und seinen guten Namen gekostet hatte.
Auf dem gesamten Kontinent werden Millionen von Menschen nach einem neuen Binärsystem eingeteilt, indem man ihnen mitteilt, dass sie »positiv« oder »negativ« sind, so als hätten sie sich über Nacht in Protonen und Elektronen verwandelt und als ginge es um subatomare Physik und nicht darum, wer leben wird und wer geächtet, grauenvolles Leid durchmachen und sterben wird.
Haregewoin war die einzige der vielen Freunde, in deren Häusern er einst ein und aus gegangen war, die ihn noch willkommen hieß. Er drückte sich an die Lehne des metallenen Küchenstuhls, die Arme vor der Brust verschränkt, weder erwartete er einen Händedruck, noch bot er selbst jemandem die Hand. Auf seinen Wangen lag ein dunkler Bartschatten.
Eine scheu wirkende, hübsche junge Frau in einem langen Rock nahm auf einem niedrigen Stuhl Platz und röstete frische Kaffeebohnen in einer Eisenpfanne über einem tragbaren Öfchen. Sara war während ihres zweiten Jahres vom College verwiesen und von ihren Eltern verstoßen worden, als klar wurde, dass ihr hartnäckiger Husten nicht nur von einer Tuberkulose herrührte (die ihre Eltern noch veranlasst hatte, sie ins Auto zu packen und zu den besten Ärzten zu bringen), sondern von etwas Unaussprechlichem (weswegen sie sie des Hauses verwiesen). Wie die meisten äthiopischen Mädchen war auch diese junge Frau zur Unterwürfigkeit erzogen worden, so dass sie nicht darauf vorbereitet war, allein in der Stadt zurechtzukommen; als Haregewoin sie fand, saß Sara zusammengekauert in einem Torweg. Anders als vielleicht Sara selbst wusste Haregewoin, dass das junge Mädchen bald nur noch die Wahl haben würde, zu betteln oder seinen Körper zu verkaufen.
Es war also ein seltener Anblick, der sich hier an einem ganz normalen Wochentag in Ostafrika bot: ein Haus, in dem Männer und Frauen aus der Mittelschicht, die von der Epidemie nicht persönlich betroffen waren, neben Männern und Frauen saßen, die ihr hilflos ausgeliefert waren.
Der Regen prasselte auf das Dach, verwandelte den Hof in eine riesige Schlammpfütze und trieb Horden barfüßiger kleiner Kinder durch Haregewoins offene Tür.
Ich saß auf einem schmalen Sofa neben einer finster dreinblickenden alten Frau, die in einen Kokon aus handgesponnener Baumwolle gehüllt war. Ihre dunkle, schlaffe Haut und die hängenden Augenlider wurden von einem Kopftuch nach oben gezogen, was ihr den Ausdruck besorgter Missbilligung verlieh. Ich weiß nicht, ob sie sich darüber ärgerte, dass ihr Gesicht in eine Grimasse gezwungen wurde oder weil sie an mich geraten war. Im Laufe der Stunden wurden wir wie Fremde auf einer nächtlichen Busreise widerstrebend miteinander vertraut. Heimlich und ohne dabei eine Miene zu verziehen, schoben wir uns gegenseitig millimeterweise über das umkämpfte Territorium.
Der Wind wehte feinen Sprühregen durch die offen stehende Tür. Das weiß gestrichene Zimmer schien wie ein Hausboot auf dunklen Wellen hin und her zu schaukeln. Die mumifizierte Witwe an meiner Seite gewann langsam an Boden, während sie sich aus ihren langen Baumwollschals schälte.
 
Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. An den langen Nachmittagen, wenn die Luft in Addis Abeba von Regen gesättigt ist, flüchten sich die in der Stadt lebenden Tiere - Ziegen, Schafe, Esel, streunende Hunde, Spechte, Spottdrosseln, Schwalben - in Ritzen und Nischen, oder sie ziehen zum Schutz vor der Sintflut den Kopf ein und schlafen. In diesen Stunden sehne ich mich danach, mich die Treppe zu meinem sauberen Zimmer im Yilma Hotel hochzuschleppen, die schlammverkrusteten Schuhe und Socken abzustreifen, einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, mich mit Bahru Zewdes History of Modern Ethiopia ins Bett zu legen und dann zu schlafen, während sich die langen, dünnen Vorhänge, schwer von der Nässe und vom Geruch des Regens, bauschen.
Aber hier saß ich auf einem Sofa in Haregewoins Zimmer und konnte nicht weg. Die allgemeine Trägheit hatte auch mich erfasst. »Jetzt?«, sagten alle befremdet. »Du willst jetzt gehen, bei diesem Wetter?« Sicherlich dachten einige: Die ferange, die Weiße, muss jetzt irgendwohin? Selamneh Techane, mein Freund und Fahrer, der mit in die Hände gestütztem Kopf dasaß, richtete sich auf und sah mich mit müden Augen verwundert an. Immer wenn ich mich erheben wollte, streifte die Matrone neben mir eine weitere Schicht ihrer Tücher ab.
