6
1990 klingelte bei Haregewoin eines Morgens das Telefon. Das Einzige, was sie verstand, war, dass Worku etwas zugestoßen war.
Eine Frau schrie in den Hörer, Worku sei gerade auf einer Sitzung des kebele zusammengebrochen. Er habe eine schulische Angelegenheit vorgetragen, dann habe er wieder Platz genommen und sei einfach nach vorn gekippt. Alle seien ihm zu Hilfe geeilt. Haregewoin solle schnell - ganz schnell! - ins Krankenhaus kommen. Die Anruferin schluchzte und hängte ein.
Haregewoin legte den Hörer auf, völlig verwirrt, dann hob sie wieder ab, um jemanden anzurufen. Aber wen sollte sie anrufen? Ach ja! Worku, sie wollte Worku anrufen, in seinem Büro in der Schule, um ihm etwas zu sagen. Sie störte ihn nicht gern während der Arbeit, aber bei einem Notfall... Moment mal... Nein. Sie begann zu zittern, zwang sich, die Autoschlüssel zu nehmen, das Haus zu verlassen, die Tür abzuschließen, den Motor anzulassen, zurückzustoßen und sich in den fließenden Verkehr einfädeln; sie sah nichts, sie atmete nicht, sie dachte nicht; sie fuhr einfach. Auf dem betonierten Parkplatz des Krankenhauses standen ein paar Leute vor einer Trage und warteten auf Haregewoin. Sie sei zu spät gekommen, sagten sie. Er sei von ihnen gegangen, er sei gerade gestorben. Sie traten von der Trage zurück, ihre Mienen sagten, dass es Worku war, der unter dem Tuch lag.
»Ich bin gleich hergekommen«, protestierte Haregewoin, während sie auf sie zuging. »Er war überhaupt nicht krank. Er war nie krank.«
Sie stand vor dem zugedeckten Körper, der vielleicht doch nicht der von Worku war. Vielleicht würden sie heute Abend den Kopf schütteln und über dieses furchtbare Missverständnis lachen, darüber, welchen Schrecken man ihr damit eingejagt hatte. Jemand schlug das Tuch zurück.
»Er hatte einen Herzanfall«, sagte jemand.
»Er hat noch nicht einmal über Kopfschmerzen geklagt«, widersprach Haregewoin.
»Vielleicht vom Rauchen?«, fragte jemand.
»Er war erst vierundfünfzig«, erwiderte Haregewoin, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihr weismachen wollte, dass ihr Mann tot war.
Haregewoin war auf dem Land aufgewachsen, und dort war der Tod ein Vertrauter. Der Tod ist einer der Dorfältesten. Aber hier? In der Stadt? An einem ganz gewöhnlichen Schultag? Er war doch der Rektor der Highschool! Sie hatten zwei kaum erwachsene Kinder zu Hause. (Sie hatten nur diese beiden Kinder!) Der Tod war ein Mörder. Sie musste sich von anderen Leuten nach Hause bringen lassen. Sie konnte sich nicht mehr an den Weg erinnern.
»Er war mein Bruder, mein Mann, mein Freund; er war alles für mich«, erklärte sie jedem.
Sie verspürte noch viele Wochen den Impuls, ihn anzurufen und ihm zu erzählen, dass etwas Schlimmes passiert war. Nachts im Bett überkam sie der Drang, mit ihm zu reden, wenn sie dachte, dass er wach neben ihr lag und nachsann. Die Beerdigungsvorbereitungen, Besucher und Formalitäten nahmen fast jede wache Stunde in Anspruch. Wenn sie in ihr Schlafzimmer ging, um einen Moment für sich zu sein, sprangen sofort ein paar Verwandte auf, um ihr zu helfen - sie liefen voraus und schüttelten ihr das Bett auf, brachten ihr ein Glas Wasser, erboten sich, Tee zu kochen. Ihr Vater war zu alt zum Reisen, aber als sie ihn anrief, weinte er. Es schien noch gar nicht so lange her zu sein, dass Worku Richter Teferra Woldmariam um die Hand seiner Tochter gebeten hatte. Jetzt hatte der Richter ihn überlebt. »Es tut mir weh, dich als Witwe sehen zu müssen«, sagte er.
Dann schienen plötzlich alle das Gefühl zu haben, dass es genug des Trostes war, und kehrten in ihre Häuser und Dörfer zurück.
Haregewoin wusste nicht genau, was sie jetzt mit sich anfangen sollte. Die drei Frauen schleppten sich durchs Haus, aber nur weil sie schlafen, sich waschen, anziehen und hin und wieder reden mussten. Sie bewegten sich wie alte Leute. Die Geräusche im Inneren des Hauses waren gedämpft, während die Geräusche, die von draußen hereindrangen, schrill und laut schienen.
