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1990 klingelte bei Haregewoin eines Morgens das
Telefon. Das Einzige, was sie verstand, war, dass Worku etwas
zugestoßen war.
Eine Frau schrie in den Hörer, Worku sei gerade auf
einer Sitzung des kebele zusammengebrochen. Er habe eine
schulische Angelegenheit vorgetragen, dann habe er wieder Platz
genommen und sei einfach nach vorn gekippt. Alle seien ihm zu Hilfe
geeilt. Haregewoin solle schnell - ganz schnell! - ins Krankenhaus
kommen. Die Anruferin schluchzte und hängte ein.
Haregewoin legte den Hörer auf, völlig verwirrt,
dann hob sie wieder ab, um jemanden anzurufen. Aber wen sollte sie
anrufen? Ach ja! Worku, sie wollte Worku anrufen, in seinem Büro in
der Schule, um ihm etwas zu sagen. Sie störte ihn nicht gern
während der Arbeit, aber bei einem Notfall... Moment mal... Nein.
Sie begann zu zittern, zwang sich, die Autoschlüssel zu nehmen, das
Haus zu verlassen, die Tür abzuschließen, den Motor anzulassen,
zurückzustoßen und sich in den fließenden Verkehr einfädeln; sie
sah nichts, sie atmete nicht, sie dachte nicht; sie fuhr einfach.
Auf dem betonierten Parkplatz des Krankenhauses standen ein paar
Leute vor einer Trage und warteten auf Haregewoin. Sie sei zu spät
gekommen, sagten sie. Er sei von ihnen gegangen, er sei gerade
gestorben. Sie traten von der Trage zurück, ihre Mienen sagten,
dass es Worku war, der unter dem Tuch lag.
»Ich bin gleich hergekommen«, protestierte
Haregewoin, während sie auf sie zuging. »Er war überhaupt nicht
krank. Er war nie krank.«
Sie stand vor dem zugedeckten Körper, der
vielleicht doch nicht der von Worku war. Vielleicht würden sie
heute Abend den Kopf schütteln und über dieses furchtbare
Missverständnis lachen, darüber, welchen Schrecken man ihr damit
eingejagt hatte. Jemand schlug das Tuch zurück.
»Er hatte einen Herzanfall«, sagte jemand.
»Er hat noch nicht einmal über Kopfschmerzen
geklagt«, widersprach Haregewoin.
»Vielleicht vom Rauchen?«, fragte jemand.
»Er war erst vierundfünfzig«, erwiderte Haregewoin,
bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihr weismachen wollte, dass
ihr Mann tot war.
Haregewoin war auf dem Land aufgewachsen, und dort
war der Tod ein Vertrauter. Der Tod ist einer der Dorfältesten.
Aber hier? In der Stadt? An einem ganz gewöhnlichen Schultag? Er
war doch der Rektor der Highschool! Sie hatten zwei kaum erwachsene
Kinder zu Hause. (Sie hatten nur diese beiden Kinder!) Der Tod war
ein Mörder. Sie musste sich von anderen Leuten nach Hause bringen
lassen. Sie konnte sich nicht mehr an den Weg erinnern.
»Er war mein Bruder, mein Mann, mein Freund; er war
alles für mich«, erklärte sie jedem.
Sie verspürte noch viele Wochen den Impuls, ihn
anzurufen und ihm zu erzählen, dass etwas Schlimmes passiert war.
Nachts im Bett überkam sie der Drang, mit ihm zu reden, wenn sie
dachte, dass er wach neben ihr lag und nachsann. Die
Beerdigungsvorbereitungen, Besucher und Formalitäten nahmen fast
jede wache Stunde in Anspruch. Wenn sie in ihr Schlafzimmer ging,
um einen Moment für sich zu sein, sprangen sofort ein paar
Verwandte auf, um ihr zu helfen - sie liefen voraus und schüttelten
ihr das Bett auf, brachten ihr ein Glas Wasser, erboten sich, Tee
zu kochen. Ihr Vater war zu alt zum Reisen, aber als sie ihn
anrief, weinte er. Es schien noch gar nicht so lange her zu sein,
dass Worku Richter Teferra Woldmariam um die Hand seiner Tochter
gebeten hatte. Jetzt hatte der Richter ihn überlebt. »Es tut mir
weh, dich als Witwe sehen zu müssen«, sagte er.
Dann schienen plötzlich alle das Gefühl zu haben,
dass es genug des Trostes war, und kehrten in ihre Häuser und
Dörfer zurück.
Haregewoin wusste nicht genau, was sie jetzt mit
sich anfangen sollte. Die drei Frauen schleppten sich durchs Haus,
aber nur weil sie schlafen, sich waschen, anziehen und hin und
wieder reden mussten. Sie bewegten sich wie alte Leute. Die
Geräusche im Inneren des Hauses waren gedämpft, während die
Geräusche, die von draußen hereindrangen, schrill und laut
schienen.