Bleib einfach hocken, schienen alle sagen zu wollen; wir werden das gemeinsam durchstehen. Also hockten wir während des endlosen Trommelns des nachmittäglichen Regengusses beisammen. Der Kaffee aus den kleinen Tassen, in denen am Boden dick der braune Zucker stand, versetzte uns aus irgendeinem Grund noch schneller in einen schläfrigen Zustand. Nachdem wir unsere leeren Tassen auf das vierbeinige Holztablett, das auf dem Boden stand, zurückgestellt hatten, versickerte das Gespräch in kürzester Zeit. Keiner klopfte gegen die Lampe, als das schwache Licht zu flackern begann. Niemand schaltete den verstaubten Fernseher ein, auf dem auf einem vergilbten Deckchen eine Vase mit Plastikblumen stand. (Es gab auch nichts anzusehen: Tag für Tag brachte der von der Regierung kontrollierte Fernsehsender praktisch ununterbrochen traditionelle Tänze, unter gleißendem Studiolicht von springenden, hüpfenden Tänzern vorgeführt.) Meine unerschütterliche Sitznachbarin, die sich mittlerweile fast ausgewickelt hatte, schnarchte vor sich hin.
 
Haregewoins Handy klingelte, und sie meldete sich mit einem knappen »Allo? Abet?« (Ja?). Der Sofatisch war mit Papieren bedeckt, und es gab noch ein Festnetztelefon, das ebenso oft klingelte. Auf Haregewoin Teferra lasteten weder Wind noch Regen oder Schläfrigkeit. Selbst bei diesen sintflutartigen Regenfällen ging das Leben in der Stadt weiter, und sie musste Verhandlungen führen. Vielleicht wollte sie ihren alten Freunden auch sagen: »Seht ihr? Ich bin noch am Leben.«
Sie ließ das Handy sinken und starrte nachdenklich vor sich hin.
»Was ist los?«, fragte jemand. Damit hatte sie gerechnet.
»Das ist das kebele, die Gemeinde- und Stadtteilverwaltung. Sie fragen, ob ich Platz für ein Kind habe.«
Einige Besucher lachten auf, unter der Oberfläche regten sich Zweifel. Die Äthiopier - besonders die vom Hochland, die Amhara und die Tigray - sind bekannt für ihren Sarkasmus, daher fielen vielleicht auch einige versteckte Boshaftigkeiten in einer Sprache und mit einer Scharfzüngigkeit, die ich sogar in der Übersetzung nicht verstehen konnte. Die Äthiopier haben ihre Begabung zur doppelbödigen Rede jahrhundertelanger Tyrannei zu verdanken. Sie hat sogar einen Namen: säm enna wärq (Wachs und Gold), säm ist die oberflächliche Bedeutung und wärq die tiefere oder verborgene Bedeutung. Wer diese Art des Sprechens beherrscht, gilt als Meister der Redekunst.
Wie dem auch sei, Haregewoin hatte jedenfalls keinen Platz mehr für ein weiteres Kind: das Haus mit seinen zwei Zimmern, die beiden kleinen Nebengebäude und der verrostete, hellblaue Güterwaggon, aus dem eine Tür herausgeschnitten worden war, platzten jetzt schon aus allen Nähten vor Kindern jeden Alters, die wehmütigen Erwachsenen, die sich hier herumdrückten, nicht zu vergessen.
Sie setzte sich kurz, das Handy an die Brust gedrückt, die Finger der anderen Hand am Mund, und zählte. Keiner bewegte sich, und keiner bot an, an Haregewoins Stelle das Kind zu sich zu nehmen. Wer wusste schon, in welchem Zustand es war. Möglicherweise hatte es eine Krankheit, vermutlich ansteckend, sicher war es hungrig und schmutzig; barfuß, ohne Schulbildung, verzweifelt. Nein danke. Es wurde zwar begrüßt, dass das kebele sich darum kümmerte, aber weder das kebele noch die Regierung kamen für den Unterhalt des Kindes auf.
Haregewoin erhob sich. »Ich gehe«, sagte sie.
Überzeugt, an diesem Nachmittag im Sinne der anderen zu sprechen, sagte ich: »Jetzt? Du willst jetzt gehen?« Bestätigung heischend sah ich die anderen an.
Aber das fragte man nicht jemanden, der tatsächlich zu arbeiten hatte, da richtige Arbeit schwer zu finden war und stets geachtet wurde. Einige müssen gedacht haben: Jetzt will plötzlich die ferange nicht gehen?
»Darf ich mitkommen?«, fragte ich, schon etwas kleinlauter.
»Ja. Ishi, in Ordnung. Komm. Bitte.«
Selamneh Techane, der Taxifahrer, sprang sogleich auf, die Schlüssel in der Hand. Haregewoin besaß kein Auto, ganz zu schweigen von zwei Autos wie während ihrer Ehe. Sie nahm ihren shamma (ein dickes, handgewebtes Tuch) und ihre schwarze Handtasche und schlurfte munter über den Hof.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich, während ich hinter ihr her durch den Schlamm watete.
