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Haregewoin freute sich für die älteren Kinder, die ausgewählt worden waren, nach Amerika zu gehen.
Bei ihrem Besuch in Layla House rannten die Kinder, die neue Familien bekommen hatten, los, um die Fotoalben zu holen, die ihnen aus Amerika geschickt worden waren. Die dicken kleinen Alben waren voll der unglaublichsten Bilder: lächelnde Erwachsene (weiße Amerikaner oder, in etwa 20 Prozent der Fälle, schwarze Amerikaner) standen in blühenden Vorgärten oder neben riesengroßen Autos; lachende Kinder saßen auf Rutschen und Schaukeln; Kinder mit Schwimmbrillen sprangen in Swimmingpools; Kinder in glänzenden Sporttrikots posierten mit ihren Mannschaften auf grünen Spielfeldern; Kinder schüttelten einer riesigen Mickymaus die Hand oder balgten sich mit Hunden vor einem offenen Kamin oder zogen Schlitten einen verschneiten Hügel hinauf.
Die Waisen blätterten die plastikbeschichteten Seiten vorsichtig um und versuchten zu begreifen, was sie sahen. Das musste ein Märchen sein! Und doch hatte man jedem Kind, das ein solches Album besaß, erklärt, dass es ihm bestimmt sei, einen Platz auf diesen Bildern einzunehmen.
Da es keinen Beweis für das Gegenteil gab, beschlossen die Kinder im Waisenhaus, es zu glauben, obwohl keiner ihrer alten Freunde oder ehemaligen Zimmergenossen jemals aus Amerika zurückgekommen war, um zu bestätigen, dass es tatsächlich wahr war.
 
Haregewoin freute sich für sie, und gleichzeitig fühlte sie sich einsam.
Es geschah alles nur um der Kinder willen, alles, was Haregewoin tat: das Beschaffen von Geld, T-Shirts, Hosen, Schuhen, Essen, Essen, Essen. Sie war von früh bis spät in Bewegung, als müsste sie sich durch Treibsand kämpfen; es geschah alles nur für die Kinder.
Früher einmal hatte es so ausgesehen, als hätte sie auch etwas davon; früher einmal hatte sie ihr Tor, von einer unerklärlichen Vorfreude erfüllt, geöffnet.
Wenn sie jetzt abends ins Bett fiel, schlief sie sofort ein und begann zu schnarchen. Sie war nicht mehr in der Lage, Liebe zu geben. Man kann nicht fünfundvierzig Kinder lieben; man kann nur auf mütterliche Weise für sie sorgen. Deine Hände können streicheln, deine Lippen können lächeln und Küsse verteilen, deine Stimme kann trösten, aber deine Gedanken schweifen ab.
Es gab so viele Kinder wie Sterne am nächtlichen Himmel, aber keines davon war das ihre geworden.
Sie begriff, dass ihr Haus zur Zwischenstation für Kinder geworden war, ein Schritt weg von dem Leid und hin zu einem unvorstellbar luxuriösen Leben in fernen Ländern. Sie ließ ihnen für eine begrenzte Zeit ihre Fürsorge angedeihen, war ein Wegweiser auf ihrem Weg. Die kleine Menah lebte jetzt in Italien; Meskerem und Selamawit warteten im Layla House darauf, dass man Familien für sie fand, ebenso die Zwillinge Rahel und Helen; und Ababu war gerade Cheryl Carter-Schotts aus Indianapolis vorgestellt worden, Leiterin einer zweiten amerikanischen Adoptionsagentur namens Americans for African Adoptions (AFAA).
Bildhübsche Kinder, Kinder mit Zahnlücken, Brüder und Schwestern, Zwillinge, Geschwistertrios bevölkerten Haregewoins staubigen Hof, tollten fröhlich herum oder zankten sich, umarmten oder schubsten sich, kreischten und schrien. Zur Schlafenszeit kuschelte sich immer noch ein halbes Dutzend der Kleinen an sie, die versuchten, sich gegenseitig mit den Ellbogen wegzustoßen, weil jedes von ihnen Haregewoin am nächsten sein wollte. Und jedes Kind, ganz gleich, wie alt, das von einem Alptraum gequält wurde, stand mitten in der Nacht vor ihrem Bett, und immer schaffte sie es, auch noch für den großen Jungen oder das große Mädchen Platz zu machen. Doch obwohl sie sie wärmte und an sich drückte, obwohl sie ihnen versprach, sie vor den Hyänen zu beschützen, kannte sie nicht einmal die Namen der Kinder.
Und jetzt, nachdem die Kinder begriffen hatten, was eine Adoption war, sehnten sie sich auch nach einer richtigen Mutter, nach einer eigenen Mutter. Sie wollten keine Gemeinschaftsmutter, eine alte, erschöpfte Ersatzmutter wie Haregewoin. Alle benahmen sich jetzt wie Henok, ständig auf der Suche nach der besten Gelegenheit, die von außen geboten wurde.