Atetegeb, dreiundzwanzig Jahre alt, arbeitete für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen und war als Disponentin für die Entsendung von Lastwagen mit Lebensmitteln in Hungergebiete zuständig. Sie war gläubig und versuchte, den Tod ihres Vaters als göttliche Fügung zu begreifen. »Gott hat ihn zu sich gerufen«, sagte sie. Suzie studierte an der Universität. Nach ein paar Wochen ging sie wieder mit ihren Freunden aus, aber jetzt verließ sie leise das Haus und ließ die Tür nicht wie sonst unter fröhlichem Gelächter hinter sich zufallen. Atetegeb verbrachte die Abende in ihrem Zimmer und las. Aber Haregewoin spürte, dass Atetegeb einen gewissen Widerstand zu entwickeln begann; ihre Nachgiebigkeit schien mit dem Tod des Vaters aufzuhören; sie wurde ihrer Mutter gegenüber aufsässig und fing wegen der geringsten Kleinigkeit an zu streiten; es genügte schon, dass Haregewoin ein bestimmtes Essen kochte, und Atetegeb erklärte, sie hätte lieber etwas anderes gewollt oder dass es zu wenig gewürzt sei. In intellektueller Hinsicht war sie anderen immer voraus gewesen, dachte Haregewoin, aber in sozialer Hinsicht war sie ein Spätzünder. Sie begann sich nachts aus dem Haus zu schleichen, in Anbetracht ihrer mangelnden Erfahrung erschien dies eine übertriebene Heimlichtuerei. Da sie es nicht gewohnt war, wie Suzie im Kreis von Freundinnen und umgeben von einer Schar männlicher Bewunderer durch die Straßen zu promenieren, fehlte es ihr an Unbeschwertheit. Sie tat alles mit großem Ernst. Sie wusste nicht, wie man flirtete, eine Beziehung einging, sie wieder beendete. Während Haregewoin alle Freunde von Suzie kannte, kannte sie keinen einzigen von Atetegeb, auch nicht den geheimnisvollen Mann, der Atetegebs Freund war, wie sich herausstellte. Hätte Worku dieses Mal auch »teyat« gesagt, lass das Kind in Ruhe?
Suzie war ihnen eines Abends zufällig auf der Straße begegnet und hatte so den Mann kennengelernt, den ich hier Ashiber nennen will. »Er ist unsympathisch«, sagte sie.
»Wie sieht er aus?«, fragte Haregewoin.
»Alt. Sehr groß, sehr kräftig, helle Haut. Er ist furchtbar von sich überzeugt.«
»Vielleicht macht sie mit ihm Schluss.«
»Das wird sie nicht tun«, sagte Suzie voll düsterer Vorahnungen.
Wenn ein Mann nichts taugt, dann heißt es bei Suzie »Auf Wiedersehen! Her mit dem Nächsten!«, dachte Haregewoin. Atetegeb ist da ganz anders. Aber ich sage den Mädchen immer: »Ich suche keinen Mann für euch aus. Ihr müsst euch schon selbst einen suchen. Sucht euch jemanden, der gut zu euch ist.«
Sie hoffte, dass Atetegebs gutes Herz ihr den rechten Weg weisen würde. Schon als Kind war sie immer ungemein großzügig gewesen. »Sie greift in die Tasche, um einem Bettler einen Birr zu geben«, erzählte mir Haregewoin, »und wenn sie aus Versehen einen Hundert-Birr-Schein herauszieht, dann gibt sie ihm den. ›Warum verschenkst du so viel Geld‹, frage ich sie, und sie antwortet: ›Wer sagt denn, dass ein Armer keine hundert Birr haben soll?‹ Sie kommt mit der Hälfte oder einem Viertel ihres Gehalts nach Hause, den Rest hat sie verschenkt.«
Die drei Frauen standen sich nach wie vor sehr nahe, aber sie machten am Wochenende keine gemeinsamen Ausflüge mehr. Sie hatten einen kleinen Fernseher, den sie oft während des Abendessens einschalteten. Tagsüber im Büro plauderte Haregewoin mit ihren Kollegen und lächelte, aber das geschah ganz mechanisch; ihre Augen und ihre Stimme hatten etwas Lebloses. Abends, wenn Suzie ausging, zog sich Atetegeb in ihr Zimmer zurück, um zu lesen, schlich sich dann aber später allein davon. Haregewoin überließ sich ihrer Trauer. Sie ging nachts ins Bett und saß dann da und starrte die gegenüberliegende Wand an, wie betäubt.
Wenn jemand Worku erschossen hätte, dachte sie, dann würde das mehr Sinn ergeben als das hier.
'Alle meine Kinder'
titlepage.xhtml
gree_9783641012656_oeb_cover_r1.html
gree_9783641012656_oeb_toc_r1.html
gree_9783641012656_oeb_p01_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c01_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c02_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c03_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c04_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c05_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c06_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c07_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c08_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c09_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c10_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c11_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c12_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c13_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c14_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c15_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c16_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c17_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c18_r1.html
gree_9783641012656_oeb_p02_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c19_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c20_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c21_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c22_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c23_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c24_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c25_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c26_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c27_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c28_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c29_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c30_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c31_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c32_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c33_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c34_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c35_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c36_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c37_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c38_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c39_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c40_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c41_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c42_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c43_r1.html
gree_9783641012656_oeb_p03_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c44_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c45_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c46_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c47_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c48_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c49_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c50_r1.html
gree_9783641012656_oeb_p04_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c51_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c52_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c53_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c54_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c55_r1.html
gree_9783641012656_oeb_c56_r1.html
gree_9783641012656_oeb_bm1_r1.html
gree_9783641012656_oeb_ack_r1.html
gree_9783641012656_oeb_bm2_r1.html
gree_9783641012656_oeb_bm3_r1.html
gree_9783641012656_oeb_in1_r1.html
gree_9783641012656_oeb_bm4_r1.html
gree_9783641012656_oeb_cop_r1.html