»Das Kind holen«, rief sie mir über die Schulter zu und kletterte auf den Beifahrersitz von Selamnehs stahlblauem Taxi. Ich nahm hinten Platz, und schon schossen wir davon.
 
An der Kreuzung zwischen der unbefestigten Straße hügelaufwärts und der asphaltierten Durchgangsstraße hielten wir an, um eine Frau in Khakihose und Regenjacke einsteigen zu lassen, die vor ihrem Haus auf uns wartete. Nachdem sie neben mir Platz genommen hatte, stellte sie sich vor und schüttelte allen die Hand. Sie hieß Gerrida; sie war Hausfrau und mit einem Polizisten verheiratet. Sie war diejenige, die im Namen des kebele angerufen hatte.
»Der Kleine heißt Mintesinot. Er ist ungefähr zweieinhalb Jahre alt«, sagte Gerrida. Er lebte auf der Straße, in der Nähe einer vielbefahrenen Kreuzung in der Stadt. Zwei Monate zuvor war seine Mutter Emebate an Lungenentzündung gestorben (eine opportunistische AIDS-Infektion); inzwischen war auch sein Vater schwer erkrankt und hustete die ganze Nacht, wahrscheinlich hatte er Tuberkulose (TB ist eine der typischen opportunistischen AIDS-Infektionen, die ein durch HIV geschwächtes Immunsystem befallen).2 Allen war klar, dass der junge Vater bald sterben würde.
Gerrida hatte der kleinen Familie über die Jahre immer wieder unter die Arme gegriffen, sagte sie, und auch viele andere aus dem Viertel hatten geholfen. Aber nun, da die Mutter von Mintesinot gestorben war, war es an der Zeit: Der Junge brauchte eine bessere Versorgung als die, die ihm sein obdachloser, todkranker Vater neben dem Rinnstein einer verkehrsreichen Straße, beinahe unter den Hufen von Ziegenherden und Eseln und vor aller Augen zuteil werden ließ.
»Das Kind hat immer ein Lächeln auf dem Gesicht«, versicherte Gerrida mir auf Englisch. »Ein reizender Junge.«
Ich fragte mich einen Moment lang, warum Gerrida den kleinen Jungen nicht nahm. Aber wenn seine Eltern tatsächlich dieser unaussprechlichen Krankheit zum Opfer gefallen waren, dann konnte sie es nicht. Das Stigma der Seuche haftete auch an den Waisen, Witwen und Witwern, so als steckten sie voller Keime und Bakterien.
Wir schlängelten uns durch den Verkehr und fuhren über ampellose Kreuzungen, während vollgeladene Lastwagen, Busse und Taxis die Straßen entlangrasten, bremsten, schlingerten, stecken blieben und von herumstehenden Leuten, die auf ein kleines Almosen hofften, zum Ausweichen gezwungen wurden. Ein Grüppchen Esel, beladen mit grünen Zweigen, trottete durch den Verkehr, auf dem Mittelstreifen graste verträumt eine bucklige Kuh, als stünde sie im kniehohen Gras auf einer Wiese und ihr einzige Sorge wären die Wolken am Himmel.
Auf ihrer ersten Reise nach Addis Abeba sagte meine vierundzwanzigjährige Tochter Molly Samuel: »Wenn ich jemals so viele Leute in den Straßen einer amerikanischen Stadt sähe, dann würde ich denken, dass sie vor einer Naturkatastrophe fliehen.« Es hatte aufgehört zu regnen, und zwischen den Wolken blitzte kalt die Sonne hervor. Ein Mann lief den Bürgersteig entlang und hielt dabei die Hinterläufe seiner Ziege in die Höhe; das Tier galoppierte so schnell es konnte auf seinen knochigen Vorderläufen, den Rumpf hoch in der Luft, so dass es aussah wie ein Schubkarren. Runzlige kleine Frauen mit Kopftüchern humpelten mit tief gebeugtem Rücken die Böschung hinunter, viel zu große Feuerholzbündel auf den Schultern. Frauen in hijabs (islamische Kopftücher) strömten über die vollen Bürgersteige, während andere in schicken Hosenanzügen auf hohen Absätzen um sie herumsteuerten. Männer jeden Alters, gute Freunde, gingen Hand in Hand die Straßen entlang; Polizisten, Gewehre auf dem Rücken, standen händchenhaltend auf ihrem Posten. Junge Fußballspieler in bunter Sportbekleidung riefen sich etwas zu; dann bahnte sich ein weißbärtiger, in ein langes Gewand gekleideter Mann mit seinem Knotenstock einen Weg durch die Menge, und er sah aus, als käme er geradewegs aus der biblischen Wüste.
Ältere orthodoxe Äthiopierinnen in langen, weißen Kleidern und Tüchern schritten unter Schirmen mit langen roten oder goldenen Fransen einher, die aus glänzenden roten, grünen und lilafarbenen Stoffbahnen bestanden und mit Goldfäden durchwirkt und winzigen goldenen Ornamenten bedruckt waren. Die gläubigen Frauen öffneten ihre Schirme, um Gott zu danken, dass er ihre Gebete erhört hat. Marktstände boten bündelweise diese farbenprächtigen Schirme an, auf denen die Sonne glitzerte wie von Glasscherben reflektiert.
