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Der schäbige Friedhof auf dem Hügel war mit
Rundhütten übersät. Jede davon erinnerte an eine winzige Kirche mit
einem hölzernen Kreuz an der höchsten Stelle des grasbedeckten
Dachs. In diesen Hütten lebten Menschen, die sich von der Welt
abgewandt hatten. Die äthiopische Kirche gestattete es Suchenden
und Bettlern, in mönchischer Abgeschiedenheit auf Friedhöfen zu
wohnen. Darunter waren wild aussehende, heilige Männer mit Bärten,
verfilzten Haarmähnen und ledrigen Fußsohlen. Vielleicht waren sie
Propheten, vielleicht waren sie auch einfach nur verrückt. Dann gab
es einsame Männer oder Frauen, die in tiefer Trauer lebten oder
unter dem Joch einer fürchterlichen Buße standen. Sie beteten,
wiegten sich hin und her, knieten, weinten, und dann schliefen sie
auf dem kalten Erdboden. Sie aßen kein Fleisch. Einige ernährten
sich nur von Wasser und den Feigen, die auf dem Kirchhof wuchsen.
Andere nahmen Almosen von Gemeindemitgliedern an. Einmal am Tag
ging ein Priester zu ihnen und besprenkelte sie mit
Weihwasser.
Haregewoin wusste, dass hier der ihr bestimmte
Platz war, zwischen den Trauernden, den Büßern und den Toten. Es
war Oktober 1999, achtzehn Monate nach Atetegebs Tod, und sie war
immer noch nicht in der Lage, mit anderen zu sprechen und zu
handeln, wie es üblich war.
Meine Welt ist zerstört, dachte sie. Ich
bin mena (nutzlos, ohne Wert).
Sie bereitete sich darauf vor, mit dem orthodoxen
Priester zu sprechen und darum zu bitten, in die Gemeinschaft auf
dem Friedhof aufgenommen zu werden. Sie würde um eine Hütte in der
Nähe von Atetegeb bitten. Sie würde ihre letzten Besitztümer
einlagern oder verschenken; sie würde das Haus aufgeben.
Ich muss ein paar Leuten sagen, dass ich mich
von der Welt verabschiede, dachte sie.
Sie würde bis zum letzten Augenblick warten, bevor
sie Suzie davon schrieb, wenn es zu spät war, um darüber zu
streiten. Sie hatte keine Nachbarn, denen sie es hätte sagen
können, keine alten Freunde, die sie ertragen könnte. Sie hatte
keine Kraft, um sich ihre Einwände oder gut gemeinten Ratschläge
anzuhören. Aber sie würde ein letztes Mal die Runde durch die
Kirchen machen, um den freundlichen Priestern und
Gemeindemitgliedern zu erzählen, was sie vorhatte.
In der katholischen Kirche, die sie am liebsten
besuchte, stieß sie auf ein Hindernis. Der Leiter von MMM, den
Medical Missionaries of Mary63, wollte sie nicht gehen
lassen.
»Ach, Waizero Haregewoin, es tut mir sehr
leid, das zu hören.«
»Nein, es ist am besten so«, sagte sie, erstaunt
über seine Reaktion.
»Wissen Sie, dass wir erst heute Morgen von Ihnen
gesprochen haben?«
»Von mir? Was habe ich denn gemacht?«
»Na ja, der Pfarrer meinte, Sie könnten uns
vielleicht einen Gefallen tun.«
»Ich... Aber ich bin nicht katholisch.«
Der rundgesichtige Mann lächelte. »Das macht uns
nichts aus.«
»Was könnte ich denn für den Pfarrer tun?«
»Sie wissen, dass unsere Organisation, MMM, armen
Familien im Viertel hilft?«
»Und?«
»Waizero Haregewoin, wir haben einfach zu
viele Kinder, Waisen.«
Das war richtig, dachte Haregewoin; überall sah man
Kinder, schmutzig und barfuß, die schüchtern bettelten und
davonrannten, wenn die Polizei auftauchte. Sie liefen über die
vielbefahrenen Straßen, schafften es um Haaresbreite, Lastwagen und
Taxis auszuweichen. Kinder im Schulalter trugen Säuglinge auf dem
Arm oder hatten sie auf den Rücken gebunden, Kleinkinder zogen
Einjährige hinter sich her. Manchmal öffnete sie am Morgen das Tor
zu ihrem Hof und scheuchte Horden schlafender Kinder aus den
Büschen auf.
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Waizero Haregewoin, wir haben einen
dringenden Fall. Der Pfarrer hat gemeint, dass Sie uns vielleicht
helfen könnten. Er weiß, dass Sie eine fromme Frau sind.«
»Was für ein Fall ist das?«
»Sie heißt Genet. Sie ist fünfzehn. Ihre Eltern
sind tot. Sie lebt auf der Straße, schläft in Torwegen. Niemand
will sie aufnehmen, weil sie ein bisschen wild ist.
Das erste Mal wurde sie zu uns gebracht«, fuhr er
mit leiserer Stimme fort, »nachdem sie vergewaltigt worden war. Wir
geben ihr zu essen, aber sie hat keinen Platz, wo sie schlafen
kann. Waizero Haregewoin, wäre es möglich, dass sie das
Mädchen aufnehmen?«
Jetzt werden mich meine Freunde endgültig für
verrückt erklären, dachte Haregewoin. Ich muss
überlegen.
Ich könnte auf dem Friedhof in Klausur gehen;
dann sitze ich da und bete. Aber vielleicht ist es besser, nicht in
Klausur zu gehen, sondern jemandem zu helfen. Atetegeb hat immer
gesagt: »Mutter, du hast Kinder so gern!« »Mutter, wenn du keine
Kinder gehabt hättest, wärst du verrückt geworden.« Einmal hat sie
gesagt: »Mutter, du solltest einen Kindergarten aufmachen!« Es
stimmt, ich habe Kinder sehr gern. Wenn das der Wunsch Gottes ist,
dann werde ich es tun.
Sie senkte den Kopf.
Der Mann deutete ihr Schweigen falsch.
»Waizero Haregewoin, bevor Sie nein sagen, sollten Sie das
Mädchen vielleicht erst einmal kennenlernen. Ich werde sie
herbringen. Dann können Sie entscheiden, ob Sie ihr helfen
wollen.
Vielleicht möchten Sie, dass sie getestet wird«,
beeilte er sich hinzuzufügen. »Wir wissen nicht, ob sie positiv
oder negativ ist - sehen Sie, sie hat auf der Straße gelebt, sie
hat sich allein durchgeschlagen...«
»Ja.«
»Sie wollen sie kennenlernen?«
»Ja, ich will sie kennenlernen. Und ich will ihr
helfen. Und ich weiß, was das bedeutet - ›positiv‹ und
›negativ‹.
Ich werde morgen kommen, um mit ihr zu sprechen,
und wenn sie will, kann sie mit mir nach Hause kommen.«
Der Mann nahm Haregewoins Hände in seine und
verbeugte sich so tief, dass er ihre ineinanderverschränkten Hände
beinahe mit der Stirn berührte.