Atetegeb, dreiundzwanzig Jahre alt, arbeitete für
das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen und war als
Disponentin für die Entsendung von Lastwagen mit Lebensmitteln in
Hungergebiete zuständig. Sie war gläubig und versuchte, den Tod
ihres Vaters als göttliche Fügung zu begreifen. »Gott hat ihn zu
sich gerufen«, sagte sie. Suzie studierte an der Universität. Nach
ein paar Wochen ging sie wieder mit ihren Freunden aus, aber jetzt
verließ sie leise das Haus und ließ die Tür nicht wie sonst unter
fröhlichem Gelächter hinter sich zufallen. Atetegeb verbrachte die
Abende in ihrem Zimmer und las. Aber Haregewoin spürte, dass
Atetegeb einen gewissen Widerstand zu entwickeln begann; ihre
Nachgiebigkeit schien mit dem Tod des Vaters aufzuhören; sie wurde
ihrer Mutter gegenüber aufsässig und fing wegen der geringsten
Kleinigkeit an zu streiten; es genügte schon, dass Haregewoin ein
bestimmtes Essen kochte, und Atetegeb erklärte, sie hätte lieber
etwas anderes gewollt oder dass es zu wenig gewürzt sei. In
intellektueller Hinsicht war sie anderen immer voraus gewesen,
dachte Haregewoin, aber in sozialer Hinsicht war sie ein
Spätzünder. Sie begann sich nachts aus dem Haus zu schleichen, in
Anbetracht ihrer mangelnden Erfahrung erschien dies eine
übertriebene Heimlichtuerei. Da sie es nicht gewohnt war, wie Suzie
im Kreis von Freundinnen und umgeben von einer Schar männlicher
Bewunderer durch die Straßen zu promenieren, fehlte es ihr an
Unbeschwertheit. Sie tat alles mit großem Ernst. Sie wusste nicht,
wie man flirtete, eine Beziehung einging, sie wieder beendete.
Während Haregewoin alle Freunde von Suzie kannte, kannte sie keinen
einzigen von Atetegeb, auch nicht den geheimnisvollen Mann, der
Atetegebs Freund war, wie sich herausstellte. Hätte Worku dieses
Mal auch »teyat« gesagt, lass das Kind in Ruhe?
Suzie war ihnen eines Abends zufällig auf der
Straße begegnet und hatte so den Mann kennengelernt, den ich hier
Ashiber nennen will. »Er ist unsympathisch«, sagte sie.
»Wie sieht er aus?«, fragte Haregewoin.
»Alt. Sehr groß, sehr kräftig, helle Haut. Er ist
furchtbar von sich überzeugt.«
»Vielleicht macht sie mit ihm Schluss.«
»Das wird sie nicht tun«, sagte Suzie voll düsterer
Vorahnungen.
Wenn ein Mann nichts taugt, dann heißt es bei
Suzie »Auf Wiedersehen! Her mit dem Nächsten!«, dachte
Haregewoin. Atetegeb ist da ganz anders. Aber ich sage den
Mädchen immer: »Ich suche keinen Mann für euch aus. Ihr müsst euch
schon selbst einen suchen. Sucht euch jemanden, der gut zu euch
ist.«
Sie hoffte, dass Atetegebs gutes Herz ihr den
rechten Weg weisen würde. Schon als Kind war sie immer ungemein
großzügig gewesen. »Sie greift in die Tasche, um einem Bettler
einen Birr zu geben«, erzählte mir Haregewoin, »und wenn sie aus
Versehen einen Hundert-Birr-Schein herauszieht, dann gibt sie ihm
den. ›Warum verschenkst du so viel Geld‹, frage ich sie, und sie
antwortet: ›Wer sagt denn, dass ein Armer keine hundert Birr haben
soll?‹ Sie kommt mit der Hälfte oder einem Viertel ihres Gehalts
nach Hause, den Rest hat sie verschenkt.«
Die drei Frauen standen sich nach wie vor sehr
nahe, aber sie machten am Wochenende keine gemeinsamen Ausflüge
mehr. Sie hatten einen kleinen Fernseher, den sie oft während des
Abendessens einschalteten. Tagsüber im Büro plauderte Haregewoin
mit ihren Kollegen und lächelte, aber das geschah ganz mechanisch;
ihre Augen und ihre Stimme hatten etwas Lebloses. Abends, wenn
Suzie ausging, zog sich Atetegeb in ihr Zimmer zurück, um zu lesen,
schlich sich dann aber später allein davon. Haregewoin überließ
sich ihrer Trauer. Sie ging nachts ins Bett und saß dann da und
starrte die gegenüberliegende Wand an, wie betäubt.
Wenn jemand Worku erschossen hätte, dachte
sie, dann würde das mehr Sinn ergeben als das hier.