»Wozu die vielen Schirme?«, fragte ich Selamneh auf meiner ersten Reise nach Äthiopien im Jahr 2001.
»Das sind...«, setzte er an. »Sind das nicht... die Schirme aus der Bibel?«
»Schirme? Aus der Bibel
»Ja.«
»Welche Schirme aus der Bibel?«
»Ich weiß nicht.«
An diesem Abend schickte ich meiner Familie in Amerika von einem Internetcafé aus eine Mail mit der Frage: »Kommen in der Bibel Schirme vor?«
Am nächsten Tag antwortete mir mein siebzehnjähriger Sohn Seth Samuel: »Mom, es hat doch immerhin vierzig Tage und vierzig Nächte geregnet.«
Und ein paar Tage später erinnerte sich Selamneh: »Als König Salomon die Bundeslade nach Jerusalem brachte, schützten die Menschen sie mit Schirmen.«
»Oh«, sagte ich. Und warum heben und drehen ältere Frauen in langen weißen Kleidern, während sie vorsichtig am Rand von Straßen, auf denen sich Autos, Vieh und Menschen drängen, durch den Schlamm waten, ihre Schirme in der Luft und lassen sie wie Drachen im Wind flattern, wenn nicht aus Freude an dem prächtigen Farbenspiel? Und warum heben an dem orthodoxen Feiertag Timket, an dem das Epiphaniefest begangen wird, die Geistlichen Schirme in die Höhe, während ehrfürchtig ein Tabot, eine Nachbildung der Bundeslade, zur Schau gestellt wird? Weil Äthiopien das biblische Abessinien ist, das Reich der Königin von Saba, die nach Jerusalem reiste (gemäß der Heiligen Schrift und Legende), als die Bundeslade noch jung war.
Das alte Äthiopien, das wie eine Festung über dem Horn von Afrika wacht, unweit der Stelle, wo das Rote Meer, das Arabische Meer und der Indische Ozean zusammenfließen, hat über Jahrtausende fremde Eroberer abgewehrt und mit dem alten Ägypten, Persien, Arabien, dem Römischen Reich und Indien Handel mit Sklaven, Gold, Elfenbein, Gewürzen, Edelsteinen, Stoffen und Tieren getrieben. Fünftausend Jahre alten ägyptischen Hieroglyphen ist zu entnehmen, dass die Pharaonen Myrrhe aus Äthiopien zu schätzen wussten. Jahrhundertelang beherrschte Aksum, das Reich der Amhara im äthiopischen Hochland, das Rote Meer und errichtete Burgen und riesige Stein-Monolithen, betrieb Gold-, Silber- und Kupferprägeanstalten. In persischen Schriften aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. wurde Aksum neben Rom, China und Persien zu den vier großen Kaiserreichen der Welt gezählt.
Heilige Schriften sowohl aus Israel als auch aus Äthiopien beschreiben den Besuch von Makeda beim König von Israel. Im ersten Buch der Könige, Kapitel 10, heißt es: »Und da das Gerücht von Salomo... kam vor die Königin von Reicharabien, kam sie, Salomo zu versuchen mit Rätselfragen... Und sie kam gen Jerusalem mit sehr vielem Volk, mit Kamelen, die Spezerei trugen und viel Golds und Edelsteine.«3 »Diese Königin des Südens war sehr schön von Angesicht und von herrlicher Gestalt«, steht in der alten äthiopischen Heiligen Schrift Kebra Nagast (Der Ruhm der Könige).4 »Ihr Geist und ihre Klugheit, die Gott ihr verliehen hatte, waren von so hoher Art, dass sie nach Jerusalem ging, um die Weisheiten des Salomon zu hören.«5 Makeda, bei uns als Königin von Saba bekannt, vermählte sich mit Salomon und die beiden hatten einen Sohn: Menelik, Reichsgründer von Äthiopien (während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts behaupteten daher die äthiopischen Kaiser, davidischer Abstammung zu sein).
In den Schirmen, die sich über den vielen Menschen auf den staubigen Straßen wie Kaleidoskope drehen, blitzen geheimnisvolle alte Legenden auf.
Tradition und Moderne durchdringen einander, so wie sie es überall tun. Ein Schäfer treibt sein mageres Schaf am Rand der gepflegten, sanft gewellten Rasenfläche des palastartigen Sheraton Addis Hotel entlang. Ein handgeschriebenes Schild in einem Laden gibt bekannt, dass man hier Motorräder und Kamele mieten kann. Auf der Straße nach Zoia wird eine Lastwagenkolonne von einer stolz dahinschreitenden Prozession von Kamelen aus Afar aufgehalten. Ihre Besitzer, Nomaden mit langen lockigen Haaren, die unter farbigen Turbanen stecken, laufen schreiend und Stöcke durch die Luft schwingend neben den Tieren her, ohne den Lastwagen vor ihnen Beachtung zu schenken. Auf einer dürren Ebene, Hunderte von Kilometern von jeder Elektrizität entfernt, steht ein junger Ziegenhirte mit einem Holzstecken in der Hand auf einem Feld und trägt ein T-Shirt, auf dem das Logo eines amerikanischen Baseballvereins, den Red Sox, prangt. Und eines Tages erblickte ich einen Schäfer und sein Schaf, die per Anhalter auf einem Tankwagen mitfahren. Sie saßen rittlings, mit flatterndem Haar und windgepeitschtem Fell auf dem silbernen Geschoss und klammerten sich verzweifelt fest.
