13
Der schäbige Friedhof auf dem Hügel war mit Rundhütten übersät. Jede davon erinnerte an eine winzige Kirche mit einem hölzernen Kreuz an der höchsten Stelle des grasbedeckten Dachs. In diesen Hütten lebten Menschen, die sich von der Welt abgewandt hatten. Die äthiopische Kirche gestattete es Suchenden und Bettlern, in mönchischer Abgeschiedenheit auf Friedhöfen zu wohnen. Darunter waren wild aussehende, heilige Männer mit Bärten, verfilzten Haarmähnen und ledrigen Fußsohlen. Vielleicht waren sie Propheten, vielleicht waren sie auch einfach nur verrückt. Dann gab es einsame Männer oder Frauen, die in tiefer Trauer lebten oder unter dem Joch einer fürchterlichen Buße standen. Sie beteten, wiegten sich hin und her, knieten, weinten, und dann schliefen sie auf dem kalten Erdboden. Sie aßen kein Fleisch. Einige ernährten sich nur von Wasser und den Feigen, die auf dem Kirchhof wuchsen. Andere nahmen Almosen von Gemeindemitgliedern an. Einmal am Tag ging ein Priester zu ihnen und besprenkelte sie mit Weihwasser.
Haregewoin wusste, dass hier der ihr bestimmte Platz war, zwischen den Trauernden, den Büßern und den Toten. Es war Oktober 1999, achtzehn Monate nach Atetegebs Tod, und sie war immer noch nicht in der Lage, mit anderen zu sprechen und zu handeln, wie es üblich war.
Meine Welt ist zerstört, dachte sie. Ich bin mena (nutzlos, ohne Wert).
Sie bereitete sich darauf vor, mit dem orthodoxen Priester zu sprechen und darum zu bitten, in die Gemeinschaft auf dem Friedhof aufgenommen zu werden. Sie würde um eine Hütte in der Nähe von Atetegeb bitten. Sie würde ihre letzten Besitztümer einlagern oder verschenken; sie würde das Haus aufgeben.
Ich muss ein paar Leuten sagen, dass ich mich von der Welt verabschiede, dachte sie.
Sie würde bis zum letzten Augenblick warten, bevor sie Suzie davon schrieb, wenn es zu spät war, um darüber zu streiten. Sie hatte keine Nachbarn, denen sie es hätte sagen können, keine alten Freunde, die sie ertragen könnte. Sie hatte keine Kraft, um sich ihre Einwände oder gut gemeinten Ratschläge anzuhören. Aber sie würde ein letztes Mal die Runde durch die Kirchen machen, um den freundlichen Priestern und Gemeindemitgliedern zu erzählen, was sie vorhatte.
In der katholischen Kirche, die sie am liebsten besuchte, stieß sie auf ein Hindernis. Der Leiter von MMM, den Medical Missionaries of Mary63, wollte sie nicht gehen lassen.
»Ach, Waizero Haregewoin, es tut mir sehr leid, das zu hören.«
»Nein, es ist am besten so«, sagte sie, erstaunt über seine Reaktion.
»Wissen Sie, dass wir erst heute Morgen von Ihnen gesprochen haben?«
»Von mir? Was habe ich denn gemacht?«
»Na ja, der Pfarrer meinte, Sie könnten uns vielleicht einen Gefallen tun.«
»Ich... Aber ich bin nicht katholisch.«
Der rundgesichtige Mann lächelte. »Das macht uns nichts aus.«
»Was könnte ich denn für den Pfarrer tun?«
»Sie wissen, dass unsere Organisation, MMM, armen Familien im Viertel hilft?«
»Und?«
»Waizero Haregewoin, wir haben einfach zu viele Kinder, Waisen.«
Das war richtig, dachte Haregewoin; überall sah man Kinder, schmutzig und barfuß, die schüchtern bettelten und davonrannten, wenn die Polizei auftauchte. Sie liefen über die vielbefahrenen Straßen, schafften es um Haaresbreite, Lastwagen und Taxis auszuweichen. Kinder im Schulalter trugen Säuglinge auf dem Arm oder hatten sie auf den Rücken gebunden, Kleinkinder zogen Einjährige hinter sich her. Manchmal öffnete sie am Morgen das Tor zu ihrem Hof und scheuchte Horden schlafender Kinder aus den Büschen auf.
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Waizero Haregewoin, wir haben einen dringenden Fall. Der Pfarrer hat gemeint, dass Sie uns vielleicht helfen könnten. Er weiß, dass Sie eine fromme Frau sind.«
»Was für ein Fall ist das?«
»Sie heißt Genet. Sie ist fünfzehn. Ihre Eltern sind tot. Sie lebt auf der Straße, schläft in Torwegen. Niemand will sie aufnehmen, weil sie ein bisschen wild ist.
Das erste Mal wurde sie zu uns gebracht«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, »nachdem sie vergewaltigt worden war. Wir geben ihr zu essen, aber sie hat keinen Platz, wo sie schlafen kann. Waizero Haregewoin, wäre es möglich, dass sie das Mädchen aufnehmen?«
Jetzt werden mich meine Freunde endgültig für verrückt erklären, dachte Haregewoin. Ich muss überlegen.
Ich könnte auf dem Friedhof in Klausur gehen; dann sitze ich da und bete. Aber vielleicht ist es besser, nicht in Klausur zu gehen, sondern jemandem zu helfen. Atetegeb hat immer gesagt: »Mutter, du hast Kinder so gern!« »Mutter, wenn du keine Kinder gehabt hättest, wärst du verrückt geworden.« Einmal hat sie gesagt: »Mutter, du solltest einen Kindergarten aufmachen!« Es stimmt, ich habe Kinder sehr gern. Wenn das der Wunsch Gottes ist, dann werde ich es tun.
Sie senkte den Kopf.
Der Mann deutete ihr Schweigen falsch. »Waizero Haregewoin, bevor Sie nein sagen, sollten Sie das Mädchen vielleicht erst einmal kennenlernen. Ich werde sie herbringen. Dann können Sie entscheiden, ob Sie ihr helfen wollen.
Vielleicht möchten Sie, dass sie getestet wird«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Wir wissen nicht, ob sie positiv oder negativ ist - sehen Sie, sie hat auf der Straße gelebt, sie hat sich allein durchgeschlagen...«
»Ja.«
»Sie wollen sie kennenlernen?«
»Ja, ich will sie kennenlernen. Und ich will ihr helfen. Und ich weiß, was das bedeutet - ›positiv‹ und ›negativ‹.
Ich werde morgen kommen, um mit ihr zu sprechen, und wenn sie will, kann sie mit mir nach Hause kommen.«
Der Mann nahm Haregewoins Hände in seine und verbeugte sich so tief, dass er ihre ineinanderverschränkten Hände beinahe mit der Stirn berührte.
'Alle meine Kinder'
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