Und es kam Haregewoin so vor, als würden sich einige nicht mehr damit zufriedengeben, bescheiden darauf zu hoffen, wieder von jemandem geliebt zu werden: Sie hofften auf eine hübsche Mutter, sie wollten einen reichen Vater, sie träumten von einem großen Haus, sie wollten eine Familie mit zwei großen Brüdern, einem Sportwagen und einem Pony.
(Unsere Tochter Helen, die mit fünf Jahren zu uns kam und nichts besaß außer der Kleidung, die sie trug und die wir ihr geschickt hatten, war entsetzt darüber, dass sie sich ein Zimmer mit einem sechsjährigen Bruder teilen sollte. Sie war ebenso entsetzt, als dieser Bruder Action-Spielfiguren, Plastikpiraten und seine schmutzige Wäsche auf dem Boden herumliegen ließ. Als sie eines Tages von dem unverbesserlichen Bruder die Nase voll hatte, stampfte sie mit ihrem kleinen Fuß auf und fragte auf Englisch: »Wenn ich kein eigenes Zimmer kriegen soll, warum habt ihr mich dann überhaupt adoptiert?«
Inzwischen hat Helen ein eigenes Zimmer.)
Wenn Haregewoin sich auf ihrem schäbigen Hof umsah, bevölkert von Erwachsenen, die sich durch das Endstadium ihrer Krankheit schleppten, und von trauernden Kindern in verdreckten Sachen, wusste sie, dass die Kinder recht hatten, davon zu träumen, dass etwas Besseres auf sie wartete. Irgendwo jenseits dieses Hofs musste es hübschere Mütter, schönere Häuser, gehorsamere Hunde geben.
Sie nahm es mit Würde und Gelassenheit. Sie fand sich mit dieser neuen Phase in ihrem Leben ab, mit der untergeordneten Rolle als Betreuerin von Kindern auf dem Weg in ein schöneres und besseres Leben.
 
Eines Tages kamen zwei kleine Brüder an der Hand einer Frau, die sich als ihre Tante vorstellte. »Können Sie sie aufnehmen, waizero? Meine Schwester ist gestorben.«
»Können Sie sich nicht um sie kümmern? Sehen Sie sich um. Hier ist es völlig überfüllt.«
»Nein, Madam«, sagte die Frau und senkte den Blick.
Die Jungen sahen ihre Tante erstaunt an.
»Können Sie etwas zu ihrem Unterhalt beisteuern?« Sie fühlte sich nicht bemüßigt, freundlicher zu sein.
»Nein, waizero«, sagte die Frau mit abgewandtem Gesicht.
Der kleinere der beiden Brüder, Teshome, begann zu weinen.
»Sie haben Hunger«, flüsterte die Frau.
»In Gottes Namen«, sagte Haregewoin. »Geht schon«, sagte sie zu den Jungen. »Die Kinder bekommen ohnehin gerade Mittagessen.«
Mit gesenkten Köpfen und schlurfenden Schritten trotteten die Jungen davon.
»Wollt ihr euch nicht verabschieden?«, fragte Haregewoin.
»Nein!«, schrie der Ältere, Tesfaye, mit erstickter Stimme. Er sah sich nicht um.
»Ja!«, sagte der Kleine, Teshome, und rannte zurück, um sein Gesicht im Rock seiner Tante zu vergraben. Er begann zu schluchzen.
»Du wirst deine Tante wiedersehen«, sagte Haregewoin sanft, in der Hoffnung, auf diese Weise die Tante dazu zu bringen, ein tröstendes Wort zu sagen. Aber die Tante hielt den Kopf tief gesenkt und versuchte gleichzeitig mit aller Kraft, die Finger des Jungen von ihrem Rock zu lösen.
Haregewoin hielt ihn fest, als die Tante durch das Tor nach draußen trat, ohne ein einziges Mal ihren Blick zu heben.
Die Jungen waren lange Zeit untröstlich.
Teshome stand über Wochen neben dem Tor und hoffte darauf, dass seine Tante zurückkommen würde. Jedes Mal, wenn jemand anklopfte, verzog sich sein Mund zu einem zittrigen Lächeln, das dann gleich darauf wieder verschwand. Tesfaye lief immerzu mit finsterer Miene herum, fand keine Freunde und bedankte sich niemals bei jemandem, der ihm etwas Gutes tat. Er wollte sich nicht fotografieren lassen. Er wies Haregewoins mütterliche Annäherungsversuche zurück. Ihm lag einzig und allein etwas an Teshome und daran, ihn zu beschützen. Persönlicher Besitz war ihm gleichgültig, abgesehen von Teshomes wenigen selbstgebastelten Spielsachen, die Tefaye mit wilder Entschlossenheit gegen alle anderen Kinder verteidigte. Er gab keiner der Betreuerinnen Anlass zur Klage, er benahm sich nicht schlecht, aber er zog sich völlig in sich zurück. Nachdem sich Teshome bei Haregewoin eingewöhnt hatte, fand der kleine Junge schnell Freunde; aber sein kalter, abweisender Bruder hielt Wache über ihn. Tesfaye spielte nicht mit. Er stand in einiger Entfernung und schaute finster drein, damit ja niemand eine Hand gegen Teshome erhob.