Selamneh steuerte waghalsig durch den mörderischen Verkehr, so dass wir auf dem Rücksitz hin und her geworfen wurden. Kinder liefen zwischen den Autos herum, klopften an die Scheiben und boten Taschentücher, einzelne Eier und lebende Hühner, die sie an den Füßen in die Höhe hielten, zum Verkauf an. In Äthiopien gehen nahezu zwei Drittel der Kinder im Schulalter nicht zur Schule, womit das Land weltweit eines der letzten ist, und nur 41 Prozent der Erwachsenen können lesen.6 Die Mädchen und Jungen, die die braunen oder hellblauen Schulpullover mit V-Ausschnitt tragen, werden, egal, wie abgerissen sie aussehen, glühend beneidet von den Kindern in noch schmutzigerer Kleidung, die keine Schule besuchen. Die Kinder in Schuluniform schwenken ihre Hefte, während sie lachend und schwatzend über die Bürgersteige paradieren, voller Hoffnung und Zuversicht, dass sie ihre Uniformen und Hefte nicht umsonst getragen haben werden.
»Noch ein oder eineinhalb Jahre nach Abschluss der Schule werden sie ganz wohlgemut sein«, erzählte mir Selamneh. »Dann stellen sie langsam fest, dass irgendetwas schiefläuft.« Die Arbeitslosenquote in den Städten ist eine der höchsten auf der ganzen Welt.7 An Mauern und Wänden lehnen teilnahmslos dreinblickende junge Männer, teilen sich Zigaretten und beobachten die herumalbernden Schüler, die nur wenig jünger als sie selbst sind; sie haben die Schule abgeschlossen und warten, ohne zu wissen, worauf, während sie immer mehr verwahrlosen und irgendwann einer Trägheit verfallen, aus der sie nicht mehr herauskommen.
Erwachsene Bettler klopften gegen die Autoscheiben. Stillende Mütter, die schweigend auf die Kinder in den staubigen Tüchern deuteten; ein Mann, der seine sechs Finger an jeder Hand den wartenden Autofahrern hinstreckte, bis sie ihm ein paar Münzen zuwarfen, damit er weiterging. Ein leprakranker Mann stellte seinen Arm zur Schau, der in einem verkohlt aussehenden Stumpf endete. Ein anderer drehte uns sein von Verbrennungen verunstaltetes Gesicht zu. Auf dem Bürgersteig lag ein Mann mit einem stark geschwollenen, brandigen Bein, an dem der Fuß amputiert worden war; es sah aus wie ein umgestürzter, schorfiger, roter Baumstamm. Eine Frau streckte ihr von einem Augentumor deformiertes Gesicht vor das Fenster, und ein kleiner Junge führte seinen blinden Großvater von Auto zu Auto. Es war ein wandelndes Kuriositätenkabinett, der lebende Beweis der Statistiken: 81 Prozent der Äthiopier leben von weniger als zwei Dollar am Tag, und 26 Prozent leben von weniger als einem Dollar am Tag, weltweites Kennzeichen absoluter Armut.8
Äthiopien ist ein Binnenland (seit 1993, als nach einer Volksabstimmung Eritrea der dreiundfünfzigste souveräne Staat auf dem afrikanischen Kontinent wurde und Äthiopien der fünfzehnte von allen Seiten von Land umschlossene Staat), dessen riesige Einwohnerzahl, Dürreperioden, Nahrungsmittelknappheiten, nichtindustrielle Produktionsmittel, riesige Schuldenlasten, enorme Militärausgaben, ständige Grenzkonflikte mit Eritrea und Grundbesitz in Staatshand die Pläne der Entwicklungsexperten durchkreuzen und die Bevölkerung zu einem rückständigen Leben in Arbeitslosigkeit und Not verurteilen.
Das äthiopische Volk hat immer wieder für eine demokratische Regierung gekämpft, die sich für die Industrialisierung der Wirtschaft, ein besseres Bildungswesen und bürgerliche Gleichheit einsetzt, aber es wurde immer wieder enttäuscht.
1995 ging aus der ersten Mehrparteienwahl in Äthiopien Meles Zenawi als Regierungschef hervor und seine Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) wurde stärkste Partei. Aber die Regierung - die erste in Äthiopiens Geschichte mit einem demokratischen Anspruch - hat es nicht geschafft, der Industrialisierung, dem wirtschaftlichen Wachstum und der Durchsetzung der Menschenrechte den Weg zu bereiten. Dürreperioden, Nahrungsmittelknappheiten und Hungersnöte wechselten einander ab und veranlassten Kritiker der Regierung, Landreformen und eine Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion als unabdingbare Voraussetzungen für eine weitere Entwicklung zu fordern - vergeblich.
»In einem Land, in dem es keine verantwortungsbewusste Regierungsführung gibt und die Regierung sich aus Großgrundbesitzern und Unternehmern zusammensetzt, während die Bevölkerung zum größten Teil aus Pächtern besteht, kann man sich nur schwer vorstellen, wie der Privatsektor der Wirtschaft wachsen soll«, sagte im Jahr 2005 Lidetu Ayalew, Generalsekretär der oppositionellen Ethiopean Democratic Party (EDP).9
»Nachdem die EPRDF seit ungefähr vierzehn Jahren die Regierungsgewalt innehat, haben bis zu zwanzig Prozent der fünfundsechzig Millionen Einwohner des Landes nicht einmal eine Mahlzeit am Tag«, sagte Berhane Mewa, der Präsident der Handelskammer von Äthiopien und Addis Abeba.10
Stattdessen betrieb die Regierung eine deutlich ethnisch geprägte Politik (wodurch vor allem die Tigray - denen der Regierungschef selbst angehört - gefördert wurden, so als wären die anderen ethnischen Gruppen Rivalen), rasselte gegenüber Eritrea mit dem Säbel und brachte Oppositionelle und Journalisten zum Schweigen. »Solange die EPRDF am Ruder bleibt, so lange bleibt das Land in Staatsbesitz«, sagt Meles. Grenzstreitigkeiten mit Eritrea treiben die Militärausgaben in schwindelerregende Höhen: Der eskalierende Konflikt, der 1998 schließlich zum Krieg führte, kostete die Regierung zwei Millionen Dollar am Tag; im Jahr 2000 betrug der Verteidigungshaushalt stolze 800 Millionen Dollar.11
Gleichzeitig mit der Erhöhung des Militärhaushalts nehmen die Ausgaben für Gesundheit und Bildung relativ dazu ab. Zwar fließen seit 2000 mehr Gelder in den Bereich Soziales und Gesundheit, aber immer noch weit weniger als das, was dringend benötigt würde. Während in den anderen Ländern Schwarzafrikas die staatlichen Gesundheitsausgaben zehn Dollar pro Kopf und Jahr betragen, lagen sie in Äthiopien im Jahr 2002 bei zwei Dollar pro Kopf.12
So kommt es, dass die Opfer von Kinderlähmung und Malaria und HIV/Aids und Krebs und die Blinden und die Leprakranken und die geistig Behinderten und Unterernährten und die Waisen und die Sterbenden die Straßen der Hauptstadt bevölkern oder auf den Bürgersteigen liegen, hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert.
 
Äthiopien hat im zwanzigsten Jahrhundert zwei Mal diktatorische Herrscher gestürzt: Kaiser Haile Selassie wurde 1974 durch einen von Major Mengistu Haile Mariam geführten kommunistischen Staatsstreich entmachtet; Mengistu wiederum wurde 1991 durch Meles Zenawi und die EPRDF abgesetzt. Beide Revolutionen gingen mit enormem Blutvergießen einher.
Mit anzusehen, wie sich Meles’ Regierung zu einer kriegstreiberischen Diktatur entwickelt, führte bei vielen Äthiopiern zu wachsender Enttäuschung und Unzufriedenheit.
 
Wie wir feststellten, waren weder Sohn noch Vater zu Hause. Wir stellten auch fest, dass das »Zuhause« aus einem Haufen dreckiger Lumpen und Plastiktüten auf dem Bürgersteig bestand, ein paar Schritte von einer Bushaltestelle entfernt. Zusammengebundene Wellblechstücke und Holzplanken bildeten einen niedrigen Schutzzaun um das schmutzige Lager. »Hier wurde er geboren, seine Mutter hat ihn an genau dieser Stelle zur Welt gebracht«, sagte Gerrida.
Gerrida erkundigte sich bei den Passanten, und ein paar freundliche junge Männer in Jeans und T-Shirt machten sich zuvorkommenderweise auf den Weg, um gemeinsam mit Mintesinot und seinem Vater zurückzukehren.
Wie jung und verwirrt der Vater aussah! Er war achtundzwanzig Jahre alt, mager, trug einen spärlichen Bart und ein zu großes, beige-grünes Hemd, rote Hosen und eine Kette mit einem Holzkreuz daran. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er derjenige gewesen wäre, zu dessen Rettung wir gekommen waren. Gerrida berichtete uns, dass der junge Mann namens Eskender in derselben Firma zum Metallfacharbeiter ausgebildet worden war, in der sein Vater gearbeitet hatte, dass aber seine beiden Eltern schon vor Jahren gestorben waren. Als seine Aids-Erkrankung offenbar wurde, verlor er seine Stelle und sein Haus. Er und seine junge Frau Emebate, ebenfalls eine Waise, hatten sich hier, auf diesem kleinen Stück des Bürgersteigs, niedergelassen. Wenn es regnete, legten sie sich hin und breiteten eine Plastikfolie über sich und ihr Baby.