Haregewoin hatte für so etwas keine Zeit mehr. Wäre Tesfaye ihr erstes Kind gewesen, dann hätte sie sich mit ihm hingesetzt, seine Hände umfasst und ihn dazu gezwungen, ihr in die Augen zu sehen und mit ihr zu reden. Wäre er eines von zehn Kindern gewesen, hätte sie immer noch die Zeit gefunden, sein Vertrauen zu gewinnen. Sie hätte ihm außer der Reihe ein paar Trauben oder eine Orange gegeben und ihn ermutigt, ihr zwischen den einzelnen Bissen sein düsteres Geheimnis anzuvertrauen. Aber mittlerweile waren es vierzig oder fünfzig Kinder, und sie hatte keine Zeit für so etwas. Sie konnte nichts weiter tun, als im Gedächtnis zu behalten, dass er ein schwieriger Fall war, und ihn an die AAI oder AFAA weiterzureichen, falls eine dieser Agenturen bereit war, sich der beiden Brüder anzunehmen.
Die AAI tat es und fand eine Familie für sie.
Es sollte achtzehn Monate dauern, bevor Tesfaye sein zorniges Schweigen brach und seiner Adoptivmutter in Oregon die Wahrheit gestand, das Geheimnis, das er niemals preisgeben sollte: die Frau, die die beiden Jungen bei Haregewoin abgeliefert hatte, war nicht ihre Tante. Sie war ihre Mutter.
Ihr Vater war gestorben, erzählte er seiner neuen Mutter eines Tages, als er hinten im Auto saß. Amaye hatte wieder geheiratet; aber der Mann, der vor der Hochzeit so getan hatte, als würde er Tesfaye und Teshome mögen, war überhaupt nicht nett zu ihnen. Die Jungen interessierten ihn nicht. Er fing an, sie zu schlagen, und wollte ihnen nichts zu essen geben; er war dauernd wütend auf sie; also gab seine Frau sie weg. Sie hat ihren neuen Ehemann mir und Teshome vorgezogen. Das werde ich ihr niemals verzeihen.
Er schluchzte herzzerreißend, während er seiner Adoptivmutter diese Geschichte erzählte, voller Angst, dass sie sie beide jetzt ebenfalls im Stich lassen könnte.
Sie versicherte Tesfaye, dass es richtig gewesen war, es ihr zu erzählen, dass es nicht seine Schuld war und dass sie ihn niemals verlassen würde.
Vielleicht, dachte sie, wird er in fünfzehn Jahren, wenn er versteht, was finanzielle Abhängigkeit ist, wenn er begreift, welche untergeordnete Rolle Frauen in seinem Land spielen und in welcher verzweifelten Lage sich die Ärmsten der Armen befinden, seiner ersten Mutter gegenüber nachsichtiger sein.
Vielleicht wird er nach ihr suchen und ihr vergeben, falls sie dann noch lebt.
 
Niedliche kleine Mädchen drückten Haregewoin fest an sich, wenn sie sich auf den Weg zu AAI oder AFAA machten, dankten ihr unter Tränen und versprachen, sie niemals zu vergessen und ihr zu helfen, sobald sie in Amerika und reich waren. Und sie erwiderte ihre Umarmung, erstaunt über ihre eigenen Tränen, während ihr plötzlich bewusst wurde, welchen Schatz sie an diesem oder jenem Kind besessen hatte, das jetzt im Begriff stand, sie zu verlassen. Selamawit ging sehr widerstrebend, es bekümmerte sie zutiefst, Haregewoin allein zurückzulassen. »Geh, geh, mein Liebes«, sagte Haregewoin, und Selamawit gehorchte und flog in den Staat Washington zu der netten Familie Murrell, die sie Carrie nannte.
Andere - vor allem Jungen - umarmten sie nur flüchtig und sprangen in den Wagen der AAI oder AFAA, konnten es kaum erwarten, dass es losging.
Und Haregewoin war die ganze Zeit müde, eine Müdigkeit, die von Melancholie begleitet wurde.
Bis eines Tages von irgendwoher ein weiteres kleines Bündel bei ihr landete.
'Alle meine Kinder'
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