Eskender hielt einen stämmigen kleinen Jungen an der Hand, seinen Sohn, den stolzen Kronprinz des Viertels. Mintesinot hatte ein eckiges, dunkel glänzendes Gesicht, lange Locken und entzückende Segelohren. Er hüpfte herum, als gehörte ihm die Welt. Und ihm gehörte ja auch tatsächlich dieses Stück des Bürgersteigs, und jeder kannte ihn. Der Name Mintesinot bedeutete: Was soll er nicht können? Wenn Minty schlafen wollte, kletterte er über den dürftigen Schutzwall, der seine Decken umgab - das Ganze glich einer Burg, wie sie kleine Kinder zum Spielen bauten -, und die Vorbeigehenden bemühten sich, leiser zu sein, und flüsterten sich gegenseitig zu: »Das Baby schläft.« Als Haregewoin auf ihn zutrat, beäugte Mintesinot sie argwöhnisch und drängte sich dichter an Eskender.
Ich befürchtete, dass wir hier waren, um dem Vater sein Kind zu entreißen und mitzunehmen. Der junge Mann tat mir leid.
Gerrida holte einen Stoß offizieller Schreiben und Formulare aus ihrer Handtasche und hielt sie Eskender hin. Der junge Vater las die Verfügungen und lächelte traurig. Er reichte Haregewoin die Hand seines Sohnes.
»Na, komm, Mintesinot«, sagte sie sanft, aber der Junge sträubte sich wie ein Pony, das am Zügel gezogen wird. Haregewoin beugte sich zu ihm hinunter, um mit ihm zu reden, aber er versteckte sich hinter seinem Vater.
Dann versuchte es Selamneh. Er ging in die Hocke und sagte: »Mintesinot, möchtest du in meinem Taxi fahren?«
Die leuchtenden schwarzen Augen tauchten hinter dem schmutzigen Hemdschurz des Vaters wieder auf.
»Darf ich fahren?«, fragte der Junge mit klarer, heller Stimme.
Selamneh verlor vor Lachen beinahe das Gleichgewicht. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Na ja, vielleicht nicht gleich beim ersten Mal. Komm, mal sehen, ob es dir gefällt.«
»Abate yimetal?« Kommt mein Papa auch mit?
»Wir fahren zum Markt und kaufen Kekse für deinen Vater, ein Geschenk für ihn«, improvisierte Selamneh. Bei diesen Worten kam der kleine Mintesinot hinter seinem Vater hervor, nahm Selamnehs Hand und ließ sich bereitwillig zum Taxi führen und auf den Rücksitz setzen. Er winkte ein paar Bewunderern auf dem Bürgersteig von seinem Thron aus zu.
Ich drängte mich an den Leuten vorbei zum Vater durch. »Weiß er, wohin wir fahren? Weiß er, dass wir Mintesinot mitnehmen?« Meine Hände zitterten, weil alles so schnell ging, der Motor des Taxis lief schon wieder, Autos, denen es im Weg stand, begannen zu hupen, Leute rannten herum; hastig kramte ich in meinem Rucksack nach einem Stift und einem Blatt Papier und hielt beides in die Höhe. Einer der freundlichen jungen Männer nahm es und schrieb Haregewoins Telefonnummer und Adresse für Eskender auf. Der Vater dankte uns mit seinem unendlich traurigen Lächeln und steckte den Zettel in die Brusttasche seines Hemdes.
Dieses Kind war ganz offensichtlich sein Leben; er hatte mit nichts, nur mit Lumpen und Abfall und Almosen einen bezaubernden, selbstsicheren Jungen durchgebracht. Aber er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Er begriff, dass gesunde Leute gekommen waren, um seinen Sohn mitzunehmen. Müde ließ er sich auf seinen einsamen Haufen von Decken sinken. Als wir mit Mintesinot weggingen, machte die ganze Straße einen ärmeren Eindruck; der Vater hatte seinen einzigen Schatz verloren, als er die neue Adresse seines Sohnes wie eine Quittung in Empfang genommen hatte.
Kaum fielen die Türen des Autos zu, verschwand Mintesinots Lächeln. »Abi!«, schrie er, als das Taxi losfuhr. »Papa!« Er krabbelte zum Fenster. Seine Neugier erlosch schlagartig, und an ihre Stelle trat die Panik, von seinem Vater getrennt zu werden.
»Wir wollen doch mal sehen, ob wir für deinen Vater nicht ein paar Kekse kriegen können«, sagte Selamneh wieder, aber der Junge kniete schon auf der Rückbank und starrte mit ängstlichem Gesicht zur Heckscheibe hinaus. Er versuchte, sich den Weg nach Hause einzuprägen.
»Minty, Minty«, sang Haregewoin, drehte sich zu ihm um und klatschte in die Hände. Als er nicht reagierte, seufzte sie und sah wieder aus dem Fenster. Das kebele hatte ihr einen klaren Auftrag gegeben; sie konnte den Sohn retten, den Vater nicht.
Als wir in den von Wellblechwänden umgebenen Hof von Haregewoin fuhren, wimmerte Mintesinot: »Das ist gar nicht der Markt!« Ich erinnerte mich, dass ich noch eine Packung italienischer Kekse in meinem Rucksack haben musste, die von einem sechsstündigen Aufenthalt auf dem Flughafen von Rom vor einer Woche übrig geblieben waren. Ich reichte Mintesinot die Packung mit den restlichen Keksen und ging damit unwillentlich auf Selamnehs Trick ein. »Biskut!«, rief er triumphierend. »Kekse für meinen Papa!«
»Dann wollen wir dich mal waschen, junger Mann«, sagte Hagewoin und reichte ihn an Sara weiter. Fünf Minuten später war lautes Protest- und Angstgeheul zu hören. War das Kind überhaupt schon jemals gebadet worden? Eine halbe Stunde später kam Prinz Mintesinot mit glänzenden schwarzen Locken, einem sauberen T-Shirt und dunkelblauen, umgeschlagenen Bluejeans zurück, an seinen Füßen prangten ein Paar gebrauchte Power-Rangers-Turnschuhe mit Klettverschluss.
Als Mintesinot Selamneh erblickte, lief er zu ihm und warf sich in seine Arme. »Jetzt fahren wir zu meinem Papa!«, rief er strahlend.
Der Taxifahrer setzte ihn auf sein Knie. »Ich wünschte, ich könnte den kleinen Kerl zu mir nehmen«, sagte er. Selamneh, ein sanftmütiger siebenunddreißigjähriger Mann mit einem eckigen Gesicht, das ein spärlicher Schnurrbart zierte, sehr einfühlsam und klug, hätte ohne Weiteres der Vater von Mintesinot sein können. Wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse anders gewesen wären, hätte Selamneh, der am liebsten Khakihosen, karierte Hemden und braune Oxford-Halbschuhe trug, Geschichtslehrer sein können, oder Psychologe oder Journalist. Aber so lebte er im Haus seiner Mutter, ohne Frau und unterbeschäftigt. In diesem Land gab es keine vernünftigen Darlehens- und Grundbesitzregelungen; man konnte keinen Kredit für den Besuch der Universität, für ein Auto oder ein Haus aufnehmen, der einem ehrgeizigen, strebsamen Menschen den sozialen Aufstieg ermöglicht hätte. Und was die Liebe anging (zum Beispiel zu einer Frau, die kürzlich ihren Abschluss an der Universität von Addis Abeba gemacht hatte), hatte mir Selamneh erklärt: »Ehrgeizige Eltern sehen es nicht gern, wenn ihre Tochter einen Taxifahrer heiratet.«
Betrübt ließ er Mintesinot von seinem Schoß herunterrutschen.
Mintesinots Auftritt brachte meine erschöpften Mitstreiter wieder auf die Beine. Alle lobten laut, wie hübsch er aussehe, während Haregewoin sich hinsetzte und einen Anruf entgegennahm.
Unvermittelt stand sie auf und sagte: »Noch eines. Es ist unglaublich. Ich muss los.«
Selamneh ging mit ihr, die Autoschlüssel klirrten in seiner Hand. Mintesinot hüpfte neben ihm her, zog an seinem Hosenbein, plapperte etwas von Keksen und Papa. Auf ein Zeichen von Haregewoin lief Sara zu Mintesinot, um ihn von dem Taxifahrer wegzuziehen, was zu erneutem, noch viel schlimmerem Geheul und Tritten wegen dieses Betrugs führte. »Abi! Biskut!« Er streckte die Hand, mit der er die italienischen Kekse hielt, in die Luft.
Selamneh kurbelte sein Fenster herunter. »Später, Minty, wir fahren später zu ihm.«
»Werden Sie ihn später denn wirklich nach Hause fahren?«, fragte ich und vermochte nicht, die Enttäuschung in meiner eigenen Stimme zu verbergen.
Mir fiel auf, dass ich neben dem Auto stand und auf Selamneh einredete wie zuvor Mintesinot.
»Nein.«
»Aber er wird seinen Vater wiedersehen?«
»Ja, er wird ihn wiedersehen.«
Ich kehrte zu meinem Platz in dem stickigen Zimmer zurück, zu traurig, um noch einmal Zeuge einer solchen Trennung eines Kindes von seinen Eltern werden zu wollen. Ich stellte fest, dass meine Sitznachbarin, die Matriarchin, aufgebrochen war.
»Wer war das eigentlich?«, fragte ich missmutig.
Ich erfuhr, dass die würdevolle Frau ein überaus geschätztes Mitglied der äthiopisch-orthodoxen Kirche und eine entfernte Verwandte von Haregewoins verstorbenem Ehemann war. Mit ihrem Besuch ehrte sie das Haus - ach was, das ganze Viertel.
Ich hätte ihr wahrscheinlich etwas mehr Platz auf dem Sofa machen sollen.
Sara brachte Mintesinot zurück ins Haus. Schluchzend versteckte er die Kekse unter seinem T-Shirt, um sie für seinen Vater aufzubewahren.
'Alle meine Kinder'
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